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11

Nun hatte die gesamte Umwelt zwischen Emmerich, Kleve, Kalkar und Xanten ihr großes Ereignis.

Die fallenden Blätter trugen es weiter, die Postillone auf den gelben Kutschböcken bliesen ihm zu Ehren eine besonders treffliche Note, auf den Vorwerken steckten sie die Köpfe zusammen, ließen sich erschauern von denen, die die Dinge mit angesehen hatten, und allabends stand der alte Strückerjans um die Dämmerung vor der weitläufigen Scheune neben dem Schafstall, wetzte die gelben Biberzähne gegeneinander und folgte ernsten Geistes den dunkeln Krähenvölkern, die gemächlichen Fluges den tiefen Westen annahmen.

Sie sagten ihm viel, hielt er doch die ziehenden Vögel für Boten und Abgesandte des Herrn, seines ewigen, allmächtigen und allwissenden Gottes Sendlinge.

Diese Schwarzkittel! das waren noch Prediger und Kanzelredner!

»Fliegt man, fliegt man!« rief er ihnen nach. »Bringt es über die Grenze, nach Holland, meinetswegen bis nach Amerika zu, denn was da passiert ist, hat seine Bonität und verdient zu allen Völkern getragen zu werden. Ich bin der Herr dein Gott und meine Güte währet ewiglich.«

Er trank langsam die lauliche Luft ein, mit Andacht, in tiefer Ergebung, um sie ebenso andächtig und ergebungsvoll wieder durch die langen Stockzähne fahren zu lassen. Dabei ließ er seine verwaschenen Augen durch die schmale Stallgasse ins offene Land reisen, bis dorthin, wo er die Katstellen der heiligen drei Könige vermutete.

»Menschen in Not, und ihr seid die Helfer gewesen! Das ist nicht mit Kreide geschrieben. Das läßt sich nicht auswischen. Das nimmt Fleisch und Bein an, zieht sich Holzschuhe über, laustert in die Häuser hinein, wo die Lauen und Verdämelten wohnen, und lärmt ihnen zu: Wißt ihr noch nicht, was zwischen Grieth und der anderen Kante auf dem bösen Wasser passiert ist? O ihr Toren, o ihr mit Taubheit Geschlagenen! Beten und Arbeiten tut es allein nicht; da muß noch was Großes dabei sein: Menschen tapfer in Gott und brav vor sich selber. Die machen's, denn wer 'ner Totenglocke das Maul stopft, der hat das Seine geleistet und kann bestehen am Tage des Zornes. Gehet hin zu den Katen. Dort wohnen die drei, die tapfer in Gott sind und brav vor sich selber. Sie taten, was not war, verstopften der Totenglocke das Maul und werden bestehen am Tage des Zornes. Ihnen sei Ruhm und Preis und das Gebet der christkatholischen Menschen. Sie müssen steigen und wachsen, wir abnehmen und bescheidener werden. So will es der Herr, unser Gott, denn seine Güte währet ewiglich.«

Er streckte die Arme und machte das Zeichen des heiligen Kreuzes gegen die kleinen Gehöfte, die er nur im Geiste erblickte.

Hinter ihm blenkerten tausend phosphorische Fünkchen: die Augen seiner Schafe und Lämmer, die das Dunkel des weiten Stalles durchgeisterten.

Strückerjans erstarb in Liebe und Anbetung, während die schwarzen Vögel sich langsam verloren, die Boten und Abgesandten des Herrn, seines ewigen, allmächtigen und allwissenden Gottes Sendlinge.

»Lasset uns beten!«

Mit ähnlichen Gedanken und Erwägungen trug sich auch Jüllecke Nakatenus. Früher hatte sie nur von ›meinen dreien‹ gesprochen, jetzt redete sie von ›meinen drei Herren‹. Die Werkeltage wurden ihr zu Sonntagen, die Sonntage zu überirdischen Festen. Obgleich der Herbst schon bedenklich mit seinen letzten Blättern raschelte, die nordischen Gäste, Wildgänse und Säger, bereits in die Rohrbestände einfielen, die Sonne kaum noch eine behagliche Wärme verbreitete – die beseligte Jungfer schritt durch Narzissen und Ehrenpreis, durch einen ewigen Frühling. Diese Fügung des Himmels! Daß sie dies erleben durfte! Daß ihr es noch vergönnt war, ihre Getreuen auf der Höhe der Volksgunst zu sehen, bewundert von allen, geliebt und angestaunt von Laien und Klerikern, die guten Willens waren, das ging ihr so wohlig wie ein vollgemessenes Gläschen Genever mit zerlassenem Kandis hinunter. Als dann noch der Herr Landrat vorsprach, sich nach den näheren Umständen erkundigte, und anderen Tages der ›Klever Volksfreund‹ und der ›Geldrische Liboriusbote‹ sich über die heldenhaften Geschehnisse in sachlicher und rühmenswerter Weise ergingen, da begann die Schale ihrer irdischen Glückseligkeit überzuträufen. Ihr Leibchen wurde zu enge. Das Herz wollte heraus, und da fühlte sie: du mußt ein übriges tun, um deinem Schöpfer für die Fülle des Segens zu danken. Sie zog denn auch ihnen neuen Beiderwandrock an, der wie Hafergarben raschelte, und begab sich damit zur Kirche in Wissel. Hier angekommen, opferte sie eine vierpfündige Wachskerze, wobei sie des Evangeliums Lucä gedachte, des zweiten Kapitels, des neunundzwanzigsten und dreißigsten Verses und stammelte: »O Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben den Heiland gesehen,« und obgleich sie noch lange nicht daran dachte, das Zeitliche zu segnen, ihre Seele wurde wie die eines Engels, ihr Gemüt wie das eines Kindes, und in dieser Engelsreinheit und Kindesunschuld nahm sie ihre drei Herren bei der Hand, führte sie im Geiste zum Knollenkamp hin und sagte: »Anna, hier sind sie. Du brauchst nur zu wählen. Aber wen du auch wählst, du wirst nicht betrogen, denn es ist lautere, unberührte Manneskraft, was ich dir anpräsentiere, und sprechen wirst du, wenn deine Zeit sich erfüllet: Jüllecke, nun weiß ich mich und mein Erbe gesichert.«

Allein Anna Donsbrügge hörte es nicht.

Noch immer brauten die Nebel um sie, wurde es ihr schwer, das leiseste Geräusch zu ertragen. In stetigem Zwiespalt, unter Hangen und Bangen lebte sie dahin, hatte sie Augenblicke, die sich unter der Last der Erinnerungen beugten: bald jubelfrohe Stunden, bald Stunden, die nur Tränen hatten und sich in Trauer gefielen. Mit Fieberaugen schlich es sie an, stieß sie immer tiefer in Unruhe und Sorgen hinein und ließ sie Namen nennen, von denen sie wußte: nur einer von ihnen trägt die Verheißung und das Licht auf den Schwingen. Ein Frösteln umgab sie, und so geschah es denn auch, daß sie das Haus hüten und der Hochzeit fern bleiben mußte, die Bartje Rennings und Doortje zeit ihres Lebens vereinigen sollte. Ach, wie so schmerzlich! denn alle wohnten der Trauung bei, die ihr in Liebe und Verehrung nahe standen: der alte Herr Kistemaker, Jüllecke Nakatenus, die drei von den Katen und Jan-Ohme – Jan-Ohme, der sich schon auf ihr Erscheinen gefreut hatte wie 'ne Baßgeige auf die niederrheinische Kirmes, um, wie er sagte, bei dieser Gelegenheit 'ne funkelnagelneue Braut- und Hochzeitsweise mit tapferem Geigenstrich und allerhand Anspielungen in die Herzen der Menschen zu konzertieren. Leider! ihr Kranksein verhinderte es. Das lähmte anfangs die von der Feier erwartete Stimmung. Als aber die langen Pfropfen gegen die Decke knallten, der Herr im schnupftabakfarbigen Leibrock sich für den Glücklichsten der Sterblichen erklärte, Phöns met de Fleut die Harmonika auseinander knitterte, Jan-Ohme mit der jungen Frau den ersten Walzer eröffnete, sie hierauf an den begeisterten Postmeister abtrat, dieser sie schließlich den Armen ihres rechtlichen Besitzers überantwortete und Baas Rennings nichts Eiligeres zu tun hatte, als mit seinem Doortje dreimal um die glanzvoll geschmückte Tafel, über die Schwelle, über den Hausflur, auf die Straße hinaus und von hier zurück in die warmgespreiteten Decken und Federposen zu tanzen, da war auch die Freude so rund und vollkommen in die Erscheinung getreten, daß die ältesten Leute sich nicht mehr zu erinnern vermochten, solch eine fidele Hochzeit im alten Rheinstädtchen erlebt zu haben.

Zum guten Beschluß stand ›Doortje van Grieth‹ in voller Beleuchtung, knatterten die Flaggen und Tops im Wind, riefen die städtischen Böller vom Marktplatz herüber, und erst als die überirdischen Laternchen jenseits des Rheines die ausgebleichten Äugelchen zumachten, die erste Sirene über das graue Wasser tutete, verkrümelten sich auch die letzten Festgäste in seliger und gehobener Stimmung, alle blau wie die Veilchen.

Nun hatte der Baas seine Freude und Doortje die ihre.

In dem behaglichen Heim, das der Kapitän seiner jungen Frau hergerichtet hatte, saß ein liebes Verstehen neben dem Herdfeuer, hielt die Herzen und Kasserollen blank und betete mit Andacht: »Unser tägliches Brot gib uns heute,« und das ängstliche Spinnwebmännchen war eifrigst dabei, dieses liebe Verstehen zu fördern und unter die Leute zu tragen.

»O Herr, ich bin nicht würdig, indessen, es wäre mir doch bekömmlich, wenn Doortje ...«

Er dachte dabei an den Klappervogel mit dem hochroten Korallenschnabel, der zurzeit im fernen Ägypterland weilte, aber schließlich die nordische Heimat wieder aufsuchen mußte, um nach Gottes unerforschlichem Ratschluß etwas Köstliches, in Windeln Gewickeltes durch den Schornstein fallen zu lassen.

»O Herr, diese Freude!« –

Die Herbstnebel krochen in sich zusammen.

Es war kälter geworden.

Der Rhein verlor sein wirres und bedrohliches Aussehen.

Ein herzhafter Winterwind blies von den Deichen herüber.

An klaren Abenden stand bereits ein gewaltiges silbernes Zeichen am tiefen Himmel, das man in heiteren Sommernächten niemals gewahrte. Schön und groß und mit eigentümlichem Glanze leuchtete es zwischen den anderen Bildern.

Man dachte dabei an eine stille Verheißung.

Die Menschen taten einen befreienden Atemzug.

Alles was kränkelte, gesundete, sah wieder hoffnungsfroher ins Leben.

Auch Anna Donsbrügge.

Nur die Farbe ihres Gesichtes war bleicher geworden, ihr Antlitz schmaler und versonnener. Dennoch legte sich ein stiller Abglanz darüber hin, ein Abglanz der letzten Begegnung, in der die drei vor ihr erschienen waren und Klaas-Welm die Worte gesprochen hatte: »Nicht fröhliche Stunden, nicht solche, die spielerisch sind und Kränze in den Haaren tragen, bringen die Menschenherzen zusammen, sondern harte und unbarmherzige. Der heutige Tag, Sturmzeit und Wassernot sind nicht vergebens gewesen. Wir sehen uns wieder, Anna Donsbrügge.« –

Mit dem letzten Blätterfall war ein heller, freundlicher, knusperiger Samstagmorgen gekommen.

Seine Rauhreifkristalle verästelten sich hierhin und dorthin, puderten die Wiesen ein, häkelten glitzernde Festons von Zweiglein zu Zweiglein, um mit dem steigenden Tagesgestirn allmählich zu zerfließen.

Der Rhein blinkte herauf. Emmerich oder Emerica, decora, wie die ehrwürdige Stadt von unseren Altvorderen preislich genannt wurde, spiegelte sich selbstgefällig in den Fluten des Stromes, der hier sich zum letzten Male in seiner ganzen deutschen Selbstherrlichkeit und Würde zeigte. Die holländischen Kabeljaugesichter liebte er nicht. Er verkümmerte bei deren Anblick zu kraft- und machtlosen Rinnsalen und schämte sich, seinen früheren stolzen Namen zu tragen.

Hier aber ... noch waren Nervenstränge in ihm.

Sein Hafen lebte, stand im Auftakt der erwachenden Energie.

Die ersten Ankerketten rasselten, Kommandorufe erschollen, hier und da der gellende Schrei einer Dampfpfeife, das Seufzen der Kranen, das Ächzen der Ruderpflöcke. Die Schiffe machten klar, Segelboote und Steamer drehten bei und nahmen fröhliche Fahrt auf.

Ein Duft nach Teer und Taukränzen schwängerte die weite Umgebung.

Man sah die Arbeit, man roch sie, man hatte das unbewußte Untergefühl: hier ist kein Raum, die Müßigen zusammenzutreiben und Gottes Wasser über Gottes Acker laufen zu lassen.

Ein Glockenzeichen.

Heiser und mißtönig lief es durch den tätigen Morgen.

Es kam von der Ponte.

Gemächlich und schwerfällig stakelte der angekettete Pram vom einen Ufer zum andern.

Als er zum fünften Male den Strom gequert und diesseits angelegt hatte, schritt ein riemiger und hochgewachsener Mann von den Planken herunter.

Er trug ein graugrünes Habit, gestickte Eicheln am Kragen, eine silberne Uhrkette mit Hirschgrandeln vom obersten Knopfloch bis zur linken Brusttasche und einen lockeren Filz, von dessen Krempe die Gabel eines Birkhahns aufstelzte, den er in der Klever Heide verhört und beim Wetzen umgelegt hatte.

Mit offenen Blicken sah er die Welt an.

Der ganze Mann atmete Waldesluft und Waldesfreiheit.

Ohne sich weiter um das geschäftige Hasten an der Anlegestelle zu kehren, ging er räumigen Schrittes den Hafen entlang und der oberen Stadt zu.

Schon von weitem klang ihm das scharfe Hantieren von Äxten, das Poltern von Hölzern entgegen.

Bald darauf trat er durch ein Gewirr von geschichteten Bohlen, Laufbalken und Stapelklötzen auf die Emmericher Helling.

Mit ihrer Takelwerkstatt, der Blockmacherei, den Rundholz- und Mastenschuppen stand sie keiner nach im unteren Stromgebiet. Ihre vordere Schrägsohle stieß weit in das breite Wasser hinein.

In der Tiefe des Platzes schrillte eine emsige Säge.

Ein warmer Geruch nach Werg und Harzen legte sich schwer über die Arbeitsstätte, die so recht dazu angetan war, die Herzen klar und die Hände regsam zu machen.

Ein neuer Bau war im Werden begriffen.

Er hatte schon ein respektables Ansehen.

Die Kielbalken waren verlascht, die Aufklotzungen eingesetzt worden, während derbe Fäuste sich mühten, Bodenwranger und Rippen an Ort und Stelle zu bringen.

Vor eitel Rumpeln und Knarzen hörte man kaum das Plaudern des Rheines.

Unermüdliche Arbeit, rechtliche Arbeit, tapfere Arbeit ... und Klaas-Welm ihr Gebieter.

Trotz der frischen Morgenbrise schaffte er in Hemdsärmeln.

Ebenso seine Gesellen und Burschen.

Span bei Span splitterte ab, die Verdiebelungen griffen willig und kunstgerecht ineinander, und es war eine Freude zu sehen, wie die Spanten sich fügten ... als der Meister plötzlich innehielt, sich wandte und die kurzstielige Axt in einen Pfosten hineintrieb. Ein heller Schrei zitterte nach.

Mit einem Ruck stellte er die breite Hand vor die Brauen.

»Hoidoho!« rief er den Mann in graugrüner Watt an, der die Schiffswerft heraufkam, zog seinen Flaus über und trat ihm raschen Schrittes entgegen.

»Mensch, woher denn so zeitig?«

»Direkt aus dem Fuchsbau.«

»Meinen Respekt. Schiffsbauer und Hegereiter: dieselbige Nummer. Kaum, daß die Sonne ins Bett scheint: heraus aus den Federn! Immer mobil. Aber wie steht's denn, mein Junge?«

»Wie Freiheit und Wald. Nur die Blätter sind alle. Na, und du?«

»Danke der Nachfrage. Wie Rennings behauptet: alles munter auf Back und Kampanje.«

»Freut mich!« und mit raschem Blick umgriff Ewert die Helling, trat etwas zur Seite, um den angefangenen Neubau besser übersehen zu können.

»Blendwerk der Hölle oder aber ...?«

»Ehrliche Arbeit!« lachte Klaas-Welm.

»Also wirklich?! Mensch, dieses Glück oder besser gesagt: dieser Zuspruch von wegen deines rechtlichen Könnens. Dir geht aber auch nichts durch die Lappen. Dem Baas sein kregeles Bootje liegt kaum auf dem Wasser, hat eben Gelegenheit, seine erste Bergfahrt zu machen, und schon wieder stehst du mächtig im Schaffen, wird da mir nichts, dir nichts so'n Monstrum gezeitigt, als wenn es bloß gölte, ein Roggenbrot in den Ofen zu schieben ... Gratulator tibi! na, und der Bauherr?«

»Kannengießer & Söhne, Duisburg-Ruhrort.«

»Was?! für die Rheder- und Kohlenbarone?«

»Richtig gepfiffen.«

»Da schlag' doch keiner sein Kind tot, um sich hinterher nicht sagen zu müssen: Du bist ein Schafskopf gewesen mit Eichenlaub und Schwertern am Ringe. Man weiß nie, was so'n Sprößling noch alles zwischen Korn und Kimme nimmt, Blattschuß oder wenigstens 'ne Fasanendoublette ... und wenn du erst die obigen Herren hinter dir hast, dann fressen dir auch die übrigen Rhein- und Ruhrmagnaten schlankweg aus den puren Fingern heraus.«

Er sah sich um.

»Wie auf 'ner richtigen Großwerft! Kein Schwindel. Ich sehe: hier wird mit Andacht und Liebe gezimmert. Weidmannsheil! denn ich muß offen gestehen: schon um dessentwegen verlohnt es sich, seinem Bruder in aller Hergottsfrühe 'nen guten Morgen zu wünschen.«

»Halt!« lachte der Schiffsbauer, »bloß aus diesem Grunde bist du gekommen? Bloß deshalb, mein Junge?«

»Du,« meinte Ewert, »liegt in deiner Frage schon die eigene Antwort?«

»Wenn ich denn ehrlich sein soll ...«

»Versteh' schon. Keine weitere Mühe. Ja, hier wurzelt schon was Besonderes, das mich so ungerufen auf deine Helling bringt, denn alles, was Holz gibt, kann nicht in die Ewigkeit wachsen. Jedes Ding hat seine bestimmte Umgrenzung. Wenn's weiter hinaus will, dann bricht's oder geht auf 'ne andre Art elend zugrunde.«

Er packte die Hand seines Bruders.

»Deine Schiffswerft in Ehren. Die kann vor Gott und Menschen bestehen. Die ist so blank und rank gewachsen wie meine fünfhundertjährige Eiche im königlich preußischen Reichswald, Jagen vierunddreißig, unmittelbar neben dem Reiherbusch. Hut ab, Klaas-Welm! Unter ihr luden schon die Herzöge von Kleve zum Schüsseltreiben, unter ihr ließ der Große Kurfürst, über sich den roten brandenburgischen Adler, den Hagelschrei blasen. Mensch, und die Augen ...! Aber auch das hier in Ehren,« und seine Rechte lag fest und derb auf der Herzgrube. »Auch das will seine Förderung haben, seine Ruhe und das Anrecht darauf, endlich zu wissen: wohin mit dem ewigen Rütteln und Schütteln? Das kann das beste Holz nicht vertragen.«

Klaas-Welm nickte ihm zu.

»Und da sollte ich meinen: man kann die Sache nicht abtun wie'n krankes Stück Wild, mit Fangschuß und so was. Aber verstehe mich richtig. Ich spreche hier nicht für meine Person allein. Es geht um uns alle. Jeder von uns hat das Seine zu tragen, es mit dem seiner Brüder in Einklang zu bringen. Kurz, was ich will, darüber brauche ich dir gegenüber wohl keine langen Sprüche zu machen?«

»Nein, du hast ins Schwarze gehalten.«

»Das wollte ich hören. Es hängt in der Luft, es sieht in unsere Träume hinein und macht die Köpfe heiß und voll schwerer Gedanken. Daran kann einer in der Vollkraft seines Lebens verbluten. Ungewisse Dinge zermürben, machen hilflose Menschen. Gehandelt muß werden, promptest und je eher, je besser. Noch haben wir Büchsenlicht. Drum klare Besinnung, mein Lieber. Auch das will gelernt sein. Auch du bist beteiligt. Auch du mußt Farbe bekennen, und was die Hauptsache ist: nur opferfreudige Tat und brüderliche Liebe ...«

»Mensch, wem sagst du das alles?! Das läuft mir ja selber nach wie der eigene Schatten. Mit jedem Bissen und jedem Tropfen Wasser schluck' ich's hinunter. Und gerade heraus: das mit dem Knollenkamp muß ausgekämpft werden, niemand zu Liebe, niemand zu Leide. Wie's kommt, das steht natürlich auf einem anderen Brett verzeichnet. Die Zukunft wird's bringen. Die Hauptsache ist: wir verstehen uns beide, begegnen uns in krachneuen Schuhen, nicht als Blutsverwandte allein, sondern als Menschen, die um der Treue und der Gerechtigkeit willen allzeit bereit sind, mit nackten Fäusten ein glühendes Eisen aus der Esse zu heben. Um dessentwegen bist du erschienen, um dessentwegen sehen wir uns Auge in Auge ... du« – und Klaas-Welm warf plötzlich den Kopf herum und sah über die Helling – »nimm den Windfang hoch! ... um dessentwegen darf auch der dritte nicht fehlen, denn wenn ich nicht irre ... Hoidoho! 'nen herzlichen Willekumm dem, der da kommt, um die Dreieinigkeit der Katen aufs neue unter Brief und Siegel zu nehmen. Hoidoho!« und als der Deich- und Schleusenmeister unter sie trat, jedem die Hand bot und just wie sein Bruder sich des längeren über den Neubau ergehen wollte, lachte Klaas-Welm sein herzhaftestes Lachen und sagte: »Arnt, bei der Stange geblieben! Allerhand Achtung für dein großes Interesse. Aber Kannengießer & Söhne, Duisburg-Ruhrort, regieren die Welt nicht allein ... und wenn du mir dartust, dein Morgengruß sei lediglich Zufall gewesen, so sage ich dir rund heraus: Ausflüchte! Die alte Geschichte vom Zufall steht nach wie vor auf wackeligen Beinen. Es gibt keinen Zufall. Lediglich Harmonie der Seelen, Berührungspunkte, die wie Taustricke haften.«

Er deutete in die silbrige Ferne.

»Du, da drüben über dem Emmericher Eiland fort ... in der Bylerwarder Gemarkung ... unter den Pappeln am Rheindamm ... da wohnt sie, sie, die einen ehrlichen Kostgänger des Herrn in Rage versetzt und ihm das Blut stürmischer macht ... und was ich Ewert schon sagte, das sag' ich auch dir: Nur um ihretwegen bist du erschienen, nur um ihretwegen sehen wir uns Auge in Auge, und wenn es dir recht ist, uns die Herzensnot vom Leibe zu schütteln – und wir sind alle in Herzensnot – dann sag's man. Unbeschadet der brüderlichen Einigkeit und Liebe, wir werden die Lösung schon finden. Gib mir die Hand drauf! Ich warte.«

Da weitete sich dem Jüngsten die Brust, als wenn er sich gegen ein Schleusenwehr stemmte, um die Stauflut zu halten.

»Wort um Wort,« stöhnte er auf, »und Treue um Treue! Blut ist dicker als Wasser. Hier meine Hand drauf.«

Da wurde Klaas-Welm ernst und feierlich gestimmt, ergriff die Rechte des Bruders und sagte: »So kommt! Hier nicht, aber da drinnen ist Raum für uns drei,« und da führte er sie dem schmalen Gebäude zu, wo er seine Schiffsmodelle aufbewahrte, seine Zeichnungen und Berechnungen, und bei Wochenschluß seine Gesellen ablohnte.

Viertelstunde um Viertelstunde verging.

Es schlug zehn auf Sankt Aldegondis.

Bald darauf machten die Werkler Frühstückspause.

Sie verloren sich in den kleinen Kneipen und Ausspannungen, die sich hinter der Werft in der schmalen Rheingasse befanden.

Nun lag die weite Helling so still und sonntägig da, als wäre der Zimmermannssohn aus Nazareth über die Stätte gegangen, um an den Wassern des Rheines einer kleinen Gemeinde zu predigen. Nicht nur: er wäre gegangen, nein er ging wirklich und wahrhaft über die Stätte, fühlte sich heimisch zwischen Balken und Bohlen, zwischen Planken und mächtigem Rüstzeug, und er nahm eine blanke Axt von der Werkbank, betrachtete sie in tiefem Sinnen, glitt mit weichem Finger über die Schneide und sagte: »Segen der Arbeit!« und dann wandte er seine Lichtgestalt dem unscheinbaren Gebäude zu, in dem sich die Getreuen befanden, und sprach, als hätte er an den sanften Ufern des galiläischen Meeres gesprochen: »Ein guter Mann bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens, ein böser Böses aus seinem verrufenen Herzen. Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am Jüngsten Gerichte von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geäußert. Aus ihren Werken heraus werden sie gerechtfertigt werden, aus ihnen heraus in das ewige Feuer verwiesen. Und ich sage euch ferner,« und seine Stimme nahm an Wohlklang und Innigkeit zu, »die da drinnen beraten, sie werden bestehen können am Tag des Zornes, denn sie hüten sich vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer, und was sie verhandeln, ist offen und ehrlich und dem Herrn ein Wohlgefallen.«

Während er dieses noch sprach, tat sich drüben die Tür auf, und die drei traten wieder ins Freie, Schulter an Schulter und noch benommen von dem, was sie verabredet hatten.

Die weiße Lichtgestalt jedoch wandelte verklärt und gemessen dem Rhein zu, schwebte über den Wassern, wo sie sich verflüchtigte im Glimmern und Glitzern des ruhig dahinziehenden Stromes.

Die große Stille hielt an, und sie wurde noch tiefer und insichgekehrter, als Klaas-Welm jeden einzeln ansah, ihm zunickte und sagte: »Das ist der Bund, den wir schlossen, ohne Arglist, Erschleichung oder Hinterhältigkeit, nur von dem lauteren Willen beseelt, ihn auch zu einem glücklichen Ende zu führen. Jede Satzung in ihm und jede Stelle verpflichtet, wenn wir auch in Gottes Hand stehen und das Letzte nicht zu ermessen vermögen. Die Zünglein an unseren Wagen sind gleich. Wir tragen die selben Wünsche, die selben Erwägungen und alles das, was uns die Stunde bringt und was sie uns verweigert. Wird einer erhoben: es neidet ihm keiner. Niemand wird von dem andern um seine brüderliche Liebe betrogen. Das steht wie ein Sanktus. Darüber geht nichts, selbst nicht die Hoheit der Kirche. Keiner hat um den andern zu bangen. Wir wollen uns nicht in Zweifeln verzehren; aber wenn es eine göttliche Fügung bestimmt – einer von uns mag sich des Weibes erfreuen, sich seiner ergötzen, bis die letzten Blätter über ihn fallen.«

Und er nahm abermals ihre Hände und sagte in tiefer Bewegung: »Einer für alle und alle für einen. Ihr habt mir das Wort anvertraut. Ich nehme es an, um nach des Weibes Lust und Liebe zu fragen ... und wem sie die Kammertür öffnet und lächelt: Alles soll dein sein! – es ist Gesetz für jeden von uns, ein Tun für uns alle. Nach euerm Willen und Wollen: morgen wird mich der Knollenkamp sehen. Das Wort wird gesprochen, und dem es zu Gunst fällt, der soll lieben aus dem Blute heraus, bis die Erde ihm leicht wird.«

Er schwieg.

Da sprachen die anderen: »Recht wirst du haben. So und nicht anders.«

»Mit Gott denn,« versetzte Klaas-Welm und deutete auf seine Gesellen und Burschen, die sich inzwischen eingestellt hatten.

Aufs neue krachten die Äxte, flogen die Späne, war reges Leben und Treiben um den Neubau, dessen Sparren und Rippen weiß und beinern in den stählernen Himmel hineinwuchsen.

Werkeltag und Werkeltagsfreude! und doch lag die Werft so begnadet und groß da, flutete der Rhein so hehr und mit so köstlichem Harfenspielen vorüber, als wäre das Heute ein heiliger Sonntag, der Tag des Herrn gewesen.

 

»Wilhelmus von Nassauen ...«

Das blaue Zimmer ertönte davon. Mit Hoheit und Zuversicht spielte es weiter:

»In Gottesfurcht zu leben,
Hab' allzeit ich betracht,
Drum bin ich auch vertrieben,
Um Land und Leut' gebracht.
Doch Gott soll mich regieren
Als gutes Instrument,
Daß ich mag wiederkehren
Wohl an mein Regiment.«

Dann nichts mehr, und eine verhaltene Stimme, die während des Liedes noch verhaltener wurde, hub wieder gefesteter an: »Anna Donsbrügge, das wäre zu sagen gewesen. Leicht ist mir dieser Gang nicht geworden, noch schwerer das, was ich vorbringen mußte; denn ich darf offen bekennen: Wir drei tragen schon unser Tabernakel im Herzen, nur scheuen wir uns, das Türlein jedem zu öffnen, aus Furcht, nicht verstanden zu werden. Gewiß, als ich Euch aufsuchte, lag so ein fröhlicher Schein über Euch und dem ganzen Besitz, daß ich beseligt aufatmen konnte. Es war Gottes Leuchten darin und Gottes Zutun, und da sagte ich mir: Hier ist es anders bestellt als sonstwo. Öffne getrost das verschwiegene Türlein und zeige ihr den Kelch unserer Neigung und Liebe. Ich tat es ... und nun möchte ich wissen ...«

Er hielt plötzlich inne. Mit ernsten Blicken sah er auf die Gutsherrin, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, im Dämmerlicht des Abends, den Kopf zurückgelehnt und die weißen Hände im Schoße.

O diese Unerforschliche!

Er wußte nicht, was er beginnen sollte, was weiter noch sagen. Ihre Augen ruhten auf ihm, als gäben sie ihm Rätsel auf, die nicht im Bereich des Möglichen lagen.

Ihre Brust atmete kaum. Ein Frösteln war in ihr.

Ihre Gedanken gingen zurück, in vergangene Tage, in jene Zeit, wo der Roggen eingebracht wurde ... und sie hörte Jan-Ohme sprechen: »Worauf wartest du noch? Du verbrennst ja von innen. Du hast einen Tapferen nötig, einen mit raschem Blut und unsinniger Leidenschaft, einen mit freier und herrischer Gewalt zwischen den Rippen, und wenn er an Halm und Ar ein Bettelmann wäre, einen, der dich packte und hielte und deinen Schoß fruchtbar machte, ein Starker, der den Pflugsterz herumwürfe, als wenn es ein Kinderspiel wäre, der dein Erbe und Eigen verwaltete, es in deinem Namen vermehrte: Haus und Hof, Schollen und Woijen ... Ich frage dich Anna: Hast du so einen schon im Schlafen und Wachen gesehen?«

»Ja!« rief es in ihrer innersten Seele.

»Und wohnt hier in der Nähe?«

»Ja, er wohnt hier in der Nähe.«

»In Bylerward, bei den drei Katen dahinten?«

»Ja, bei den drei Katen dahinten.«

»Was?! und hast nicht geschrien: Von da kommt die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit?«

»Wie sollte ich können?«

Das war geschehen, als der Roggen eingebracht wurde, damals, vor vielen Tagen und Wochen ... und dann Sturm und Wassersnot ... und der weiße Tod hinter ihr her ... und jetzt diese Stunde ... und einer von denen, die sich die Jacke vom Leibe gerissen ...

Ihre Augen berührten ihn, ihre Arme sehnten sich danach, sich ihm entgegenzustrecken, und dennoch scheute sie sich, sie auch nur um Fingersbreite zu heben.

Sie blieb, was sie war: stumm und versteinert.

»Anna Donsbrügge ...«

Der Schweigsame hatte seine Sprache wiedergefunden.

»Anna Donsbrügge, Ihr hörtet schon eben: ich bin durch die Felder gegangen, nicht für mich allein, sondern auch für die, die meines Blutes sind, durch Brache und Wiesen, und war fröhlichen Herzens, denn als ich herkam, lag noch ein zuversichtlicher Schein über dem ganzen Besitz, über Scheunen und Ställen, über Geschirrkammern und Kornböden, aber jetzt muß ich einsehen ... Ich hätte mir überlegen sollen« – und er fuhr sich weh über die Stirne – »daß es ein Besonderes ist, die Sinne auf Euch und diesen Grund und Boden zu richten. Nur die sind berufen, die im Weib das Höchste erkennen, die willens sind, ihm die Hände unter die Füße zu legen. Wenn's bloß darauf ankäme, dann wäre für unsereins schon hier die richtige Stelle. Aber uns fehlt etwas, so scheint es. Es will mir schwer von den Lippen herunter, denn ich muß Euerm Schweigen entnehmen ...«

»Nicht weiter, Klaas-Welm!«

Ihre Stimme klang hart und entschlossen.

»Wenigstens jetzt nicht. Ich höre Euch wohl, aber ich verstehe Euch nicht. Mir ist so, als müßte ich die Worte auch sehen. Ich will Licht um mich haben.«

Sie gab ein doppeltes Klingelzeichen.

Ein Mädchen erschien, dasselbe Mädchen, das ihn eingeführt hatte. Es brachte die Lampe, stellte sie auf den Tisch und entfernte sich wieder.

»Das Licht brennt,« sagte er schartig. »Gefällt es Euch jetzt, mich hören zu wollen?«

Sie gab keine Antwort.

Nur die Lampe knisterte.

Er sah, wie das Weib sich erhob und einige Schritte seitwärts machte.

Hochaufgerichtet stand sie am Fenster.

Er gewahrte das heiße Leben in ihr, wie sie die Hände verflocht, mit ihnen die Brüste bedeckte.

»Das Licht brennt,« begann er aufs neue, »und es steht mir zu, jetzt weiter zu sprechen. Meine Zeit ist bemessen und die Eure gleichfalls. Entschuldigt, ich habe nur noch wenig zu sagen, mir gegenüber und Euch gegenüber. Was ich darlegte, klingelte nicht mit heiteren Glöckchen, drang vielmehr aus der Tiefe ernster Erwägung. Euer Schweigen jedoch sorgte dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Es sagte: Ihr sätet auf Steine und seid ungelegen gekommen. Meine Ansprüche gehen höher hinauf; ich will und darf mich nicht binden. In Euch und Euren Brüdern kann ich mein Heil nicht erblicken. Wir nehmen es hin als berechtigt. Wir Narren! denn wissen hätten wir sollen, daß es ein Besonderes ist, die vom Knollenkamp in die Kammer zu führen und sie als Weib zu erkennen. Es war ein stolzes Ansinnen, ein hohes und stolzes – und nun liegt es mit zerbrochenen Flügeln am Boden. Unsere Schuld, unsere alleinige Schuld. Wir müssen sie tragen ... und dann noch ...« und er wandte sich langsam zum Gehen, »vergebt, daß ich Eure Ruhe hier störte.«

»Klaas-Welm!« schrie sie auf.

Er hörte das Rauschen ihres Kleides, ihre eiligen Schritte. Hastig, mit raschem Atem war sie in den Schein der Lampe und an seine Seite getreten.

»Das mir?!« stöhnte sie auf. »Das sagt Ihr mir frank vor die Stirne, Ihr und die Brüder, die ihr den Tod hart an meiner Seite erschluget, mir den ersten Strahl einer neuen Hoffnung vergönntet?! Was wollt Ihr? Warum beleidigt Ihr mich? Was soll das, was heißt das: Ihr stört meine Ruhe? Im Gegenteil: Ihr bringt mir die Ruhe, denn was von den Katen kommt, ist ruhig und stark und arbeitsam wie das Eisen an einer Pflugschar. Oh! warum habt Ihr mir dieses getan? Alles so öde um mich! Ich sehe: Ihr wollt nicht begreifen. Aber steht es mir an, mich selber zu stellen, auf das mit Fingern zu zeigen, was in meinem Inneren vorgeht? Ich besitze nicht die traurige Gabe, eine selige Wunde offen zu legen. Sie ist heilig für mich, ebenso heilig für mich wie die Hostie auf der Patene ... ach! und ich weiß nur: Ihr seid schon berufen, dem Weib die Hände unter die Füße zu legen, ihm das zu erhalten und weiter zu pflegen, was sein ist um der Gerechtigkeit willen – Ihr und die anderen, die bei mir waren ... damals ... in der furchtbaren Stunde.«

Sie wankte.

»Mein Gott, was soll ich noch sagen?!«

Sprachlos sah er sie an.

Er begann wissend zu werden.

Ihm war, als zerrisse ein graues Gewölk, das über seinem Haupt und denen seiner Brüder gestanden, als stieße Gottes Faust durch das Dunkel und würfe das Licht der Erleuchtung über ihn hin ... und wo Finsternis war ... Licht, Licht, Licht ...!

Er wähnte in einem Meer von goldenen Strahlen zu atmen.

Mit Gewalt brach es aus ihm heraus: »Also du weist uns nicht ab ... du willst in unsere Arme hinein ... du zeigst uns die Wege?«

Seine Stimme war die eines durstigen Tieres, das die erlösende Quelle witterte.

»Anna Donsbrügge, dürfen wir hoffen?!«

Ihr Kopf sank nach vorn, das bleiche Haupt mit der schweren Flechtenkrone.

»Ihr sagt es. Ich bin euch allen verpflichtet, aber nur einem von euch kann ich mich geben, nur einem sagen: Verwirf mich nicht vor deinem Angesicht. Tue mir kund, was mir ansteht. Ich harre des Herrn. Lege deinen Mund auf den meinen und führe mich der Verheißung entgegen, auf daß ich teilhaftig werde der Liebe des Mannes.«

»Und wann?« fragte er heiser.

»Gebt mir Bedenkzeit.«

Und darf ich wissen ... auf daß wir die Tage zählen können wie glückliche Kinder, die den heiligen Christ erwarten?«

Um ihre Mundecken legte sich ein schmerzliches Lächeln.

»Klaas-Welm,« versetzte sie gütig, und ihre Augen versenkten sich ruhig und tief in die seinen, »das sei mir überlassen, denn ich habe noch für manches zu sorgen, diesem den Schleier zu geben, jenem den Schleier zu nehmen. Es ist Sache des Weibes, den Mann in seinem Herzen trunken zu machen, aber auch Sache des Weibes, durch ihn die Scholle vor dem Verderben zu sichern. Sonst ginge ihm das Höchste verloren, würde es bettelarm an seiner eigenen Treue. Laßt mich gewähren. Ich segne die heutige Stunde. Das sagt den Brüdern, und sagt ihnen auch: Es kommt der Tag der Geschenke ... und wenn ihr warten wollet, so wartet.«

Sie wandte sich ab.

Ihre Augen standen voll Tränen.

Da ging er still seines Weges, um ihr Herz nicht zu stören ... und ging zu seinen Brüdern und sagte ihnen das, was er gesehen, erlebt und was sie ihm anvertraut hatte.

Und sie harrten des Tages ... und hörten den Gang der Dreschflegel auf den benachbarten Tennen ... und sahen, wie die vom Niederrhein ihre Lammfellsocken überzogen und Stroh in die Holzschuhe taten. Und über ein kleines: es war Winter geworden, lichter, schneeweißer Winter, denn die ersten Flöckchen schaukelten leise zur Erde.


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