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5.

Julie besuchte bereits seit mehreren Jahren die Volksschule. Sie gehörte zu den fleißigsten und talentvollsten Schülern und wurde von dem Lehrer wie von den Mitschülern geliebt.

Es war schon mehrmals vorgekommen, daß sich einzelne Mitschüler eines Vergehens schuldig gemacht hatten und von dem Lehrer zur Warnung für die anderen vor den Augen aller Kinder streng bestraft wurden. Bei solchen Vorfällen wurde Julie ungemein aufgeregt, und sie dankte Gott im stillen, daß sie in keiner Weise daran beteiligt war. Einmal war sie aber doch nahe daran, in eine schlimme Angelegenheit verwickelt zu werden, und das kam so:

In Breitenberg lebte ein alter Förster, der wegen eines Vergehens im Dienste von der Herrschaft entlassen worden war. Er fertigte allerlei schriftliche Arbeiten für die Leute, erteilte ihnen Rat in Prozessen, leistete Beihilfe bei Verkäufen von Grundstücken und Erbesregulierungen und erwarb sich dadurch seinen Lebensunterhalt. Der Mann hieß Wende und hatte eine Enkelin, namens Luise bei sich, die etwa zwei Jahre älter als Julie war. Dieses Mädchen suchte sich mit Julie zu befreunden, kam öfters auf die Oberförsterei, half ihrer Mitschülerin, wenn diese eine schwere Rechenaufgabe zu lösen oder einen Aufsatz anzufertigen hatte.

Julie fühlte sich zu diesem klugen Mädchen durchaus nicht hingezogen, es freute sie aber doch, daß sie jemanden hatte, der ihr bei den Arbeiten half und mit ihr in den freien Nachmittagsstunden zuweilen spielte. Frau Börner sah zwar den Umgang ihres Kindes mit Luise nicht gern, duldete ihn aber aus Mitleid und schenkte dem armen Mädchen gar manches Kleidungsstück, von Eßwaren und anderen Gaben gar nicht zu sprechen.

Luise erwies sich für die ihr erzeigten Wohltaten als sehr dankbar. Gar oft fragte sie, ob die Frau Oberförster nicht etwas für sie zu arbeiten habe. Erhielt sie einen Auftrag, so führte sie ihn pünktlich und aufs beste aus. Das freundliche Benehmen Luisens, die rührende Dankbarkeit, ihre Geschicklichkeit und Sorgfalt, mit denen sie ihre Arbeiten verrichtete, gewannen ihr nach und nach das Herz der Frau Oberförster, so daß diese den Entschluß faßte, das Mädchen in ihr Haus aufzunehmen, wenn es von der Schule entlassen sein würde.

Es war im Advent. Julchen saß im Familienzimmer und strickte ein Paar wollene Strümpfe, die sie dem Papa zu Weihnachten schenken wollte. Im Ofen knisterte das Feuer, und an der Wand bildeten die flackernden Flammen allerlei Figuren. »Wie hübsch und lustig das ist,« dachte Julchen und wollte sich mit ihrem Strickzeug zu dem Ofentürchen setzen. Da öffnete sich die Tür und Luise trat in die Stube. »Bist du ganz allein?« fragte sie, und dabei sah sie sich so um, als traue sie nicht, daß sich in diesem oder jenem Winkel jemand versteckt habe, der sie belauschen könne.

Julie versicherte, sie sei ganz allein; der Papa sei in den Wald, und die Mama sei ins Dorf gegangen.

Da griff Luise unter die Jacke, zog ein Buch hervor und sagte: »Sieh mal her!« und dabei gab sie ihrer jüngeren Spielgenossin ein wunderschönes Bilderbuch in die Hand.

Schon von dem bunten Einbande mit einem farbigen Bilde war Julchen ganz entzückt. Sie schlug das Buch auf und fand auf der einen Seite jedes Blattes ein hübsches Gedicht und auf der andern ein prächtiges Bild. Sie las ein paar Gedichte, betrachtete aufmerksam die Bilder und fand alles sehr schön.

»Gefällt dir's?« fragte Luise.

»Ja, es gefällt mir sehr,« erwiderte Julchen und behauptete, ein solch schönes Buch habe sie noch gar nicht gesehen.

»Wenn dir's gefällt, so schenk' ich es dir. Nimm's, es ist dein, aber du darfst es der Mama und dem Papa nicht sagen, daß ich es dir geschenkt habe.

Julchen hatte schon oft zu Luise geäußert, sie möchte gern ein Bilderbuch, wie sie eins in dem Schaufenster der Stadt gesehen habe.

»Aber was soll ich denn sagen, wenn ich gefragt werde, von wem ich das Buch habe?«

»Sag' nur, der Lehrer hat dir's geschenkt.«

»Ja, das wäre aber eine Lüge.«

»Ach, daraus brauchst du dir nichts zu machen.«

»Nein, lügen mag ich nicht. Unser Lehrer hat gesagt: Aus einem Lügner wird ein Dieb.«

So sehr Luise auch in ihre Spielgenossin drang, das Buch anzunehmen, Julchen blieb standhaft und ließ sich nicht dazu bewegen: ja es kam ihr vor, als sei das Buch gar nicht so schön, wie es ihr anfangs geschienen. Da nahm es Luise wieder an sich, verbot Julchen, den Eltern von dem Buche etwas zu sagen und ging nach Hause, ohne mit der Kleinen zu spielen.

Als Julie wieder allein war, wurde ihr angst. Sie fühlte, das ältere Mädchen habe sie zu etwas Bösem verleiten wollen. Auf welche Weise mochte nur Luise zu dem Buche gekommen sein? Sie und ihr Großvater hatten kein Geld, um ein solch schönes Buch kaufen zu können. Das Buch mußte teuer sein. Es reute Julie, daß sie ihre Freundin nicht gefragt hatte, wie sie zu dem Buche gekommen sei. Vielleicht hatte es ihr ein Onkel geschenkt. Das hätte sie aber doch sagen können.

Dann sprach eine Stimme zu ihr: Du hättest das Buch doch nehmen sollen; es war so schön, und was geht es dich an, von wem es Luise hat?

In der Seele des Mädchens kämpften zwei Stimmen. Die eine behauptete: du hast recht getan, daß du das Buch zurückgegeben, die andere: du hättest es doch annehmen sollen.

Nach längerem inneren Kampfe schien die zweite Stimme zu siegen. Julchen verlangte sehnlichst nach dem Buche. Wenn ihr nur jemand sagen könnte, ob sie es annehmen dürfe, ohne ein Unrecht zu begehen. Sie sann hin und her, wen sie fragen könne. Mit den Eltern über das Buch zu sprechen, das hatte ihr die Freundin verboten. Endlich kam sie auf den Gedanken, den Lehrer zu fragen. Die Gelegenheit dazu bot sich bald.

Herr Grundmann gab Julchen Unterricht im Flügelspiel. Er kam auch an diesem Tage zur gewohnten Zeit. Ehe jedoch der Unterricht begann, stellte sich die Schülerin vor ihn, sah ihn treuherzig an und sprach: »Herr Lehrer! die Luise will mir ein Buch schenken; darf ich's annehmen?«

»Was ist denn das für ein Buch?« fragte der Lehrer.

»Ein großes Buch mit vielen schönen Bildern und Gedichten.«

»Wo hat denn Luise das Buch her?«

»Das weiß ich nicht; sie hat gesagt: Wenn dich die Eltern fragen, woher du das Buch hast, so sprich nur: der Herr Lehrer hat es mir gegeben.«

»So,« entgegnete der Lehrer, »Luise will dich zur Lüge verleiten und hat Ursache, es zu verheimlichen, daß sie dir das Buch schenken will. Das ist sehr verdächtig. Unter diesen Umständen darfst du das Buch nicht annehmen.«

Jetzt war Julie froh, daß sie das Buch nicht angenommen hatte. Der Lehrer aber zeigte ein gar ernstes Gesicht. Er dachte über die Mitteilung seiner Schülerin nach, und ein schwerer Verdacht stieg in ihm auf. Die Schüler hatten ihm nämlich vor einigen Tagen Geld gebracht, damit er dafür den Bedarf an Tinte beschaffe. Dieses Geld hatte er in die Schublade des Lehrertisches gelegt und am Schlusse des Unterrichts vergessen, das Geld mit in seine Wohnung zu nehmen. Am nächsten Tage machte er die traurige Wahrnehmung, daß das Geld aus der Schublade verschwunden war. Sollte Luise die Diebin sein und von dem gestohlenen Gelde das Buch gekauft haben? Das war ein schlimmer Verdacht. Hatte er genügenden Grund dazu? Luise war zwar nach seiner Überzeugung ein leichtsinniges Mädchen, aber ein so schweres Vergehen war ihr doch kaum zuzutrauen, und doch mußte etwas geschehen, wodurch sich herausstellte, ob die Verdächtige schuldig oder unschuldig sei.

Am nächsten Tage, als die Schüler einen Aufsatz schrieben, machte sich der Lehrer in unauffälliger Weise an der Schublade des Lehrertisches zu schaffen. Während nun die Schüler ihre ganze Aufmerksamkeit ihrer Arbeit zuwandten, wurde er von Luise scharf beobachtet, und als ein Blick des Lehrers dem Blicke seiner Schülerin begegnete, wurde diese ganz rot im Gesicht.

»Da ist's nicht richtig,« sprach der Lehrer bei sich und hielt am Schlusse des Unterrichts Luise im Schulzimmer zurück. Nach einem längeren Verhör gestand das leichtsinnige Mädchen, daß es sich an fremdem Gute vergriffen und das Bilderbuch gekauft habe, um sich bei Julie und deren Eltern beliebt zu machen.

Luise erhielt ihre verdiente Strafe, und Julie war froh, daß sie nicht in die böse Angelegenheit verwickelt worden war. Von dieser Zeit an durfte sich das leichtsinnige Mädchen nicht mehr auf der Oberförsterei sehen lassen.


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