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20

»Vogel Bülow! Vogel Bülow!«

Ein kanariengelbes Federspiel, wiegte sich der rätselhafte Sommervogel über die Koppeln, schwenkte beim Grasgarten des Knollenkampes ein, verflüchtigte sich in den tiefen Baumkronen, um von hier aus wieder seine Orgelstimme vernehmen zu lassen.

»Vogel Bülow! Vogel Bülow!«

Johannistag! und über ihm die weißglühende Kuppel des Himmelreichs.

Ob den Feldern zitterte die Luft, flirrte und glimmerte. Trunkene Falter spielten im Sonnenlicht, atlasfarbig, mit Perlen und Diamanten bestäubt. Wohin der Fuß irrte, taumelten Bläulinge hoch und verloren sich eiligst.

Ein warmer Ruch nach frischgeworfenem Gras und welkenden Blumen hüllte das Land ein. In den sinkenden Halmen spielte es mit einem nadelfeinen Singen und Sirren. Dazwischen war das Näseln der Schneiden, das taktmäßige Klappern der Mähmaschinen.

Unter dem aufsaugenden, trockenen Wind der letzten Tage waren die immensen Wiesenkomplexe von Wissel- und Bylerward früher als sonst knusperig und schnittreif geworden. Auch die fiskalischen Distrikte, wie Bann- und Schlafdeiche mit ihren Poldern, lagen unter Sichel und Sense, ebenso die Ländereien, die den Gemeinden pflichtig waren und zu ihren Haupteinnahmequellen gehörten.

Auf vielen Parzellen erhoben sich schon mächtige Schober und Diemen, gleich Bienenkörben; auf anderen wieder ging noch der rhythmische Gang der braunroten Mähder geruhsam dahin, während mehr dem Inneren zu nur leichtgekleidete Mädchen, das Kopftuch umgebunden, sich mit Gabeln und Rechen beschäftigten, die geworfenen Schwaden zu wenden, sie der heißen Sonne entgegen zu breiten und in schnurgeraden Reihen nebeneinander zu legen.

Schon mehrere Tage währte die Arbeit: das Dengeln und Sicheln, das Harken und Spreiten und das Häufeln der Feimen.

Immer emsiger stichelte das Tagesgestirn vom ehernen Himmel herunter.

Die Menschen dampften.

Die Glut war beinah unerträglich geworden.

In sengenden Tropfen perlte es den Weibern und Männern über Nacken und Rücken.

Kein Feiern gab's.

Die vom Baumannshof und Knollenkamp schafften geräumig.

Sie arbeiteten in der Nähe des Rheines, benachbart den Trupps und Kolonnen, die den fiskalischen Wieswuchs zu bergen hatten. Halme flogen im Wind, kehrten sich auf die andere Seite. Dazwischen durstende, sinkende, raschelnde Seggen und Rispen.

Immer würziger wurde der Duft nach welkenden Blumen, nach Salbei, Männertreu und Tausendgüldenkraut, immer bedrückender das Feuer der glühenden Leuchte.

Die Zungen trockneten fest, die Rücken krümmten sich.

Nur der rätselhafte Wundervogel im schwefelgelben Kleid hatte Stunden innigen Genießens.

Je heißer es wurde, um so lauter und tönender ließ er seine Jubelrufe vernehmen. Von allen Ecken und Enden hallten die Stimmen, von hüben und drüben: bei den Altwassern, wo die Riedgräser sich müde gegeneinander lehnten, von den einsamen Gehöften, den verschwiegenen Obstgärten her, die in ihrem eigenen Schatten kaum zu atmen wagten.

»Vogel Bülow!«

Immer heller und frohlockender.

»Vogel Bülow! Vogel Bülow!«

Immer freier und herausfordernder.

»Vogel Bülow! Vogel Bülow! Vogel Bülow!«

Auch die Grundbesitzer hielten es mit dem emsigen Sänger.

Genau so wie dieser erfreuten sie sich des heutigen Tages, sollte er ihnen doch ungezählte Taler in bar oder in Kassenscheinen in die Taschen hineinbrocken, sie segnen von dem kräftigen Schädel bis zu den derben Schuhen herunter, denn nur noch wenige Stunden – und im ›Blauen Pferdchen‹ zu Grieth wurden unter der amtlichen Leitung des königlich preußischen Notars Johann Peter Gerechtsam aus dem benachbarten Kalkar die gesamten Grasliegenschaften, geschnitten und ungeschnitten, öffentlich und meistbietend veräußert.

Das war so Gesetz und Regel schon seit Urgroßvaterzeiten.

Punkt vier hatte der Wachsstock in der geräumigen Schankstube zu leuchten, hatte die notarielle Handlung bei brennendem Licht vor sich zu gehen.

Daran war nichts zu deuteln und zu drehen.

Erprobte Sitten und Gebräuche erben sich fort wie das Vaterunser auf Kinder und Kindeskinder.

Um die angesetzte Stunde kam es von allen Himmelsrichtungen gerattert: von Hönnepel, Till und Moyland, vom Emmericher Eiland, selbst von jenseits des Rheines und aus dem Geldrischen her – Besitzer und Ansteigerungslustige. Und sie kamen in altmodischen Rumpelkasten, in raschen Schäschen und flotten Tilburys, in Zweisitzern von allen nur möglichen Bau- und Stilarten.

Hof und Torfahrt hatten nicht Raum genug, die angekommenen Fahrzeuge unterzubringen. Sogar die anliegenden Straßen mußten es sich gefallen lassen, den zuströmenden Wagen als Arsenal zu dienen.

Es war des Einlaufens kein Ende.

Der Inhaber des ›Blauen Pferdchens‹ fand kaum Worte, die erschienenen Gäste nach Würde und Stand zu begrüßen.

Mit seinen zweihundertundfünfzig Pfund klevischen Gewichtes stand er dienstwillig an der Einfahrt seines Hauses, schwenkte sein Troddelmützchen und brachte den Willkomm.

Untersetzt und fettleibig wie eine Weinbergschnecke, hätte er den ersten Verschnittenen im Harem der schönen Subaidah, Lieblingsfrau des gefeierten Kalifen Harun al-Raschid abgeben können, gemästet mit Kümmelragout, Kulkasawurzeln und Pistaziennüssen.

Trotzdem ging ihm alles flott und geschickt von den Händen.

Dazu seine Stimme! Ein Hahn auf dem Mist krähte nicht Heller.

»Tag, Herr Notarius, auch mal wieder im Lande! Freut mich unsagbar. Die Ehre! Aber lange wird's dauern. Vor acht wird der Lichtstock nicht ausgehen. 'ne barbarische Ernte! Die Bauern können ihre Speziestaler mit Maßkörben scheffeln. Die ersticken ja im Silber und in preußischen Lappen.«

Er gab eine Lachsalve von sich.

»Die mästen sich an wie die Ferkel im Saustall.«

»Schon möglich, Herr Lörksen,« sagte Johann Peter Gerechtsam, ein hoher Mann mit einem Christuskopf und versonnenen Augen.

In Begleitung seines Sekretärs und des Ausrufers trat er über die Schwelle. Andere folgten.

»Ah, sieh da! Herr Baumann, immer wie'n Flachsfink im Rübsen! Famos das! Kann man begreifen. Ihre Rheinparzellen ... dreihundert preußische Taler springen dabei heraus wie die Flöhe.«

Wieder eine Lachsalve.

»Herr Lörksen, immer bloß dusemang und fortepiano. Ich kann's schon gebrauchen. Aber mit Ihrer günstigen Einsicht: hat der Deichgräf schon vorgesprochen?«

»Fehlt noch, Herr Baumann. Muß aber jeden Augenblick einpassieren. Hat Gemeinde und Staat zu vertreten. Zweihundert Morgen wurden gemeldet. Grandios! Dieser Racker von Staat schluckt sich ein Vermögen zusammen. Man soll es nicht für die Menschenmöglichkeit halten!«

»Wie das so ist,« sagte Jan-Ohme und zuckte die Achseln. »Staat und Kirche sind wie die fressenden Ochsen. Sie dreschen zwar nicht, futtern aber für zehne. Addio! Da kommt wer. Fliegengeschmeiß und Pferdsbremsen geh' ich stets aus dem Wege. Also bis gleich denn.«

Er verkrümelte sich, während Pitt Lörksen ein Gesicht machte, impertinenter als ein von Maden durchfressener Limburger Käse.

Sein Troddelkäppchen regte und rückte sich nicht.

Er wandte sich ab, um Cornelis ten Berg, der mit etlichen Kumpanen erschien, nicht seinen Gruß entbieten zu müssen.

»Der Saukerl!« Dann aber flog es ihm wie Musik und Kirmes über die breite Visage.

»Servus, Herr Deichhauptmann! Das ›Blaue Pferdchen‹ wiehert im Stall. Was nobel ist, kann immer aufsitzen. Galoppsprung und so.«

Sein Troddelmützchen berührte den Boden.

»Eine Frage. Kommt Rennings, Herr Deichgräf?«

»Aber natürlich.«

»Weiß es zu schätzen. Man zehn Morgen, aber die hohe Gesinnung!«

Ein lautes Klingelzeichen gellte herüber.

»Achtung, die Schelle! – Bitte, angtree!«

Die Versteigerung nahm ihren Anfang.

Schlag Klock vier setzte sie ein.

Der Wachsstock brannte.

Eine erwartungsvolle Stille ging um.

Der Sekretär zog seine Stauchärmel über und schnipselte die Gänsefeder zurecht.

Den Hammer in der Rechten, stand der Ausrufer seitwärts des Tisches, bereit, seinen Ruf vernehmen zu lassen.

Über die Versteigerungsfolge der gezeitigten Gras- und Heuerträge in den verschiedenen Bezirken hatte das Los zu entscheiden.

Die Lose fielen.

Jan-Ohme gab sich mit dem sechsten zufrieden.

Die Gemeindeverwaltung Huisberden hatte den Vortritt.

Der Notar machte die Versteigerungsbedingungen bekannt und wandle sich an den Ausrufer.

Der Hammer schlug auf.

»Also wer bietet?! Hundertsiebenzig Zentner prima Heu in der Flurgemarkung ›Am unteren Kalflack‹!«

Die Angebote folgten sich wie muntere Peitschenknalle.

Die Preise stiegen.

Immer neue Parzellen folgten.

Beim vierten Licht flaute die Stimmung ab.

Der saure Graswuchs am ›Volksgatt‹ wurde wenig bewertet.

Er mußte sich drücken lassen und ging unter Kalkulation an die kleineren Leute.

Das sechste Licht geisterte auf.

Da aber ...

Die weitläuftigen Distrikte in der Nähe des Entenbusches kamen zur Offerte.

»Herr Baumann vom Baumannshof bietet öffentlich an ...«

Der Herr mit dem dröhnenden Hammer erging sich in Lobeserhebungen: »So was ist nicht alle Tage hinter den Deichen zu haben. Erstklassige Ware. Heu wie dem langen Lorenz sein Kind, ohne Disteln und Lattich. Wo die größten Kuhfladen Hinklatschen, wachsen die mächtigsten Halme. Wer das in die Raufen bekommt, erzielt Bullen wie Mammuts. Also wer bietet?!«

Und es wurde geboten.

Immer eifriger, immer höher. Jeder wollte die kapitalsten Bullen heranziehen, und als der sechste Wachsstock verlosch und seine kohlige Schnuppe ansetzte, hatte Moses Itzig aus Kalkar seinen Rebbes getätigt und Jan-Ohme seine bare dreihundertundvierzig Kronentaler im Beutel.

Er dankte und wandte sich an den Deichhauptmann: »Arnt,« sagte er heimlich und mit verschmitzten Mundecken, »ich kann nicht mehr bleiben. Ich hab' noch in Geschäften nach Kleve zu machen. Aber denkt dran. Nicht der Umstände wegen, sondern bloß aus klugem Ermessen heraus. Heute ist Johannistag ... und so 'nem Tag folgt 'n Abend ... und dann das übrige noch ... wenn die Sterne so aufgehen ...«

Er sah in ein abgekehrtes Gesicht.

»Na nu, Ihr werdet doch nicht ...?!«

Keine Antwort erfolgte.

»Macht keine Dummheiten, Arnt!«

Dann ging er und murkste im Abgehen verdrießlich in seine Vatermörder hinein: »Was soll das nu wieder? Nee, diese beiden! Brauchen nur die Hände zu strecken, um das zu haben, was ihnen unter den Rippen kitzelt, und jetzt diese kühle Verhaltung. Entweder Schlaubergerei, oder aber die Sache ist windig. Na, macht, was ihr wollt. Wer seine Hufkarr' in Modder und Mistus sitzen hat, mag sorgen, daß er sie wieder herauskriegt. Natürlich mit Forsche. Das ist allerdings nicht jedermanns Gusto. Ich selber, ich bin auch mal so'n veritabler Esel gewesen ...«

Hinter ihm klinkte die Tür ein.

Pitt Lörksen gab ihm das Geleit bis zur Straße.

Als er zurückkehrte, stand das achte Flämmchen über dem mageren Lichtstock.

Der Wieswuchs des Knollenkamps kam unter den Hammer.

Der erste Statthalter des Hofes war in Vertretung erschienen.

»Die erste Parzelle ›Am Leeloch‹, wer bietet?«

»Sechzig Taler!«

»Und fünfe!«

»Und zehne!«

»Fünfundsiebzig Taler! Wer bietet mehr?«

»Und sieben!«

»Zweiundachtzig – zum ersten ...!« und immer weitere Lichter flackerten auf und verloschen.

»Sechs Uhr!«

Die Kuckucksuhr im ›Blauen Pferdchen‹ hatte gerufen. –

Um dieselbe Stunde erhob sich der alte Strückerjans auf dem Fluchthügel unter der rotsparrigen Kiefer.

Seine fünfhundertköpfige Herde weidete rings um ihn her.

Er vernahm das harte Knuspern der Tiere, das Malmen der Gräser.

Um ihn blinkte es von Sicheln und Sensen. Wohin er auch schaute, überall war noch hastiges Treiben. So weit seine Blicke reichten, sah er emsige Menschen, Mühe und Arbeit.

Noch immer stand die Sonne als weißglühende Scheibe am Himmel.

Trotz ihres Tiefersinkens schaffte sie mit unermüdlichen Kräften.

Die Hitze wollte nicht nachlassen.

Sie verhäkelte sich mit den dunstigen Vliesen, hockte zwischen den trockenen Gräsern, saß in der Kiefer und rieselte aus den versengten Nadeln auf den Alten nieder.

Es focht ihn nicht an.

Seine ausgedorrten Knochen waren gefeit gegen Wärme und Kälte.

Das eherne Himmelreich tat ihm wohl.

Den Stab in den Boden gestoßen, die rissigen Hände über die Krücke gelegt, das Kinn darauf gestützt, in hohen Gamaschen und weißleinenem Kittel – also stierte er scheinbar in unbestimmte und verwaschene Fernen.

Er stand unbeweglich, ein kalkiger Pfahl unter dem säuselnden Nadelschirm.

Nur seine Augen regierten. Sie gaben dem wolfsartigen Hund ihre Befehle, sie sandten ihn von diesem zu jenem Ende, mit ihnen führte er seine Evolutionen aus, seine Schwenkungen und Schraubengänge, mit ihnen blinzelte er in die Stunden hinein, die noch kommen sollten und sich davor bangten, von ihnen durchschaut und erkannt zu werden.

So stand er und sah ins Unermeßliche fort, gedachte des Tages und sagte: »Und es kommt einer seines Weges gegangen, barhaupt, in kamelhärener Schur. Er führt eine Wurfschaufel in seiner Hand ... und wegt sie und regt sie ... und wird die Tenne fegen und den Weizen in seine Scheune sammeln, aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer.«

Johannistag!

Der alte Mann rückte und rührte sich nicht.

Die Viertelstunden gingen an ihm vorüber, als wären es Minuten gewesen.

Aus der glühenden Borke sickerte das Harz in heißen, bernsteinfarbigen Tränen.

Der Baum spendete Weihrauch.

Strückerjans stand in einer Wolke köstlicher Arome. Die reizte ihn an, berauschte ihn und befähigte ihn, seine Gedanken in alte biblische Zeiten zu schicken. Er hatte Gesichte, und seine Hände griffen danach. Sie hielten sie fest. Er betrachtete sie ganz in der Nähe. Das Tote Meer ruhte vor ihm, bleiern, ohne Glanz und Bewegung. Kamele zogen vorüber, aufgezäumt mit weißen Muschelhalftern und klingenden Glöckchen. Die jüdische Feste Machärus ragte empor auf schwarzem Basalt, umklüftet von zerrissenem Gestein. Ein Wirrwarr von Spalten und Zinnen. Das Abendfeuer ruhte darauf, bald rot, bald purpurn, bald wie ein tiefviolettes Flammenmeer. Das Kastell glühte auf. Senkrecht emporsteigend, erregte es Fürchten und Grauen. Von dorther vernahm er lärmende Musik: Pauken, Trompeten und gellende Zimbeln.

»Oh!« sagte der Alte, »der Tag des heiligen Medardus ist ernst, aber der des heiligen Johannes ist ernster. Er weist auf einen späteren Tag, auf den 29. August, und dieser ist furchtbar. Höret die Stimme der Sünde: Posaunen und Pauken –« und er fühlte die Nacht kommen über das bleierne Meer, die Myriaden von Sternen ... und sah: hoch vom Machärus fiel Flackerfeuer herunter, Lichter, kreisende Räder, taumelnde Kaskaden; denn in selbiger Nacht hielt Herodes heilige Feier da droben ... feierte er sein Wiegenfest mit den Großen seines Reiches ... tanzete in selbiger Nacht das schöne Weib, auf Geheiß der eigenen Mutter, vor ihm, dem König der Juden. Und sie warf ihre Schleier hinweg – und sie tanzete weiter ... und sie löste ihr Haar, auf daß es zischelte wie gelbe Wüstennattern – und sie tanzete weiter ... und sie tat sich die leichten Kleider vom Leibe, eins nach dem andern ... und Gold, mit Edelgestein umkrustet, und Hefteln und Spangen – und sie tanzete weiter ... und als sie sich endlich verneigte vor ihm und den Großen, nackt und schön, wie der Herr sie geschaffen, aber rosinfarbig und einen goldenen Ring in der Nase, da schmunzelte der Tetrarch und sagte: »Weib, was du dir auch wünschen wirst, ich will es dir geben, bis an die Hälfte meines Königreichs.«

Trompeten fielen ein und lärmende Pauken.

»Oh!« rief der Alte und stierte das Bild an, und er gewahrte es nicht, daß die Viertelstunden vorüber eilten wie rasche Minuten.

Die unbarmherzige Scheibe des Tages war tiefer gesunken, jetzt nicht mehr weiß, sondern dunstig und rostig, und sie ruhte auf einem roten Wölkchen, gleichsam wie auf einer blutigen Schale.

Die zittrige Hand streckte sich vor.

»Da ...!«

Er war wissend geworden.

»Das Haupt des Johannes! Nur das will sie haben, denn siehe,« setzte er schaudernd hinzu, »noch in selbiger Nacht wurde dem Täufer der Kopf vom Rumpfe geschlagen.«

Gleichzeitig lief ein dumpfes Murren über die Erde.

In der bewegungslosen Ruhe der Luft rollte es weiter, wiederholte sich noch zu verschiedenen Malen.

Unmerklich war es Abend geworden.

Ein feiner Rauch spreitete sich über die Felder. In ihm verloren sich die einzelnen Gestalten von Männern und Weibern, die sterbensmüde sich zur Heimkehr rüsteten. Nur hier und da noch das Dengeln einer Sense, das Wiehern eines Pferdes, die Stimmen unsichtbar dahin ziehender Vögel.

Das letzte Glühen des Tages breitete sich am Horizont aus.

Strückerjans sah in die züngelnde Lohe und sagte, noch immer den lichtdurchsprühten Saal des Tetrarchen vor Augen: »Und sie tat sich die Kleider vom Leibe, eins nach dem andern ... und Gold, mit Edelgestein umkrustet, und Hefteln und Spangen – und sie tanzete weiter ... Pfui, diese Weiber ...! und noch in selbiger Nacht kam die Not über die Menschen.«

Er wies die gelben Biberzähne.

»Und sie tanzete weiter ... und so was geschieht auch noch heutigen Tages.«

Mit seinem geschälten Stab beschrieb er eine weitausladende Kreislinie.

»Wolf, an die Arbeit. Wir machen nach Hause.«

Der Hund trottete ab.

Bald lautlos, bald mit heiserem Belfern stöberte er die Versprengten zusammen, gliederte er die Züge, ordnete er die weißen Geschwader.

Der Alte pfiff.

Von einer Wolke sandigen Staubes umhüllt, inmitten seiner Böcke und Schafe, trieb er feldabwärts.

Rings um ihn her erhob sich ein neues Murren und Grummeln.

Hinter ihm versanken Kiefer und Fluchthügel in resedafarbige Schatten.

Als er den Hof erreichte, glänzte der Abendstern über der mittleren Scheune, um bald zu verlöschen.

 

Der lodernde Gischt des Tages vereinigte sich mit den dumpfigen Baumkronen und blieb zwischen den Stallgassen hängen.

Die drückende Hitze schläferte ein.

Sie tastete sich in die Kammern, sie schlich über die Heuböden und weckte den beißenden Ammoniakgeruch in den Schafställen.

Gegen alle Satzung und Gewohnheit suchte das Hofgesinde früher als sonst seine Schlafstätten auf: Knechte und Mägde, Vorarbeiter und Hofjungen. Wie gemäht lagen sie in den schwülen Räumen, noch erhitzt und dampfend von der Tagesfron, wunschlos, ohne irgendeinen Traum auf der Seele zu haben, und sie hörten es nicht, daß sich das Murren verstärkte, immer häufiger wurde und von allen Seiten her auf den Knollenkamp losmarschierte.

Von diesseits und jenseits des Rheines kam es gepoltert.

Dann wieder das Schweigen von Gräbern da draußen, wenn auch die Blätter begannen unruhig zu werden und sich an ihren Stielen zu drehen.

Plötzlich zuckte es über dem Emmericher Eiland auf.

Nur ein kurzes Schimmern und Glänzen.

Aber die weite Gegend glühte in Weiß, um gleich darauf wieder unter einem Bahrtuch zu liegen.

Das erste Wettergeleucht in der Johannisnacht. –

Anna Donsbrügge wachte.

Der letzte Kampf setzte für sie ein.

Nach ihm der Tod oder das Leben.

Die Tür des Nebengemaches stand offen.

Die dort herrschende Dämmerhelle ließ nur wenig erkennen: ein schlichtes Bett mit leichten Gardinen, einzelne Stühle, eine Kirschholzkommode, über dem gespreiteten Lager eine Madonna aus Gips, darunter ein brennender Docht, der an das sanfte Flimmern eines ewigen Lämpchens erinnerte.

Von jenseits des Flures tönte matt und gedämpft der Perpendikel der großen Standuhr herüber.

Es war alles wie früher, genau so wie am Heiligabend, genau so wie damals, als die Osterscheiter ihre geweihten Feuer in das Himmelreich sandten, und genau so wie damals entnahm sie der Kommode den Entwurf des Schriftstückes, das sie für den Sankt Nikolaus-Abend aufgesetzt hatte, trat in den Lichtkreis der Lampe und faltete es mechanisch auseinander. Sie kannte es auswendig, sie erinnerte sich jedes einzelnen Satzes, jedes einzelnen Wortes, und dennoch las sie es wieder, mit klopfenden Pulsen, mit den heißen Sinnen einer Verzweifelten und doch einer Verzückten: »Gedenket meiner in der jetzigen Stunde, denn die Annahme oder Verweigerung des von mir Niedergelegten entscheidet für mich über Leben und Tod, Verwelken und Auferstehung. Alles das wißt ihr. Ich sagte es euch bereits am Tage der Geschenke ... und habt ihr gelesen – zeiht mein Herz nicht besudelter Wünsche und Neigungen, macht es nicht schuldig. Kein Makel haftet mir an. Jede sinnliche Unterstellung weise ich von mir. Mein Wollen und Tun ist durch den letzten Willen meines Vaters begründet, und ist Sünde dabei, es ist eine Sünde, die weder der irdische noch der überirdische Richter verurteilt. So hört denn: ich verheiße euch drei gesegnete Nächte ... und das erste Licht wird brennen in der heiligen Weihnacht, und den, der es ruft, der komme und suche das Heil seiner Tage, und findet er nicht, was er sucht, so gehe er wieder, ohne Scheelsucht im Herzen, ohne dem Weibe zu grollen, ohne ihm Arges zur Last zu geben und auf die Seele zu bürden. Und das Licht wird abermals in der Osternacht brennen, um die nämliche Stunde, und der, den es ruft, der komme und suche das Heil seiner Tage, und findet er nicht, was er sucht, so gehe er wieder, ohne Scheelsucht im Herzen, ohne dem Weibe zu grollen, ohne ihm Arges zur Last zu geben und auf die Seele zu bürden. Und wiederum wird es in der Johannisnacht brennen, nicht früher, nicht später ... und dann ...«

Sie schwieg und schauderte ihrem Schicksal entgegen.

Ja, es war alles wie früher.

Auch war sie genau so gekleidet – in der Tracht ihres Landes: im dunkeln Beiderwandrock, das bunte Fürtuch mit den seidenen Fransen umgeschlagen, mit klingenden Ohrgehängen, ein silbernes Kettchen um den weißen Nacken geschlungen.

Das Schriftstück legte sie weg, drückte die Schublade ein und verschloß die Kommode.

Dann horchte sie auf den Gang des Perpendikels da draußen.

Sie hatte bereits die Stunden gezählt. Jetzt zählte sie noch die Viertelstunden, die Minuten, die wie Schnecken ihres Weges daherkrochen.

Sie wußte: das Haus war schlafen gegangen. Mit ihm der Oberknecht, dem es oblag, vor dem Zubettgehen noch einen Rundgang durch die Ställe und Scheunen und über die Böden zu machen, von hier durch die Stellmacherei und die Geschirrkammern.

Er hatte »Alles in Ordnung« gemeldet.

Sie bangte um nichts mehr. Sie hatte keine Order gegeben, dem Gesinde nicht die Augen verbunden. Es wäre nur müßiges Tun geblieben, denn die Arbeit und die Schwüle des Tages sorgten für sie, waren ihr Helfer gewesen und brachten ihr Menschen ins Haus, die nichts anderes verlangten als zu schlafen, traumlos zu schlafen.

Ein seltsames Gefühl überströmte sie.

Keine Zweifel mehr, kein banges Fragen: »Wer von den dreien wird dein Sehnen stillen, deinen Wünschen willfahren?«

Sie wußte, woran sie war ... und der, der da kommen sollte ...

Die geweihte Nacht des Täufers breitete ihr die Arme entgegen.

Ihre Hände falteten sich.

»Herr,« flehte sie auf, »lasse das wüste Gestein wieder leben, schirme die Felder, lege ihnen Siegel und Hand auf, mache mich zu einem fruchtbaren Acker. Herr, ich lebe in dir, ich hoffe auf dich, erhöre mein Bitten und führe ihn her, den ich von deiner Allmacht erflehe,« und sie stellte sich vor, wie hehr und heilig es sein müsse, an seiner Brust zu ruhen, Stammellaute von seinen Lippen zu hören, von ihm zu empfangen ... und wenn dieses nicht eintreten sollte ...

Da schlug eine höhere Gewalt in ihr alle Bedenken zu Boden.

»Herr, auch dann: ich will ja nur Liebe ... nur ihn ... mit ihm am Altare ... mit ihm durch Helle und Finsternis, und wenn darüber Haus und Hof und Scholle verdürben ... Arnt, nur dich ...!«

Sie erschrak vor ihren eigenen Worten.

Auch der Himmel grollte.

Dumpf polterte er über den Hof hin.

Johannisnacht ...! und drüben holte die Uhr aus ...

Ihr Ruf ging unter im plötzlichen Rauschen der Bäume, im Rollen des Donners.

Aber Anna Donsbrügge hatte gehört.

Sie jagte ans Fenster ... stieß die Läden zurück ... und das Licht trieb hinaus ... heiß und verlangend ... legte sich um ihre Schultern ... suchte das Vorland ab ... den Fluchthügel ...

Und sie folgte dem Strahl, sich sehnend nach Lust und Umarmung, nach des Mannes Willen und Kraft – mochte der Tod drüber kommen.

»Ah –du ...!«

Ein greller Blitz schlug über sie hin, ein Krachen und Brechen.

Sie wurde geblendet, betäubt.

Die Hände auf die Brust gepreßt, stierte sie in die jähe Helle hinein, die so plötzlich verschwand, wie sie auf sie niedergegangen war.

Hinter ihr standen zwei Augen.

Das fühlte sie.

Sie wandte sich schreckhaft.

Wie aus dem Boden gewachsen, hob es sich auf.

»Schon jetzt ...?!«

Sie wollte schreien. Eine wahnwitzige Angst drückte ihr den Schrei in die Kehle zurück.

Immer höher wuchs es empor, immer grauer und übermenschlicher.

Sie wollte auf und davon. Vom Hofe herunter. Fort von hier, nur nichts mehr sehen und hören.

Sie wollte ... dem Alten die Finger um den Hals legen, das wollte sie, ihn schnüren und würgen, bis er unter ihren Händen verröchelte.

Aber ihre Finger erstarrten, vermochten es nicht, sich auch nur um Haaresbreite zu heben.

Sie starrte in ein abweisendes und kaltes Gesicht, das so abweisend und kalt erschien, als hätte es eine Totenhand aus einem Grabstein gemeißelt.

»Ihr ...?!« stöhnte sie aus ihrem Entsetzen heraus.

»Herrin, ich bin es. Nicht der, den Ihr mit heißem Blute erhofftet. Der ist kein Täufer nicht, keiner in härener Schur, der die Schaufel regiert und die Tenne vom Spreuicht säubert. Er bedankt sich dafür, sich von 'nem schönen Weibsbild köppen zu lassen.«

»Mensch – Ihr ...!«

»Bloß Ruhe, immer bloß Ruhe, Madam! Es ist schon kommoder und besser, alles sachte in Ordnung zu bringen, als Mordio und Kaputt zu schreien. Hoch über dem Toten Meer war's so, auch in Jerusalem; da schrien sie und tanzeten sie und zerrissen die Kleider. Aber wir auf dem Knollenkamp sind bedachtsame Menschen, Menschen, die keine außergewöhnliche Kirmes betreiben. Das wollen wir auch heute so halten.«

»Wie könnt Ihr es wagen? Wer gab Euch Befehl? Wer hat Euch gerufen?«

»Madam, nur die Sorge um Euch. Die Nacht des heiligen Medardus ist Freinacht und dito die, die wir heute begehen, und da hat jeder das Recht, den Mund zu öffnen und im Namen seines Schöpfers zu sprechen.«

Sie bebte.

»Ich weise Euch zurück und muß mir verbitten ...«

»Madam,« sagte er mit einer Ruhe, als hätte er mit seinen Schafen gesprochen, »hier ist nichts zu verbitten, denn wenn einer in Not ist, wenn einem das Wasser über den Kopf will, wer zusehen muß, wie das Malör kommt, der ist von Gott gesetzt, selbst gegen den Herrn zu reden und die Munstranz zu erheben.«

Sie krampfte die Hände.

»Was habt Ihr und wollt Ihr?«

»Vorerst nur sagen, was ich soeben schon sagte: Der, den Ihr mit heißem Blute erhofftet, der kommt nicht.«

»Wer sollte denn kommen?«

»Keine Verstellung, Madam. Die steht Euch nicht an, und hat Euch niemals gestanden. Die Sache ist anders.«

Mit dem Daumen der rechten Hand deutete er über die Schulter.

»Der Statthalter ist vom ›Blauen Pferdchen‹ retour, wo er die Versteigerung hatte. Vor 'ner Stund' oder zwei. Von dem hab' ich's. Der hat ihn gesehen. Bei Pitt Lörksen – da sitzt er. Im ›Blauen Pferdchen‹, an der obersten Tafel. Er und die anderen, solche, die zu den Gevollmächtigen zählen, und solche, die in den Geldrollen herumscheffeln können. Nur keine Bange. Der kommt nicht ... und wie der Statthalter aussagt: der bleibt am Ort bis zum hellichten Morgen, bei immerst frischen Bouteillen, bis der Wind die Lampen auspustet und das kalte Tageslicht dem hingeknallten Treffelkönig in die Visage hineinstiert. So ist das, und dieses ist gut so.«

Er warf den rechten Arm in die Höhe.

Gottes Wetterschein zuckte darüber hin, und Gottes Stimme machte die Festen des Hauses erzittern.

Die Bäume brausten und sausten, und der Regen prasselte durch die stöhnenden Zweige.

»Mein Gott und mein Heiland!« stöhnte sie auf.

»Madam ...!«

Er machte Miene, ihr die Hand auf die Schulter zu legen.

Sie schüttelte sich.

»Keine Berührung.«

»Merci! Es geht auch ohne das, und es muß auch so gehen.«

Sie wies auf die Türe.

»Da führt Euer Weg hin.«

»Schon richtig, denn ich bin der Knecht und Ihr seid die Herrin. Betreibt's aber nicht weiter. Es gibt Momangs zwischen Himmel und Erde, wo der Knecht vor die Herrin zu treten hat, um ihr das Unglück aus dem Hause zu jagen. Madam, ich bin in Marienbaum bei der allerseligsten Jungfrau gewesen. Es hat nicht geholfen. Ich bin weiter gegangen, bis nach Kevelaer zu. Die Mutter Gottes hatte kein Einsehen. Die belgischen Kerle lärmten sie tot. Ich hab' an den Griether Stationen gebettelt, vorwärts und rückwärts, von einer zur andern, um mir meine Last aus dem Turnister zu beten. Immerst dasselbe. Da aber ist einer gekommen und hat mir das Maulwerk verboten. Gut, ich habe das Maulwerk gehalten, aber jetzt, wo ich sehe ...«

»Mensch, was seht Ihr, oder was habt Ihr gesehen?«

»Die Sünde! Um derentwegen stehe ich hier, ihr das Genick abzustoßen; sonst geht der Herr Jesus Christus fort und über die Schwelle, um nicht wieder zu kommen. Ihr wollt in des Mannes Arme hinein, um Eure Stunde zu haben ...«

Sie warf sich zurück, als hätte sie eine Kugel empfangen.

»Und wenn es so wäre ...?!«

Am liebsten hätte sie ihre Hand gezückt, um sie in das Gesicht ihres frommen Quälers zu treiben. Alles stürmte in ihr, brach aus seinen Fesseln heraus, suchte die Freiheit – die Freiheit zur Betätigung ihres eigenen Willens. Keine Bedenken mehr. Das Verlorene lag hinter ihr, war für immer verloren. Ein Wortbrüchiger, ein Gezeichneter war mehr unter der Sonne. Jetzt hatte sie nur noch vor ihre eigene Ehre zu treten, ihm und aller Welt gegenüber.

Anna Donsbrügge hatte sich wieder.

»Und wenn es so wäre ...?!«

Ihre Stimme klirrte.

»Ja, und wenn es so wäre ...?!«

»Madam ...!«

»Schweigt, ich habe zu sprechen. Das, was ich fühle und trage – mir liegt nichts mehr daran. Und wenn sie mich anspeien und wenn sie davor zurückschrecken, mit den Falten meines Kleides in Berührung zu kommen – mögen alle es wissen. Ich bin, die ich bin, und lasse mich von keinem zur Verantwortung ziehen. Auch von Euch nicht, und dankt Eurem Schöpfer, daß ich Euch nicht von Hof und Stelle verweise.«

»Ihr ...!« rief der Alte.

»Dankt Eurem Schöpfer. Aber wer gab Euch den traurigen Mut, wo nahmt Ihr die Stirn her, mir so unter die Augen zu treten? Was wißt Ihr davon, wie es um das Herz eines Weibes bestellt ist, was in ihm vorgeht, was es will und erstrebt, um sein Recht zu behaupten? Und habt Ihr nicht selber gesagt, am heiligen Abend gesagt: Nur im Gottesgnadentum liegt das Fundament eines christkatholischen Hauses begründet, nur im angestammten Blut kann der Hof weiter bestehen, nur in regulärer Erbfolge sich als Ganzes behaupten?«

»Ich habe, ich habe.«

»Habt Ihr nicht weiter geredet: In Euren Händen allein und in denen, die Ihr hierzu erwählt, kann sich das Regententum glorreich entfalten, so daß Menschen und Vieh mit Freuden dabei sind und die Äcker ihre Schuldigkeit leisten?«

»Ich habe, ich habe.«

»Und nicht ferner behauptet: Ihr habt für den Erben zu sorgen, für rechtlichen Nachwuchs, sonst kann es immer passieren, daß schmutzige Finger Euch den Schemel unter den Füßen und die Krone vom Haupt nehmen? Wollt Ihr es leugnen? Und der, der da kommen sollte und mußte, wollte das alles mir geben. Mit ihm in die verschwiegene Kammer ... mit ihm zum Altare des Herrn ... mit ihm in ein christliches Leben hinein ... vor Gott und Menschen ein Wohlgefallen ... die Faust an den Pflug ... gemeinsam mit ihm in den Kampf ... ein christliches Weib ... besorgt um den Erben – das wollte mein Herz, meine durstige Seele. Nichts weiter. Hier auf dem Hofe ... er hat meinen ersten Schrei gehört, er sollte auch meinen letzten Seufzer vernehmen ... Also – was wollt Ihr?! und jetzt muß ich sehen: mein Ruf verhallte wie der Ruf in der Wüste.«

Der Alte erstarrte.

Seine ausgeblasenen Augen brannten gleich den Lichtern auf Sion.

»Das alles ...?! das war die Meinung? Die Gnade der Kirche sollte Euch werden? Er und Ihr – am Altare wolltet Ihr knien? Der hochwürdige Herr sollte Euch die Hände auflegen, Euch segnen, Euch ehrlich sprechen für immerst? und nicht aus purer Lust und heißen Sinnen heraus, sondern im Namen des Ewigen ...?!« und er brach zusammen mit der Zerknirschung eines Büßenden.

Die harten Arme um ihre Knie geschlungen, rief er ihr zu: »Ich Narre. Herr, erbarme dich meiner! Elendigkeit, Hundsfötterei und kein seliges Ende! Christus, sei mit mir! Ihr himmlischen Heerscharen, schält mir die Zunge, das böse Wort aus dem Halse! Denn wer da falsch Zeugnis ablegt, der soll verflucht sein bis in alle Ewigkeit, denn Christus regieret und seine Hand ist wie eine zuckende Flamme. Herr, sei meinen armen Sinnen barmherzig! Ich Narre, ich Narre ...!«

Schwer hob er sich auf.

»Strückerjans!« stammelte sie und suchte seine Hände zu fassen.

»Laßt mich. Ich muß fort. In die Nacht hinaus. Ich weiß einen, der lächelt mir zu, der hebt die Munstranz, der ist der Gerechtesten einer, der läßt mich nicht in der Bußfertigkeit liegen und hebt nicht den Schuh, um mich in das ewige Feuer zu stoßen. O, diese Stunde!«

Und fort war er, als hätten ihn die Dielen verschlungen.

Pechschwarzes Dunkel umfing ihn. Dann ging es über ihn fort: weiße Blitze und rollende Donner.

Barhaupt, des straffen Regens und des Sturmes nicht achtend, trat er seinen bitteren Gang an, nach Wissel, schritt er über den Hof hin, über die lehmigen Wege, durch Wiesen hindurch, an wogenden Feldern vorüber, immer geradeaus, auf die ferne Basilika zu, die zeitweilig aufleuchtete, um gleich darauf wieder in Nacht zu versinken.

Polensensen blitzten um ihn, zerrissen die Luft, stießen mit dumpfem Geschrei in die stöhnenden Acker.

Sein strähniges Haar flatterte im Wind.

Nach stündigem Marsch hatte er die ersten Häuser erreicht, die triefenden Gassen.

In der Dechanei brannte noch Licht.

Also – Johannes van Holten sprach noch mit seinem Erlöser.

Nur noch wenige Schritte, und seine rissige Faust zog die Klingel, lärmte gegen die Pforte des Friedens.

»Herr,« rief er durch das helle Geleucht, »mein Verstand hat über'n Pferch gemacht, und mein Herz schreit in Bußfertigkeit um Gnade und Beistand. Tut auf, tut auf!«

Der Dechant schreckte zusammen.

Vor ihm lag sein Brevier, das Manuskript seiner Predigt für den kommenden Sonntag.

Und wieder die dröhnende Stimme: »Tut auf, tut auf!«

»Mein Gott, diese Nacht! ... non acuta sic geminant Corybantes aera. Nicht so laut ertönte das Erz der Korybanten,« und der geistliche Herr schritt der Tür zu und fragte: »Wer ruft mich?«

»Ein Unseliger, Herr!«

Und ihm wurde aufgetan.


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