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4.

Nach Verlauf eines Jahres konnte Julchen deutsche und lateinische Schrift fließend lesen, aus dem Buche abschreiben, auch einfache Sätzchen ziemlich richtig niederschreiben, und im Zahlenraume von 1 bis 20 rechnete sie schnell und sicher. Nun verlangte der Lehrer, daß seine Schülerin die Schule besuche und die Eltern waren einsichtsvoll genug, dem Lehrer nachzugeben. Am 1. Mai sollte der Anfang mit dem Schulbesuche gemacht werden. Das war für Julchen ein neues Ereignis. Das lernbegierige Mädchen freute sich auf den Schulbesuch, und am letzten April verkündete sie allen Hausgenossen, von den Eltern angefangen bis herab zum Dachsel und Miezekätzchen: »Morgen geh' ich in die Schule.«

Am 1. Mai früh um sechs Uhr stand Julchen in einem blauen Kleidchen, das Haar in Locken herabfallend, die Schultasche auf dem Rücken vor der Haustür der Oberförsterei, die Mama erwartend, die sie zur Schule führen wollte.

Der Umstand, daß Julchen auch in der Schule von dem Lehrer Grundmann unterrichtet werden sollte, trug wesentlich dazu bei, daß sie sich vor dem Schulegehen nicht im geringsten fürchtete. Die Schule machte aber doch einen besonderen Eindruck auf die neue Schülerin. In dem Schulzimmer mit den weißgetünchten Wänden, den Bildern des Königs und der Königin, den Landkarten und Abbildungen von Tieren und Pflanzen, sah es doch ganz anders aus, als in der Familienstube der Oberförsterei. Mitten im Schulzimmer standen viele Bänke, und diese füllten sich bis auf den letzten Platz. Einige Mädchen trugen ganz verschlissene, dünne Röckchen, die der neuen Schülerin gar nicht gefielen. Sie hatte inniges Mitleid mit ihren armen Mitschülerinnen und nahm sich vor, die Mama zu bitten, ihnen bessere Kleidchen zu kaufen.

Vom Lehrer erhielt Julchen ihren Platz auf der ersten Bank angewiesen neben einem sehr talentvollen und fleißigen Mädchen, namens Martha Stein, dessen Vater ein Zimmermann war.

Als die Uhr sieben schlug, erhoben sich auf ein Zeichen des Lehrers alle Kinder, richteten ihren Blick auf das Kruzifix, falteten die Hände und beteten laut das Vaterunser. Das gemeinschaftliche Gebet machte auf Julchen einen tiefen Eindruck. Es kam ihr vor, als müsse der liebe Gott eine ganz besondere Freude daran haben, da so viele Kinder so innig und so ehrerbietig beteten.

Nach dem Gebete sangen die Kinder: »Aus dem Himmel ferne« usw. Ach, wie gern hätte Julie mitgesungen, aber singen hatte sie zu Hause nicht gelernt. Wie gut war es, daß sie in die Schule gehen durfte; hier würde sie bald wie die anderen Kinder singen lernen. Dann wollte sie mit den Vögeln im Garten Wette singen.

Als das Liedchen verklungen war, trat der Herr Pfarrer in das Schulzimmer; alle Kinder erhoben sich und grüßten ehrerbietig. Der Herr Pfarrer sprach von der Allmacht, der Allgegenwart und Allwissenheit Gottes und erzählte dabei allerlei kleine Geschichten aus der Heiligen Schrift und aus dem Leben, und die Kinder hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

Der Religionsstunde folgte Rechnen. In diesem Unterrichtsgegenstande war Julchen allen ihren Mitschülern weit voraus. Die Aufgaben kamen ihr gar zu leicht vor. Als der Lehrer dies merkte, sagte er: »Julchen, Geduld! Du wirst bald schwierigere Aufgaben bekommen. Es hat Schwache, die auch mit wollen; denen dürfen wir nicht davonlaufen.« Da der Lehrer das Helfersystem benützte, so fand Julchen Gelegenheit, den Schwachen nachzuhelfen, was ihr große Freude bereitete.

Nach der Rechenstunde trat eine viertelstündige Pause ein. Paarweise gingen die Kinder hinaus, um auf dem ebenen Platze vor dem Schulhause frische Luft zu schöpfen und zu spielen. Einige hatten fette Butterschnitten, die sie verspeisten. Auch Julchen war reichlich damit versehen, aber sie hatte keinen Hunger. Die Mitschülerinnen hielten sich ziemlich entfernt von ihr, blickten sie als einen Neuling scheu an und wagten nicht, sie zum Spiele aufzufordern, denn sie trug schönere Kleider als alle anderen.

Da hielt Julie ihre Butterschnitten hoch und rief: »Wer mag?« Die andern Kinder meinten, das »herrische« Kind mache bloß Spaß. Es meldete sich deshalb kein einziger Liebhaber für die Schnitten, obgleich alle danach verlangten. – Julchen aber rief nochmals: »Wer mag?« und fügte hinzu: »Ich habe gar keinen Hunger.«

Nun meldeten sich drei Mädchen. – Julchen verteilte die Schnitten unter sie, und die Kleinen ließen sich das schöne weiße Butterbrot vortrefflich schmecken. Darauf faßte die neue Schülerin ihre Nachbarin Martha an der Hand und sprach: »Jetzt wollen wir Schlange ziehen!« Viele Mädchen schlossen sich zutraulich an, und ehe die Pause zu Ende ging, war Julchen der Liebling ihrer Mitschülerinnen.

Das freute den Lehrer außerordentlich; denn er hatte befürchtet, seine Privatschülerin würde sich mit den anderen Mädchen nicht so, wie er es wünschte, vertragen, ja sie würde, als die Tochter eines höheren Beamten, stolz auf die armen Kinder herabblicken.

Nach der Pause stellten sich die Kinder wieder paarweise auf und marschierten in Reihe und Glied wie Soldaten zurück ins Schulzimmer. Julchen war erstaunt, daß sich alles so still und ordnungsmäßig vollziehen könne.

In der dritten Stunde wurde gelesen und in der vierten mußten die Kinder aufschreiben, was sie in der Schulstube sahen. Mit einem Liede und gemeinschaftlichen Gebete schloß der erste Schultag.

Als Julchen nach Hause kam, gab es viel zu erzählen von dem Herrn Pfarrer, von dem Lehrer und den vielen Kindern, wie lieb und gut sie alle zu ihr gewesen seien.

»In der Schule muß man mäuschenstill sein,« sagte sie, »sonst muß man gleich heraustreten.«

»Das ist gut,« bemerkte die Frau Oberförster. »Wenn jedes Kind schwätzen dürfte, so würden ja die Kinder den Lehrer nicht verstehen und nichts lernen.«

Zuletzt dachte Julchen auch an die ärmlich gekleideten Mitschülerinnen, und sie bettelte: »Mama, darf ich ihnen etwas aus meiner Sparbüchse schenken, daß sie sich hübschere Kleider kaufen können?«

»Wir wollen sehen, was sich tun läßt,« erwiderte die Frau und freute sich über das gute Herz ihres Töchterchens.

Am nächsten Tage wollte Julchen allein in die Schule gehen. »Ich weiß ganz gut den Weg,« sagte sie, »und die andern Kinder gehen auch allein.« Ihr Bruder Eduard besuchte bereits das Gymnasium und konnte die Schwester nicht begleiten. – Der Oberförster wollte, daß das Kind von einem Dienstmädchen in die Schule geführt würde, aber die Frau meinte, es sei nicht gut, wenn die Kinder verhätschelt und vertätschelt würden; sie verließen sich dann zu sehr auf andere und gelangten nie zu dem nötigen Selbstvertrauen. Wer führe denn die Kinder der Bauern und der armen Leute in die Schule? Also machte sich Julchen mit der Schultasche auf dem Rücken und einer Butterschnitte in der Hand wohlgemut auf den Weg zur Schule, und Frau Börner ging ihrer häuslichen Beschäftigung nach. Kaum war sie jedoch in die Küche getreten, da vernahm sie einen durchdringenden Schrei vom Dorfe her.

»Das ist Julchen; mein Gott, was ist ihr denn geschehen?« Mit diesem Ausrufe stürzte die erschrockene Mutter aus der Küche, um ihrem Kinde beizustehen.

An der Stelle, wo der Weg in die Dorfstraße mündet, kam ihr Julchen mit beschmutzten Händen und blutendem Gesicht entgegen und hinter ihr Gustav, des Forstsekretärs Söhnchen, mit einer mächtigen Gerte in der Hand. Frau Oberförster erfuhr nun, daß ihr Töchterchen unter eine Herde Gänse geraten und von diesen angefallen worden sei. Da sei ihr Gustav zu Hilfe gekommen und habe die Gänse mit einer Gerte vertrieben.

Die Mutter nahm ihr Töchterchen mit ins Haus, wusch ihm Hände und Gesicht, und nachdem sie sich überzeugt hatte, daß es keinen schweren Schaden genommen, schickte sie es in Begleitung Gustavs zur Schule.

Julchen aber fing zu weinen an und bat: »Darf ich nicht zu Hause bleiben?«

Die Mutter aber sprach ihr liebreich zu: »Ach, geh nur, mein Kind! Du könntest leicht etwas wichtiges versäumen, und es würde dem Lehrer gewiß nicht lieb sein, wenn du schon am zweiten Schultage fehltest. Gustav wird dich begleiten.«

Nun stapften die beiden Kinder wacker der Schule zu, Gustav, siegesbewußt die Gerte schwingend, Julchen, sich ängstlich nach den bösen Gänsen umsehend.

Es war wirklich gut, daß Julchen an diesem Tage nicht zu Hause geblieben war, denn der Lehrer übte das Liedchen mit den Kindern ein: »Bäuerlein, Bäuerlein tick, tick, tack, hast einen großen Habersack,« das Julchen überaus gefiel.

Von diesem Tage ab versäumte Gustav nie, die kleine Mitschülerin auf dem Schulwege zu begleiten und zu beschützen.


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