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14

Und es war Heiligabend geworden. Tief im Westen stand noch eine freundliche Helle ... und glitzerte über den Rhein hin ... und spreitete ein Filigrannetz von Goldfäden über das weite Schneefeld ... und war ein Leuchten, schön und verheißend, als hätten es Erzengel von ihren Flügeln geschüttelt.

Auf dem Knollenkamp ruhte die Arbeit. Nur noch: das Vieh wurde getränkt, die Streu erneuert, die letzten Raufen bestellt; damit war dem heutigen Tage Genüge geschehen. Eine zuversichtliche Erwartung wohnte zwischen den Stallgassen, ruschelte in den kahlen Zweigen der Bäume und sah in die Fenster hinein. Die fromme Legende von der Geburt des Herrn schlug die Augen auf, wie im Erstaunen, und sagte: »Ecce, virgo illa praegnans erit et pariet filium, et vocabis nomen ejus Emanuel; quod est, si interpreteris, Nobiscum Dominus.«

O du geweihte Botschaft, o ihr seligen Engelsstimmen aus dem Himmelreich!

Schon viele Stunden vorher, gleich nach dem Mittagessen, hatte Anna Donsbrügge die Weihnachtspräsente für ihr Gesinde in der Guten Stube gerichtet. Auf gespreiteten Tischen, zwischen Stechpalm- und Fichtenzweigen, lag jedes Angebinde der Ordnung gemäß, als da waren: wollene Jacken und Strümpfe, Schuhe und Spenzer, Hauben und Mützen, Pfeifen und Tabaksbeutel, alles sauber mit grünen Schleifchen umwunden, und neben jedem Geschenk ein funkelnagelneuer preußischer Kronentaler, der in einem rotbackigen Paradiesapfel steckte.

Um die fünfte Nachmittagsstunde war Bescherung angesagt.

Alle Knechte und Mägde warteten mit pochenden Herzen darauf.

Auch Strückerjans, der feiertägig gekleidet, noch einen Gang zu seinen Schafen machte, eine Laterne in der Linken, den geschälten Stab in der Rechten führend.

Wie ein Großer und Starker aus Israel trat er unter das schmutzig-weiße Gewimmel. Ein anhängliches Blöken empfing ihn, ein sanftes Drängen begrüßte ihn, ein dumpfer Brodem schlug ihm entgegen, hüllte ihn ein, umhauchte ihn mit einem feinmaschigen Nebel, während der fahle Lichtschein über die zottigen Vliese streichelte und die Spinnweben, die als Festons und Girlanden von den verzahnten Trägern schaukelten, mit einem matten Leuchten vergoldete. Nur die Tiefen des dunstigen Raumes verharrten in Nacht und Finsternis. Die frommen Tiere schoben sich näher heran: Lämmer, Böcke und Mutterschafe. Er kannte sie alle, und sie alle kannten ihn. Tausend opalisierende Lichter glotzten ihn an. Tausend unheimliche Fünkchen kreisten um ihn wie Johanniswürmchen durch einen weißlichen Schwaden.

Strückerjans fühlte sich hehr und erhaben und gedachte der Worte: »Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich schau' ihn, aber nicht von nahe. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Komet aus Israel aufkommen und wird zerschmettern die Fürsten der Moabiter und verstören alle Kinder des Getümmels.«

Seine Brust weitete sich.

Seine Blicke sahen nach innen.

Er gedachte seiner Jugend, seines Mannesalters, der Jahre, die er noch mit völlig ausgeblaßten Augen und kürzerem Atem zu durchwandern hatte.

Er kraute seine Schafe und Lämmer ... und hob den Stab ... und machte Zeichen über sie hin ... und sang die alte Weihnachtslegende, die er schon als Knabe gesungen, die er bereits unter dem Zepter des dahingegangenen Knollenkampbauers gejubelt hatte und die er auch unter dem neuen Regiment nicht missen wollte. Und also sang er:

»Als ick bei meinen Schafen wacht'.
Ein Engel mir groß Zeitung bracht' –
Ohe,cum jubilo!

Ein Kind geboren zu Bethlehem,
Des freuet sich, Jerusalem –
Ohe,cum jubilo!

O Joseph, bring' mir 'nen Busch voll Heu,
Damit ich dem Kindlein das Bettchen streu'
Ohe,cum jubilo!

Der heilige Joseph, der seufzete sehr:
Maria, wo hast du das Knäblein her?
Ohe,cum jubilo!

Vom heiligen Geist – sei nicht so dumm,
So meldet's das Evangelium –
Ohe,cum jubilo!

Da beugte Herr Joseph getröstet das Knie:
Gott segne das Knäblein und dich, Marie –
Ohe,cum jubilo!

Für alle nun betet das himmlische Kind,
Für alle, die guten Willens sind –
Ohe,cum jubilo!

O du geweihte Botschaft, o ihr seligen Stimmen
aus dem Himmelreich!

Noch während des Gesanges tönte ein helles Klingelzeichen aus dem Herrenhaus herüber.

Strückerjans stellte den Stab beiseite, machte die Zähne lang und glättete seinen Sonntagsrock, umständlich und mit hartem Räuspern. Seine Obliegenheit war hier zu Ende.

Hierauf löschte er die Laterne, verließ seine Schafe, riegelte ab und folgte dem Ruf seiner Herrin.

Bald darauf trat er mit dem übrigen Gesinde in eine blendende Helle.

Anna Donsbrügge bescherte in ihrer ganzen Würde und Anmut, und als sie jedem gegeben, was sie für jeden einzelnen bestimmt hatte, der Magd, was der Magd, dem Knecht, was des Knechtes, dem Vorarbeiter, was des Vorarbeiters, dem alten Schäfer aber wegen seiner besonderen Verdienste um Hof und Haus noch einen warmen Pelz aus Schafwolle zusprach, dabei in dankbare Gesichter und zufriedene Herzen hineinsah, da wußte sie: der heutige Abend ist ein Abend der Liebe und des Einverständnisses für alle.

»Ich grüße jeden von euch,« sagte sie mit erhobener Stimme, »denn unsere gemeinsame Arbeit ist bis jetzt ersprießlich gewesen. Kein Grund zur Klage, keine Veranlassung, die Stirne zu runzeln. Die Kammern blieben sauber, und keiner von euch ist strumpfig auf sündigen Wegen geschlichen. So will es die Wohlfahrt des Hofes und die Bekömmlichkeit eines christlichen Hauses, denn verkehrte Bettgängerei macht die Sinne verstört und bringt schlaflose Nächte, die nach Verlorenem die Hände ringen und Unreines nicht mehr reinwaschen können ... und soll alles doch weiß in uns bleiben.«

»So ist es, Madam,« bestätigte Strückerjans mit gerunzelten Brauen.

Seine Blicke versenkten sich in die seiner Herrin.

Anna Donsbrügge fuhr fort: »Gemeinsames Werken, gemeinsame Feste! so wurde es stets auf diesem Freigut gehalten. Zum erstenmal, seitdem ich als Herrin unter euch weile, feiern wir in stiller Andacht zusammen. Ich habe Schweres durchlebt und Schweres durchlitten und fürchte, den Tagen der Trübsal und der Leiden werden sich noch viele anreihen. Der Knollenkamp birgt eine tiefe Verstörung, und alles, was blüht und grünt, was seine Spelze austut und dreißigfältige Ernte gewährleistet, sträubt sich noch immer dagegen, mir und euch frohwillig in die Hände zu wachsen. Aber ich hoffe zu Gott, die Stunde wird kommen, in der ich innewerde: alles Bangen und Fürchten ist nichts, ist nur eine leichte Spreu vor dem Hauch des Windes gewesen. Es gibt Augenblicke, in denen kann man in heiliges Gottvertrauen versinken. Sie sind wie dargebotene Rosen im Herz-Jesu-Monat. Frei von Fesseln und Schimpf will ich hinauf wie ein Falk, wenn er hoch im Blauen schwimmt und das Licht des Himmels die äußersten Spitzen seiner gebreiteten Schwingen durchzittert. Das will ich. Solche Augenblicke sind bei mir. Ich werde sie nützen, sie zu meinen eigenen machen, sie halten, sie an mich ketten für immer. Noch in dieser Nacht ... und wenn diese mich abweist, es gibt noch andere Nächte des Harrens und Hoffens. Heilig ist die, in der uns der Erlöser geboren ward, ebenso heilig die Nächte, wo die Osterfeuer brennen und Johannes der Täufer still seines Weges dahinzieht. Laßt mich nur sorgen. Ihr aber – haltet zu mir und folgt meinen Worten. Gebt Gott, was Gottes, und der Herrin, was der Herrin. Ich will's euch gedenken für immerdar, denn Liebe zeugt Liebe, Vertrauen Vertrauen. Betet für mich. Nur noch wenige Stunden – und die erste Messe hebt an, die Messe, die dem Morgen vorangeht, so uns in den höchsten Sonntag geleitet. Geht jetzt und sucht den Schlaf zu finden. Mit dem frühesten müßt ihr in Grieth sein. Bei der hohen Wandlung gedenket meiner. So ist mir und euch allen geholfen.«

»Tun wir, wollen wir, und wenn es erlaubt ist zu reden ...«

Strückerjans wälzte ernste Gedanken vor sich hin.

Er schob sich näher heran, legte die Hände zusammen und schurfelte etliche Male die gelben Biberzähne gegeneinander.

»Madam, wir gläubigen Menschen, die wir hier stehen, vom ersten Vorarbeiter bis zum dämlichsten Hütejungen, von der Mamsell bis zu's Viehmädchen Bellecke Kunders herunter, wir bedanken uns vielmals – erstens für die erwiesene Noblesse und Heilige Christ-Bonität, dann zweitens für die bekömmlichen Worte, die uns justemang so erschienen, als hätten wir sie in der Handpostille gelesen. Madam, was Ihr sagtet, ist aus echtem Silber verfertigt. Wir selber haben das längst und schon immerst empfunden, denn alle, die wir hier zum Knollenkamp schwören, vertreten die Ansicht: nur im Gottesgnadentum liegt der Fundamentus eines christkatholischen Hauses und der eines richtig gehenden niederrheinischen Hofes begründet. Nur im angestammten Blut kann er weiter bestehen, nur in regulärer Erbfolge sich als Ganzes benehmen. Für alles Fremdartige, für Einschleicher und solche, die sich kommod die Pfeife ins Maul stoppen und andermanns Schweiß und Arbeit verprassen, müssen wir uns vielmals bedanken. Wer dagegen spricht, ist ein Arglistiger oder leichtfertiger Prahler. Revolutzer bilden keine ersprießlichen und treibenden Kräfte. Höchstens Verwirrung, nackte Verpowerung und Weibergemeinschaft. Ich meine: jeder von uns hat seine Mankemangs und Unebenheiten. Auch die Könige. Aber sie sind Könige, und es bleibt doch ein Edles und Hohes, sich unter ihre Fahne zu stellen. Immerst die Fahne voran. Darin liegt Einheit und Stärke. Auch Ihr seid berufen. Nehmt auch Ihr diese Fahne. In Euern Händen allein und in denen, die Ihr hierzu bestimmt, kann sich das Regententum glorreich entfalten, so daß Menschen und Vieh mit Freuden dabei sind und die Acker mit Wohlbehagen ihre Schuldigkeit leisten. Nur – Ihr habt für den Erben zu sorgen, für rechtlichen Nachwuchs, sonst kann es immerst passieren, daß schmutzige Finger Euch den Schemel unter den Füßen und die Krone vom Haupt nehmen. Da aber sei Gott vor! und Gott wird es wollen, daß einer daher kommt, um Euch in seiner Herrlichkeit das Opfer zu bringen, als wäre es ein Weizenfeld in seinem Rauch und seiner ersten Blüte. Wir aber ... Madam, es soll denn ein Wort sein: wir beten für Euch ... und wenn die Munstranz in die Kirche sich hebt: wir knien und empfohlen Anna Donsbrügge, was unsere Herrin vorstellt, dem himmlischen Vater, und lobpreisen ihr Regententum, was ihr Zepter bedeutet. Aber Kinder, jetzt satt und genug. Nu kommt man. Die Madam will allein sein. So, und bei's Abgehen singen wir noch die beiden letzten Strophen von's liebe Christkind, auf daß wir uns nochmals bedanken. Achtung! eins ... zwei ...« und während sie das erleuchtete Zimmer verließen, über den Flur gingen und in den Hof hinaustraten, ertönte es von zutunlichen Männer-, Weiber- und Kinderstimmen, aber die des alten Strückerjans überholte sie alle:

»Da beugte Herr Joseph getröstet das Knie:
Gott segne das Knäblein und dich, Marie –
Ohe, cum jubilo!

Für alle nun betet das himmlische Kind,
Für alle, die guten Willens sind –
Ohe, cum jubilo!«

Erst jenseits der großen Scheune verlor sich das Psalmodieren.

Ganz allmählich ebbte das Leben auf dem Knollenkamp zurück. An gewöhnlichen Wintertagen suchte man gegen neun die Kammern auf, um für den anderen Morgen rüstig zu sein, heute schon eine Stunde vorzeitiger, denn bereits mit dem ersten Hahnenschrei, so gegen drei herum, wurde in Grieth das Glockenzeichen für die Weihnachtsmesse gegeben.

O du geweihte Botschaft, o ihr seligen Engelsstimmen aus dem Himmelreich!

Nur dann und wann hörte man noch ein fröhliches Lachen hinter den klaren Fenstern, das dumpfe Muhen der Kühe und das sanfte, wehmütige Blöken der Schafe. Dann verstummte auch dieses.

Der Mond stand hoch im Blauen.

Auf dem mittelsten Giebel des Herrenhauses saß ein Schleierkauz.

Von Zeit zu Zeit strich er ab. Weichen und geräuschlosen Fluges schaukelte er um Scheunen und Ställe, ein graues Federspiel, von unsichtbaren Händen auf und nieder geworfen.

Jenseits des Leedeiches stampfte und schlingerte der Rhein.

Auf dem Strom trieben Schollen bei Schollen.

Sie wetzten sich gegeneinander und sangen auch ihrerseits ein geheimnisvolles Weihnachtslied durch die Nacht voller Wunder und Offenbarungen.

Wer mußte da nicht die Hände falten?!

Bei Strückerjans, der noch eine Stunde lang den freudenreichen Rosenkranz gebetet hatte, erlosch zuerst die kleine Lampe.

Die übrigen folgten.

Ein Fenster nach dem anderen machte die Augen zu.

Kurz nach acht warm alle Lichter ausgeblasen.

Nur aus dem Herrenhaus drang noch ein abgesondertes Scheinen.

Es kam aus dem zur ebenen Erde gelegenen Zimmer, wo Anna Donsbrügge immer die letzten Stunden des Abends verbrachte.

Bald darauf verwischten es dunkle Läden, so daß auch hier alles abgestorben und verödet erschien, und doch schlug ein heißes Herz hinter den Blenden, das sich in seiner eigenen Sehnsucht verzehrte, harrte eine arme Seele der kommenden Stunde, eine große Seele, die hart an der Sünde vorbei mußte, um das wundertätige Land der Verheißung zu finden.

Alte Kupfer in verblichenen Goldrahmen hingen an den Winden, Schildereien aus dem Leben und Martyrium der Heiligen und von Ereignissen aus der biblischen Geschichte.

Die Türe des Nebengemaches stand offen.

Die dort herrschende Dämmerhelle ließ nur wenig erkennen: ein schlichtes Bett mit weißen Gardinen verhangen, einzelne Stühle, eine Kommode aus Kirschbaumholz, über dem gespreiteten Lager eine Madonna aus Gips, darunter ein brennender Docht, der an das sanfte Flämmern eines ewigen Lichtes erinnerte.

Von jenseits des Flures tönte matt und gedämpft der Perpendikel der großen Standuhr herüber. Dann ein hörbares Rucksen, und die schlichte Weise, ›Wilhelmus von Nassauen‹ ließ sich vernehmen. Neun einzelne Schläge reihten sich hart aneinander.

Das ganze Haus schlief bereits.

Nur sie wachte allein noch.

Das warme Blinken eines Kaminfeuers spreitete sich behaglich über die Dielen.

In diesem warmen Schein saß Anna Donsbrügge, noch in der nämlichen Tracht, in der sie ihr Gesinde beschert hatte, in der Tracht ihres Landes: im dunkeln Beiderwandrock, das bunte Fürtuch mit den seidenen Fransen umgeschlagen, mit schweren Ohrgehängen und das silberne Kettchen um den weißen Nacken geschlungen.

Nur die geklöppelte Haube fehlte.

Ihr Kopf schmerzte; sie hatte sie ablegen müssen.

Sie gab sich einer Betäubung hin, die Ruhe spendet, ohne Heilung zu bringen. Sie lebte in Reliquien, in Bildern, gedachte der Gegenwart und suchte den kommenden Tagen ein Licht abzugewinnen. Ihr Geist schweifte ab, und doch sah sie alles mit entsetzlicher Klarheit. Ihr Leben durfte nicht ohne Zweck und Inhalt zerfließen. Sie erinnerte sich jedes einzelnen Wortes, das sie in ihrem Schreiben an die drei Getreuen niedergelegt hatte. Sankt Thomas-Abend war vorübergegangen. Sie hatte bis dahin die Tage gezählt, die einzelnen Stunden. Nichts entging ihr, nicht das Geringste. Sie durchlebte den Augenblick mit, wo sie zusammentraten und den versiegelten Schriftsatz erbrachen. Sie sah das Verstörte in ihnen, das Zittern der Hände. Sie vernahm das Pochen von Herzen, die ihr in Liebe zugetan waren. O diese Stille, diese Stunden der Andacht, und doch dieses Quälen und Sorgen! Die drei waren wissend geworden, und sie bereit, ihr Versprechen einzulösen, die Folgen zu tragen. Sie war keinem Rechenschaft schuldig, war gefeit gegen jeden niedrigen Anwurf. Ein reines Weib schreitet immer durch Reinheit, selbst dann, wenn es gezwungen ist, das Kleid der Sünde zu streifen. Und hier, wo sie fußte, war ihr Eigen und Erbe, ihr Angestammtes, ihr Unveräußerliches. Für das hatte sie durch Mannesliebe und Mutterschaft zu kämpfen, durch die Kraft ihres Willens und die ihres rauschenden Blutes. Sie gedachte des alten Schäfers. In seiner Darbringung war er ihr fast übernatürlich erschienen, wie vom Himmel gekommen. Sie sah ihn noch vor sich stehen, mit dem knochenharten Gesicht, den gelben Zähnen, den einwärts gekehrten Augen, die dennoch wie Signalfeuer brannten. Sie hörte ihn reden. Seine ausgetrocknete Stimme klang ihr seherisch zu. Sie ähnelt der eines Mannes, dem Gott die Gabe verliehen, aus dem Born der Erkenntnis zu schöpfen. Und also redete sie: »Madam, was Ihr sagtet, ist aus echtem Silber verfertigt. Wir selber haben das längst und schon immerst empfunden, denn alle, die wir hier zum Knollenkamp schwören, vertreten die Ansicht: nur im Gottesgnadentum liegt der Fundamentus eines christlichen Hauses und der eines richtig gehenden niederrheinischen Hofes begründet. Nur im angestammten Blut kann er weiter bestehen, nur in regulärer Erbfolge sich als Ganzes benehmen. Immerst die Fahne voran. Auch Ihr seid berufen, diese Fahne zu tragen. Nur – Ihr habt für den Erben zu sorgen,« und sie kam sich vor wie ein blühendes Kornfeld in laulicher Sommernacht, das der Befruchtung harrte und erschauerte unter der Berührung von Goldstaub und sich wiegenden Sporen. Das große Sehnen und Suchen nach den Dämmerungen seligen Wissens schlich sich an sie. O dieses Wissen! Die Schwingungen einer trunkenen Frauenseele gingen über sie fort. Das Verlangen nach der Umarmung des Mannes war in ihr, erfüllte ihre Augen mit Glanz, ließ sie einen Namen stammeln, der sie bis in die tiefste Tiefe erregte. Wenn der rechte doch käme! Wenn doch das hehre Wunder geschähe! Sie hatte nur einen Wunsch, nur einen Gedanken, nur einen einzigen Willen: Mutter zu werden und in voller Mutterschaft als freies Weib über freien Grund und Boden zu schreiten, im Schatten dessen, der sie umarmt und gesegnet hatte. Ja, Mutter zu werden ... und wenn sie darüber das Leben verlöre.

Sie hatte das Gefühl: ein eiserner Ring legt sich um deine Brust.

Die sonst so weichen Linien ihres Mundes verhärteten sich.

Sie erwachte aus ihrer Betäubung, die Ruhe spendete, ohne Heilung zu bringen.

Mit halbgeschlossenen Wimpern sah sie zur Rechten.

Durch einen Spalt in der vorgelegten Blende fiel ein kleines Stück der Winternacht in das schweigsame Zimmer, silberig, kaum sichtbar und doch schillernd wie ein großer Opaltropfen, wie ein vorwurfsvolles Auge, das sich langsam erweiterte.

Aus dem Nebengemach knisterte der Docht des ewigen Lichtchens herüber.

Das beunruhigte sie nicht, aber der schillernde Opaltropfen, das vorwurfsvolle Auge beunruhigte sie.

Da erhob sie sich und drückte den silbernen Spalt zu.

Hierauf trat sie vor den Spiegel, um ihr gelockertes Haar aufs neue zu ordnen.

Die blanke Fläche gab ihr Antlitz strahlend zurück.

Ihr Blick war unsicher, schien in unabsehbare Fernen zu gleiten, verdunkelte sich, begann sich mit Tränen zu füllen, unvermittelt, als empörte sich ihr Gewissen dagegen, das zu billigen, was das Weib in ihr und die rauhe Wirklichkeit von ihr begehrte. Aber gefestigt in sich, besiegte sie die Scham und alle Bedenken.

»So gehe hin,« sagte sie in sich hinein, »und iß dein Brot mit Freuden, trink' deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Werk gefällt Gott. Hof und Haus über alles. Sonst wäre mein Leben ein verfehltes und würde im Sande zerrinnen.«

Sie streckte sich auf.

»Nichts von Entweihung,« sagte sie mit umschleierter Stimme.

Sie löste ihr Haar, ihr stammendes, braunrotes Haar, bändigte es, strahlte es aus und legte es als mächtige Flechtenkrone um Stirn und Schläfen.

Das Licht der Spiegelkerzen verfing sich darin, machte sie schön und schmückte sie wie eine Heißbegehrende, die des geliebten Mannes harrte, seine Schritte zählte, im Geiste seine einzelnen Atemzüge verfolgte.

Aus ihren halbgeschlossenen Lidern drang ein grünlicher Schein, so dünn wie ein Seidenfaden.

Sie bewunderte sich, wie ein Kind die Sterne des Himmels bewundert.

Sie fand kein Arg darin, nichts Unnatürliches, nichts, was ihre Unschuld abwegig machen konnte.

Nur das heiße, verlangende Leben bewegte sie.

Das hieß sie bitten und flehen: »Worauf wartest du noch? Frage nicht lange. Ich bin dir verpflichtet. Du weißt noch nicht wie schön ich bin, wie ich Sehnsucht trage, Blut von deinem Blut zu empfangen. Ach, wenn der rechte doch käme! Wenn doch das große Wunder geschähe!«

Und ersehnenswert war diese Anna Donsbrügge, dieses niederrheinische Weib in der Fülle der Kraft, unberührt in Gedanken, Worten und Werken, herb und abweisend, der braunen Scholle ähnlich, die sich langsam und ernst aus der Niederung gegen die breiten Flanken der Rheindeiche anwellt, und doch so weich und samtartig wie eben dieselbe Scholle, wenn sie unter dem Blust des Sommerwindes gleich einer Opferschale dampft und raucht.

Während sie die Haarkrone ordnete, zählte sie die Minuten, die Viertelstunden.

Sie achtete auf den fernen Gang der altmodischen Kastenuhr, als müßte sie die einzelnen Schritte des Geschickes belauschen.

Endlich war sie fertig geworden.

Sie atmete auf.

Ihr Herz wurde freier, die Pulse ruhiger. Alles um sie her war von Liebe erfüllt.

Sie ging zur Türe, öffnete leise und horchte auf die Gänge hinaus.

Nichts ließ sich hören.

Es war totenstill in der Christnacht.

Keine Sterbenssilbe ringsum, kein Hauch, nicht das feinste Geriesel eines fallenden Sandkorns.

Noch war ein Zaudern und Zögern in ihr. Dann aber: zielbewußt trat sie auf den Flur, schob den Riegel an der Haustür zurück und wandte sich aufs neue ihrem Gemach zu.

Erhobenen Hauptes ging sie über die Schwelle.

Das Schweigen hielt an.

Ein Gedanke beherrschte sie plötzlich: »Wenn er nicht käme, wenn sich die pflichtige Abmachung zerschlüge, was sollte dann werden?«

Sie wies diese Eingebung von sich ... als etwas Unmögliches, Sündhaftes, als gegen Treue und Glauben verstoßend.

Ihr Herz krampfte sich zusammen.

Sie fühlte sich allein auf der Welt, nur umgeben von Schatten.

Aber ihr Auge war feucht und sanft geworden, wie von Tränen umschleiert.

Unbekümmert um das Wallen ihres Blutes, das wieder rascher und stürmischer rauschte, begann sie aufs neue die Sekunden und Minuten zu zählen.

Ruit hora.

Abermals war eine Stunde vergangen.

Zehn Uhr.

Da zuckte sie auf wie unter einer unangenehmen Berührung, trat einige Schritte vor und schlug die Fensterblenden zurück.

Sie sah in eine kalte, weiße Nacht, und diese Nacht war von einer Leichenstarre, von der Farbe des Todes.

Empfindlich spürte sie die unbarmherzigen Finger, den spitzen Odem, aber sie fühlte auch: die Lichtwelle, die ihrem Zimmer entströmte, legte sich warm und einladend über die frierende Öde da draußen. Herrisch drang sie vor, über Hof und Grasgarten, über abgestorbene Acker und Wiesen, bis weit ins Binnenland hinein.

Der Strahl stand wie angefesselt.

Er schien ohne Anfang und Ende, ohne Bewegung und Wechsel.

Fünf bange und lange Minuten ließ die vom Knollenkamp die Helle gewähren.

Dann schloß sie die Läden.

Sie war wieder mit dem Licht allein in der Stube, allein mit ihrem Harren und Bangen.

Das Signal war gegeben.

Das Weitere blieb der Vorsehung und dem Geschick überlassen.

Hochaufgerichtet saß sie im Lehnstuhl, zu ihren Füßen den roten Schein des Kaminfeuers, mit gefalteten Händen, den Kopf etwas zurückgelehnt, als wenn ihr geboten wäre, auf kommende Stimmen zu lauschen, eine Harrende, die sich danach sehnte, Glocken von den Bergen herunter zu hören und keine, die den dumpfigen Tälern entstammten: Glocken der Verheißung, der Freude.

Ein Knistern war um sie: das von den Holzscheiten und das von den Kerzen, die zu seiten des Spiegels leuchteten und mit verhaltenem Klingen ihr überschüssiges Wachs auf die Messingschalen tropfen ließen.

In dieses Knistern und Tönen mischten sich Schritte, die draußen über den kalten Schnee gingen, bald zögerten, um sich gleich darauf wieder in Bewegung zu setzen.

Dann kamen sie näher.

Ihr schwinden die Sinne.

Sie will sich erheben, allein ihre Kräfte versagen. Eine unüberwindliche Faust hält sie nieder. Endlich gelingt's ihr, diese Faust von sich zu stoßen. Sie reißt sich auf. Alles Gegenständliche verschwimmt in einem undurchdringlichen Nebel, den nur noch rasche Funken durchirren. Ihr wird so leicht, als wären ihre Schwingen gewachsen. Sie eilt einer weißen Linie zu, die den Horizont abgrenzt. Mit beschleunigter Hast. Sie will sich selber entfliehen. Die Linie dehnt sich, verstärkt sich nach Höhe und Breite, wird golden, sprüht Myriaden von Perlen ... und in diesem Perlenregen ein schwarzgekleidetes Weib, eine stille Frau, und ihren Augen entströmen Perlen, nur Perlen ... heiße Perlen ... ihre eigenen Tränen ...

Mit einem wehen Laut hebt sie die Hände.

Und dann ein Sprechen, ein Flüstern ...

»Mein Gott, diese Stimme!«

Ohne nur den Kopf zu wenden, wußte sie, wer sie aufgesucht hatte.

Totenbleich war sie in die Höhe gefahren.

Glut und Frost schüttelten sie.

»Ewert – du bist es?!«

Sie wankte.

Eine unsichtbare Gewalt drückte sie in den Sessel zurück.

Die Ringe um ihre Augen waren dunkler und tiefer, ihr Antlitz grau wie Asche geworden.

»Ewert – du?!«

Ihr Inneres sträubte sich gegen den bloßen Gedanken einer Berührung.

Aber er lag schon zu ihren Füßen.

»Ja – du, ich bin es. Mich bestimmte das Los. O du ... du ... du ..!«

Ein Taumel brandete über ihn hin. Den Kopf in ihrem Schoß, begann er zu stammeln: unklare Worte, verzweifelte Sätze, die sich in einer wirren Flucht von Gedanken verloren. Er sprach von der Zukunft. Von ihrem und seinem Geschick. Wie er gekommen, das Heil zu erringen und dieses Heil durch eine Welt von Neidern und Anfechtern zu tragen, ohne Zagen und Furcht, siegreich, entschlossen, bis zu einem seligen Ende. Seine Worte überstürzten sich, hoben sich auf, fielen zurück, flügellahm, ermattet, um irgendwo in den Falten ihres Kleides zu sterben. Der ganze Mann, sonst in sich gefestet und kalt wie der eisige Hauch, der jetzt den starren Reichswald durchzitterte, erschauerte vor der Majestät des Weibes, von dem Duft, der ihrem Körper entströmte. Sein Blut war in Wallung. Mit scheuen Händen umfaßte er sie, kletterte an ihrem Leibe empor, klomm höher und höher ...

Seine Augen flehten.

»O, daß ich dich habe!«

»Mein Gott, mein Gott!« stöhnte sie auf.

Sie sah, wie er litt.

Sie hatte Mitleid mit ihm.

Ihre weißen Finger legten sich auf seine Schultern, ängstlich, mit der hastigen Scheu einer Verstörten.

Sie beugte sich vor.

Mit kalten Lippen berührte sie seine brennende Stirne.

»Ewert ...!«

Er warf den Kopf in den Nacken.

»O, daß ich hier bleiben könnte! bei dir ... Seite an Seite ... Ich weiß nicht, ob ich dich morgen noch finde.«

Sie schwieg. Ihre Augen erschlossen sich maßlos.

»Du – es geht um mein Leben!«

Auch jetzt keine Antwort. Nur ein wehes Schaudern und Lächeln.

Bestürzt sah er sie an.

»Irre ich mich?« fragte er stockend, als wenn ihm das Wort im Munde erfröre. »Es ist doch die Stunde, die du gebotest ... oder aber: bin ich dir ungelegen gekommen?«

»Du – mir ...?!«

Sie wand sich aus seiner Umarmung, erhob sich, zog ihn mit sich empor, um in stiller Hoheit zu sagen: »Nein, Ewert, du bist nicht ungelegen gekommen. Ich bin kein schwankes Rohr im Winde, kein haltloses Weib, das heute nach diesem verlangt und morgen nach anderm gelüstet. Es war nur eine Müdigkeit, die sich meiner bemächtigte. Sie ist überwunden, in Kraft der Vorsehung und meines eigenen Willens. Gedulde dich nur. Ich irre nicht ab. Mag die Welt mich darüber verklagen – in meinem Herzen fühle ich eine heilsame Wärme. Verstehe mich richtig. Was ich gelobte, dem wird nicht die Zunge aus dem Munde geschält. Von damals bis heute ist mir jedes Geschehen wie ein Tag. Alles wurde mit Überlegung gedacht und niedergeschrieben

... und in treue Hände gegeben. Auch in dieser Stunde soll es Zeugnis ablegen. An nichts wird es mangeln. Ich weiß, was ich schulde ... und nun bist du erschienen, um das zu empfangen, was der Satzung gemäß ist. Selig sind die, die da geben und nehmen im Herrn.«

Ihre Worte versandeten.

Er preßte sie an sich.

»Mich bestimmte das Los,« sagte er leise.

»Ich weiß es.«

Sie wandte sich und legte die Hand vor die Augen.

»Mich blenden die Kerzen,« sagte sie fröstelnd.

Da ging er hin und löschte die zuckenden Flämmchen, die zu seiten des Spiegels brannten.

Nur die Lampe verstreute noch ihr früheres Licht durch die Stube, die voller Geheimnisse war, voller Schmerzen und Leiden und voller Hoffnungen.

»So ist es besser, so leichter, das Unabweisliche mit Würde zu tragen.«

Sie maß ihn mit einem traurigen Blick.

Ein roter Schleier zog langsam heran, hüllte sie ein, dunstete wie eine blutige Scheibe, aus der ein vergrämtes Antlitz hervorsah. Und dieses Antlitz: sie wehrte es ab, sie hatte keinen Anteil daran, es war ihr für immer verloren.

Sie verschränkte die Hände.

Kaum vermochte sie sich auf den Füßen zu halten. Sie drohte in die Knie zu sinken. Aber sie hielt sich und sagte mit einer Stimme, die kaum noch etwas Lebendiges hatte: »Nein, Ewert, du bist nicht ungelegen gekommen. Unsere Stunde erfüllt sich. Es ist nichts mehr zu ändern. Verkenne mich nicht, und wenn ich auch schuldig werde – diese Schuld wird im Himmel vergeben. Ja – du, im Namen der Heiligen, im Namen dessen, an den ich glaube, jetzt und ewiglich: kein sündiges Begehren ist in mir, aber gesegnet durch dich – ich will meine heiße Lust und mein tiefstes Leid von dir haben, um später dein rechtliches Weib zu werden, mit dir des Tages Lasten und Freuden zu tragen. Ich warte darauf,« und einer Traumwandlerin gleich, begann sie damit, ihr Tuch von den Schultern zu nehmen und es beiseite zu legen.

Ihre Züge veränderten sich.

Sie wurden starr und gefühllos.

Keine Fiber zuckte in ihnen.

Sie war nicht ihr eigenes Ich mehr, nicht mehr die Hüterin ihres jungfräulichen Leibes.

Mechanisch, als wäre sie allein in der Stube, wie unter dem Zwange des Unabänderlichen stehend, gelassen und ruhig, mit kühler Erwägung und harter Selbstverständlichkeit löste sie die Heftel auf ihrer Brust, entnestelte sie Schnüre und Bänder, streifte sie das Kleid von den Schultern, ließ es niedergleiten, um mit einem wehen Laut die Arme zu breiten: »Ewert, du weißt die Bedingung ...«

»Ich weiß sie!«

Mit einem Schrei war er bei ihr, hob sie empor, preßte sie an sich – sie, das begehrte Heil seiner Tage, der Traum seiner Nächte, und trug sie, als trüge er Himmel und Erde und das Geschenk einer unermeßlichen Spanne ... und trug sie mit der Kraft eines Großen und Stillen im Lande dem verschwiegenen Licht zu, wo hinter weißen Gardinen ...

»Anna, Geliebte ...!«

Da sah er: sie war einer Sterbenden ähnlich, ihr Blick wie der eines klagenden Tieres, der einen Anflug von Abweisung und Grausamkeit hatte ... und fühlte: du bist nicht der rechte.

Und Gottes Feuer war um ihn und Gottes Erleuchtung. Aber auch Gottes Nacht und Gottes Finsternis.

Und er legte sie nieder ... und küßte ihren bleichen Mund ... und wandte sich ab ... und ging still seines Weges.

Die Luft hing voller Kristalle. Sie zermarterten ihn, aber sie taten ihm wohl und brachten ihm die grausige Erkenntnis: »Sei dankbar, wenn du auch des geliebten Weibes Lust und Liebe nicht auskosten durftest. Du bist nicht der richtige König. Ein andrer wird kommen. Dessen sei froh, denn du hättest Hand und Begehren an fremdes Eigen gelegt, wärest ein Hochverräter an der gerechten Sache geworden.«

Er nahm eine Hand voll Schnee und kühlte sich Schläfen und Augen.

Noch einmal wandte er sich und warf einen langen und wehen Blick auf die stummen Dächer und Mauern, die kein Licht und kein Leben mehr hatten.

Dann schritt er landeinwärts.

Und niemand hatte gesehen, daß er gekommen und daß er gegangen war.

Der Hof behütete sein großes und quälendes Geheimnis. Um ihn her aber säuselte die Weihnachtslegende:

»Für alle nun betet das himmlische Kind,
Für alle, die guten Willens sind –
Ohe, cum jubilo!«


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