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2.

Etwa fünf Jahre waren verflossen, seit Julchen das Licht der Welt erblickt hatte. Da sprach eines Tages der Oberförster Börner zu seiner Frau: »Heute muß ich in den Mutiusgrund fahren, vor dem Abend darfst Du mich nicht erwarten. Laß den Kindern nicht zu viel Freiheit und habe besonders auf Eduard ein scharfes Auge; denn in dem Buben steckt eine große Portion Leichtsinn.«

Mit diesen Worten verabschiedete sich der Hausherr von seiner Frau, bestieg den bereitstehenden Wagen und fuhr zum Hofe hinaus. Seine Frau winkte ihm, das Taschentuch schwingend, freundliche Grüße nach. Als sie ins Wohnzimmer zurückgekehrt war, kam ihr Eduard, der etwa elf Jahre alt war, freudig entgegen gesprungen. »Mama,« sagte er, »wo fährt denn Papa hin?«

»In den Mutiusgrund,« lautete die Antwort.

»In den Mutiusgrund,« wiederholte Eduard. »O, der ist weit, weit von hier. Da kommt er erst morgen zurück.«

»O nein; er kommt noch heute abend zurück.«

»Aber doch erst spät; wenn's schon ganz finster ist?«

»Das glaub' ich nicht; er wird, denke ich, noch vor Sonnenuntergang zurück sein.«

Die Mitteilung, daß der Oberförster den ganzen Nachmittag nicht zu Hause sei, freute den Knaben ungemein. Er sprang von einem Beine auf das andere und jubelte: »O, das ist schön! Das ist schön!«

Daß sich der Knabe so freute, das hatte folgenden Grund: Der Oberförster Börner war außerordentlich peinlich in Beziehung auf die Pflege der Gesundheit. Ein großes, dreibändiges Werk von einem berühmten Arzte, dessen Namen ich leider vergessen habe, war sein gesundheitlicher Wegweiser. In diesem Werke waren alle möglichen und unmöglichen Krankheiten, ihre Ursache und ihr Verlauf beschrieben, und gegen jede Krankheit waren »unfehlbare« Mittel angegeben. Das Buch enthielt auch eine sorgfältig ausgearbeitete Anleitung über die Lebensweise des Menschen und gab Aufschluß über alles, was man zu beobachten habe, um jeder Krankheit vorzubeugen und um ein hohes Alter zu erreichen.

Herr Börner wollte zwar den Vorschriften des klugen Arztes bis aufs Pünktchen nachkommen, aber seine Frau schätzte das Werk nicht so hoch wie ihr Mann, und es kam vor, daß sie manchmal ungläubig den Kopf schüttelte, den Mund zu einem ungläubigen Lächeln verzog und geradezu behauptete, sie gäbe auf die ganze »Bücherdoktorei« nicht viel; die Menschen seien in früheren Zeiten, wo es noch nicht so viele Bücher gehabt habe wie heute, viel älter geworden.

Einmal widersetzte sie sich sogar allen Ernstes seinen Anordnungen, die er nach dem berühmten Buche treffen wollte. Er bestimmte nämlich, wieviel von den Speisen einem jeden Kinde bei den Mahlzeiten vorgelegt werden solle. Jede Portion sollte genau gemessen und abgewogen werden. Dieser hausherrlichen Anordnung widersprach aber die Oberförsterin ganz entschieden, indem sie behauptete, das sei unpraktisch und unausführbar; sie habe notwendigeres zu tun, und die Kinder sollten ruhig essen, bis sie satt seien. Sie wisse auch, was ihnen schmecke und gut bekomme ohne ein »Doktorbuch«.

Da die Hausfrau mit aller Entschiedenheit bei ihrer Ansicht beharrte, so gab Herr Börner in diesem Punkte nach, um so strenger hielt er aber darauf, daß die Kinder nie ohne seine Erlaubnis das Zimmer verließen, um sich im Freien zu beschäftigen oder zu spielen.

Die Frau Oberförster war aber auch hierin anderer Ansicht als ihr Mann. Bei dessen Abwesenheit durften sich die Kleinen im Freien tummeln ohne Rücksicht auf das Wetter. Das wußten die Kinder, und darum jubelte Eduard, als er vernahm, der Vater würde erst gegen Abend nach Hause kommen.

Vormittags besuchte Eduard die Schule. In der Frei-Viertelstunde besprach er sich mit seinem Kameraden Konrad, wie sie den schulfreien Nachmittag zubringen wollten. Dieser schlug Eduard vor, mit ihm in den Wald zu gehen: er wolle ihm ein Holztaubennest zeigen, in dem sich zwei junge Tauben befänden. Sollten diese bereits flügge sein, so könnte ja das Nest ausgenommen werden. Das gefiel Eduard, und er war mit dem Plane des Kameraden einverstanden.

Als aber Eduard die Mutter um Erlaubnis bat, in den Wald gehen zu dürfen, da wurde ihm die Bitte mit Entschiedenheit abgeschlagen. Die Frau Oberförster erklärte: »Daraus wird nichts; du könntest leicht Schaden nehmen, denn es gibt viel Kreuzottern im Walde, und da dieser ziemlich weit von hier entfernt ist, so könnte es geschehen, daß der Vater früher nach Hause käme, als er beabsichtigt. Wenn er erführe, daß du in den Wald gegangen bist, so würde er mir Vorwürfe machen. Auch sehe ich's nicht gern, daß du mit Konrad auf solch intimem Fuße stehst. Der Knabe hat manches an sich, was mir nicht gefällt. Du kannst mit Julchen im Park spielen; da hab' ich euch in der Nähe und unter meinen Augen.«

Eduard machte ein trübseliges Gesicht und schlich ins Nebenzimmer. Julchen hatte gehört, daß ihr Bruder mit ihr spielen sollte. Sie klatschte vor Freuden in die Händchen und konnte gar nicht begreifen, warum dieser ein so trauriges Gesicht mache, anstatt sich zu freuen.

Das Mädchen war dem älteren Bruder innigst zugetan. Ging er in die Schule, so begleitete sie ihn eine Strecke des Weges und war ganz stolz, wenn sie ein Buch für ihn tragen konnte. Kam er aus der Schule, so lief sie ihm entgegen, sobald sie ihn gewahrte. Bekam sie von der Mutter einen Leckerbissen, so verfehlte sie nicht, dem Bruder einen Teil davon anzubieten. Sollte Eduard wegen eines leichtsinnigen Streiches Strafe bekommen, so bat Julchen für ihn und weinte, wenn er weinte.

Als Eduard in einer Ecke des Nebenzimmers stand und in den Augen wischte, da ging Julchen zu ihm, nahm ihn bei der Hand und sprach: »Komm in den Garten. Dort hat's Erdbeeren; die sind schon reif und schmecken so gut wie Honig.«

Eduard wollte schon sein Schwesterchen barsch anfahren, als er aber von Erdbeeren hörte, da regte sich das Gelüst in ihm, das Gesicht erheiterte sich, und er sprach: »Die Beeren sind ja noch nicht reif.«

»O ja, auf meinem Beetchen sind sie schon ganz rot; komm und sieh!«

Julchen und Eduard gingen miteinander in den Garten. Der Oberförster hatte jedem Kinde ein Beetchen im Gemüsegarten angewiesen, auf dem Beerenobst und Blumen gepflanzt wurden. Jedes Kind mußte die Pflanzen auf seinem Beetchen pflegen. Er war der Ansicht, die Pflege der Blumen veredle das Gemüt und wecke den Sinn für das Schöne. Außerdem gewöhne sich dadurch das Kind an Beschäftigung und Ordnung.

Auf Julchens Beet standen einige Erdbeerpflanzen, und Eduard gewahrte zu seiner Überraschung eine Anzahl reifer Erdbeeren. Er pflückte sie, und die Kinder ließen sich die süßen Früchte recht gut schmecken. Nun war der Unmut aus dem Herzen und Gesichte des Knaben verschwunden. Er nahm das Schwesterchen bei der Hand, und sie gingen miteinander zu dem großen Sandhaufen neben der Scheuer, um zu spielen. Eduard holte ein paar Steine vom Felde und baute eine Mühle. Dann ließ Julchen aus einem Kästchen Sand herabrinnen. – Auf einer anderen Seite des Sandhaufens legten sie einen Blumengarten an. Den Zaun stellten sie aus kleinen Stäben her, die sie aus dürren Fichtenreisern brachen und in den Sand steckten. Dann teilten sie den Raum in Beete, die sie mit abgepflückten Feldblumen besteckten.

Das sah ganz hübsch aus, aber die Herrlichkeit war nur von kurzer Dauer; denn die Blumen verwelkten bald. Darüber trauerten die Spielenden aber nicht, denn ihre Phantasie hatte längst neue Pläne entworfen.

Gegen vier Uhr brachte das Küchenmädchen den Kleinen Kuchen. Sie verließen jetzt das Plätzchen am Sandhaufen, gingen in den Park und setzten sich in eine Laube, wo sie den Kuchen verzehrten. Nur ein Stückchen behielten sie übrig. Da kam Eduard auf den Gedanken, zum Teiche zu gehen und den Überrest den Fischen zuzuwerfen.

Der Gedanke wurde auch bald ausgeführt.

Am Ufer des Teiches befand sich ein kleiner Kahn, der mit einem Kettchen an einem Pfahle befestigt war. Die Kinder stiegen in den Kahn und warfen von hier aus Bröckchen ins Wasser. Die Fische schnappten darnach, und Julchen ergötzte sich sehr darüber und rief: »O, das ist schön!«

Die Karpfen wagten sich bis dicht an den Kahn. Einmal suchte Eduard einen großen Karpfen zu erhaschen, aber pfeilschnell schoß der Fisch in die Tiefe, und es fehlte nicht viel, so wäre der Knabe kopfüber ins Wasser gefallen.

Als die Bröckchen verteilt waren, wollte Julchen zur Mutter, aber Eduard sagte: »Sei doch nicht dumm! Der Papa kommt erst gegen Abend nach Hause. Da brauchen wir noch lange nicht im Zimmer zu sein. Komm, wir wollen einmal zu den Schwänen fahren!«

Mitten in dem großen Teiche fand sich nämlich eine Insel mit einem Häuschen für die Schwäne, die den Teich belebten.

Auf der Insel war Julchen noch nie gewesen. Sie hatte Joseph, den Kutscher, schon oft gebeten, sie einmal mitzunehmen, wenn er dorthin fuhr, um das Schwanenhäuschen zu reinigen; aber Joseph hatte ihr gesagt, die Nixen zögen die kleinen Kinder in die Tiefe, wenn diese dem Wasser zu nahe kämen. Er war dann immer allein zur Insel gerudert.

Julchen hätte gar zu gern gewußt, wie es auf der Insel aussähe. Sie war daher ganz glücklich, als Eduard mit ihr dorthin fahren wollte. Da fielen ihr die Nixen ein, von denen ihr Joseph erzählt hatte. Sie sagte deshalb: »Auf die Insel mag ich nicht; dort hat es Nixen; die ziehen mich ins Wasser.«

»Nixen!« sagte lachend der Knabe. »Ich bin schon oft auf der Insel gewesen, und ich habe noch keine Nixe gesehen. Joseph hat Dir nur etwas vorgeredet. Es hat erst gar keine Nixen.«

Nun fühlte sich Julchen etwas beruhigt, sagte aber: »Du kannst doch nicht rudern.«

»O, ich hab's schon oft gesehen, wie es Joseph macht,« beschwichtigte der Bube das Schwesterchen. »Wenn ich nur erst den Kahn losgemacht hätte!«

Das Loslösen war für den Knaben eine ziemlich schwierige Arbeit; nach einigen Bemühungen gelang es aber doch. Anfangs brachte Eduard den Kahn nicht von der Stelle. Nach und nach fand aber der kleine Schiffer doch den rechten Ruderschlag, und nun steuerte er frisch der Insel zu. Sein Schwesterchen hatte sich in die Mitte des Kahnes gesetzt und bewegte kein Glied, weil sie die Furcht vor den Nixen noch nicht vollständig verlassen hatte.

An der Insel angekommen, stiegen die Kinder aus dem Kahne, liefen auf das Schwanenhäuschen zu, und Eduard vergaß, das Fahrzeug an den Pfahl zu binden. Als sie das Schwanenhäuschen besichtigt hatten, schnitt Eduard eine Pfeife und Julchen suchte Blumen zu einem Strauße.

Nach einiger Zeit wollten die Kleinen wieder auf dem Kahne zurückfahren; aber siehe! – der Kahn war verschwunden. Ein sanfter Wind hatte ihn ans Ufer des Teiches getrieben und zwar genau an die Stelle, wo er gewöhnlich seinen Stand hatte.

Jetzt wurde dem Knaben angst und sein Herz klopfte stark. Julchen weinte und rief: »Ich will zur Mama!« Eduard wollte das Schwesterchen beruhigen, aber seine Bemühungen waren vergeblich, es weinte noch heftiger und sagte: »Die Nixen haben den Kahn gewiß fortgezogen.«

»Sei doch still,« sagte Eduard. »Mama wird uns suchen und von der Insel abholen lassen.« Da sich aber niemand um die Kleinen zu kümmern schien und niemand zu dem Teiche kam, schrie Eduard aus Leibeskräften: »Mama! Gertrud! Joseph!« aber es antwortete ihm niemand.

Von der Angst und vom Weinen und Schreien ermüdet, setzten sich die Kleinen in das auf der Insel befindliche Sommerhaus und schliefen ein.


Die Frau Oberförster hatte sich des Nachmittags wohl öfters nach den beiden Kindern umgesehen und als sie gewahrte, daß die Kleinen im Garten spielten, so hielt sie eine stete Aufsicht nicht für nötig. Nach vier Uhr erhielt sie Besuch von der Frau Rentamtmann und der Frau Bauinspektor, und die Kinder kamen ein wenig in Vergessenheit. Beim Abschiede wollten die Freundinnen der Frau Oberförster Julchen sehen. Da stellte es sich heraus, daß diese und Eduard aus dem Garten verschwunden waren.

Die beiden fremden Frauen entfernten sich und nun wurden der Park, der Blumengarten und alle Räume des Hauses durchsucht und nach den Kindern geforscht, aber vergeblich. Auch der Teich wurde umgangen, aber keine Spur von den Vermißten entdeckt. Das war ein gewisser Trost für die Mutter, denn sie fürchtete, die Kleinen seien ins Wasser gefallen. Nun kam man auf den Gedanken, die Kinder müßten ins Dorf gegangen sein und dort Gespielen getroffen haben. Gertrud, das Stubenmädchen, wurde deshalb beauftragt, sich im Dorfe nach den Vermißten umzusehen. Es fing bereits zu dunkeln an, da kam das Mädchen zurück und berichtete, sie sei durch's ganze Dorf gelaufen, habe überall nach den Kindern gefragt, aber kein Mensch habe sie gesehen. Sie müßten wohl auf das freie Feld oder in den Wald gegangen sein.

Ratlos stand die Mutter der Vermißten da und rang die Hände. Da vernahm man das Rollen eines Wagens; das mußte der Oberförster sein, der jetzt nach Hause kam. Richtig; da bogen die Pferde auch schon von der Dorfstraße ab.

Herr Börner erschrak, als er bemerkte, daß seine Frau, sämtliche Dienstboten und eine Anzahl fremder Leute vor der Oberförsterei standen. In ihren Mienen las er, daß etwas Unangenehmes während seiner Abwesenheit vorgefallen sei. »Ist ein Unglück passiert?« fragte er.

»Julchen und Eduard sind verschwunden,« seufzte die Frau.

»Weil sie« – nicht beaufsichtigt worden sind –, wollte er vorwurfsvoll sagen, hielt aber inne, da er die Angst und die Bestürzung seiner Frau gewahrte. Dann hob er an: »Die werden doch wieder zu finden sein.«

»Wir haben schon den ganzen Park durchsucht und gerufen, aber nirgends ist eine Spur von ihnen zu entdecken,« bemerkte die Frau Oberförster.

»Waret ihr schon auf der Insel?«

»Nein; dort können sie nicht sein,« antwortete die Frau. »Der Kahn ist nicht vom Ufer des Teiches weggekommen.«

»Nun,« sagte der Oberförster, »ehe wir weitere Nachforschungen anstellen, wollen wir doch erst einmal auf die Insel schauen: das kann heute noch geschehen.«

Nachdem Joseph die Pferde in den Stall geführt hatte, begab man sich zu dem Teiche. Da zeigte es sich, daß der Kahn frei dastand. In diesem Umstande erblickte der Oberförster die Bestätigung seines Vermutens.

Als der Oberförster und dessen Frau auf dem Kahne Platz genommen hatten, ruderte Joseph frisch auf die Insel zu. Hier fanden die Eltern die vermißten Kleinen im tiefsten Schlafe liegend. Der Knabe erwachte bald, aber Julchen gelangte erst nach längerem Rütteln zu klarem Bewußtsein.

Eduard gestand, daß er das Schwesterchen überredet habe, mit ihm auf die Insel zu fahren und bat um Verzeihung. Der Vater erteilte dem leichtsinnigen Buben eine ernste Rüge und erklärte, zur Strafe dürfe Eduard ein ganzes Jahr lang die Insel nicht betreten.

Am glücklichsten fühlte sich die Mutter, einmal, da sie ihre Kinder gesund wiedergefunden hatte und dann, weil der Oberförster rücksichtsvoll nicht ein Wort des Vorwurfs äußerte. Um so fester nahm sie sich vor, die Kinder auch beim harmlosesten Spiel nicht unbeaufsichtigt zu lassen.


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