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Der Mai des Jahres 1820 war ein wirklicher Wonnemonat. Die Erde prangte im Festgewande, die Vögel in Gärten und Wäldern, auf Fluren und Feldern.
Im Hause des Oberförsters Börner zu Breitendorf in den schlesischen Bergen schien niemand auf die Herrlichkeit in der Natur zu achten. Da gingen Frauen geschäftig aus und ein, und Freude strahlte aus ihren Augen. Ab und zu lief ein Dienstmädchen aus dem Gehöft ins Dorf, um irgendeinen Auftrag auszuführen. Fast atemlos kehrte es zurück, um neue Aufträge zu empfangen. An Müdigkeit war nicht zu denken; denn niemand hatte Zeit dazu, und die allgemeine Freude verscheuchte den Mißmut und stärkte nicht bloß den guten Willen, sondern auch des Leibes Glieder.
Eine neue Weltbürgerin war vor einigen Tagen angekommen und hatte in üblicher Weise jedem Dienstboten etwas mitgebracht: dem Kutscher Johann ein Stück braunen Samt zu einer Weste, der Köchin Bertha eine schöne silberne Uhr, den beiden Dienstmädchen Stoff zu neuen Kleidern, die sie recht gut gebrauchen konnten. Niemand war leer ausgegangen. Da gab es frohe Herzen und helle Augen, willige Hände und flinke Füße. Heute, am 22. Mai, sollte das Kindlein die Taufe empfangen und nach dieser heiligen Handlung ein Festessen für die Paten und einige Freunde der Familie veranstaltet werden.
Der Oberförster, ein Mann von gedrungenem Körperbau, mochte in der Mitte der dreißiger Jahre stehen. Er trug einen Vollbart und aus seinen großen, blauen Augen leuchtete die Vaterfreude. Zwar begab er sich in sein Arbeitszimmer, aber es war ihm nicht möglich, die Listen und eingelaufenen Schriftstücke mit Ruhe durchzusehen und zu prüfen. Er verließ daher die Schreibstube wieder und ging bald in dieses, bald in jenes Zimmer, in die Küche, in den Hof, um nachzusehen, ob etwas fehle, anzuordnen oder zu verbessern sei. Das Regiment in der Küche führte Bertha, eine Köchin, auf die man sich in jeder Beziehung verlassen konnte. Doch auch dieser rief der Hausherr zu: »Bertha, sorgen Sie dafür, daß die Gäste mit Ihnen zufrieden sind! Heute darf nicht gespart werden.«
Bertha machte eine Miene, die zu sagen schien, diese Mahnung sei höchst überflüssig; sie werde schon dafür sorgen, daß man mit der Köchin zufrieden sei.
In einem ruhigen, vom Gesellschafts- und Speisesaale etwas entfernten Zimmer befand sich die Wöchnerin, und in einer Truhe neben ihrem Bett lag das Baby. Unverwandt blickte dieses mit seinen klaren Blauaugen hinauf zur Decke, als wolle es in den Sternen lesen, was diese über sein zukünftiges Geschick zu sagen hätten.
Trotzdem die Wöchnerin noch sehr schwach war, ordnete sie bald dieses, bald jenes an und ließ sich von der Wärterin Bericht erstatten, ob man alles nach ihrem Wunsche und Willen ausgeführt habe. Von Zeit zu Zeit kam auch der Oberförster in das stille Zimmerchen, erkundigte sich nach dem Befinden der Wöchnerin, teilte ihr mit, welche Anordnungen er getroffen habe und fragte nach ihrem Urteile. Dabei fiel sein Blick auf das Kindlein in der Truhe, und er konnte nicht vorübergehen, ohne einen Kuß auf die Stirn oder die Händchen des kleinen Menschenkindes zu drücken.
Die Uhr schlug zehn. Da sprach der Oberförster zu seiner Frau: »Nun müssen die Paten bald eintreffen; möchten sie sich doch nicht verspäten, denn der Herr Pfarrer liebt Pünktlichkeit. Um elf Uhr ist das Taufen bestellt.
Herr Börner legte die beste Uniform an und trat ans Fenster, von wo aus er auf die Dorfstraße sehen konnte. Da fuhr ein Wagen auf die Oberförsterei zu. Herr Börner eilte hinaus in den Hof, um die Ankommenden zu begrüßen.
Es war der Forstdirektor Kirstein mit seiner Frau, der sich zuerst einfand. Bald darauf kamen der Geheime Sanitätsrat Groß mit Frau und Tochter, der Amtsrichter von Stein und der Apotheker Weinhold. Die Frau Forstdirektor und die Herren von Stein und Weinhold sollten Patenstelle bei dem Kindlein übernehmen. Jetzt fehlte nur noch der Bruder des Oberförsters, Herr Pfarrer Börner aus Wartenau, der dem Kinde die heilige Taufe spenden sollte. Kurz vor 11 Uhr erschien auch dieser, und man beeilte sich, zur Kirche zu fahren.
An der Kirchpforte angekommen, stellte es sich heraus, daß die Eltern des Täuflings vergessen hatten, den Paten mitzuteilen, auf welchen Namen das Kind getauft werden solle. Die Frau Forstdirektor meinte, es möchte einer der Herren in die Oberförsterei zurückfahren und wegen des Namens anfragen, aber der Herr Pfarrer erklärte: »Wenn die Eltern vergessen haben, uns zu sagen, wie das Kind heißen soll, so ist das ein Zeichen, daß sie auf den Namen kein großes Gewicht legen. Die katholische Kirche feiert heute das Fest der heiligen Julia. Ich schlage deshalb vor, dem Kinde wird der Name Julie beigelegt.« Die Frau Forstdirektor fand, daß der Name schön sei, und die anderen Taufzeugen stimmten ihr bei. Also ward das Mädchen auf den Namen Julie getauft.
Auf dem Rückwege unterhielten sich die Paten darüber, was die Eltern zu der Wahl des Namens sagen würden, und die Frau Forstdirektor sprach: »Herr Pfarrer, Sie müssen die Verantwortung dafür übernehmen, daß wir ohne Zustimmung der Eltern gehandelt haben. Ich gestehe, mir wird ein wenig bange.«
»Selbstverständlich übernehme ich die Verantwortung,« erwiderte der launige Herr. »Bitte aber um allseitige Teilnahme, wenn mich eine empfindliche Strafe für mein Vergehen treffen sollte.«
»Kommt denn überhaupt auf den Namen eines Menschen etwas an?« fragte der Amtsrichter.
»Sehr viel,« behauptete der Apotheker. »Ich will Ihnen etwas erzählen. Meine Schwester sollte sich einen Gutsbesitzer, einen braven, gut situierten, etwas ältlichen Junggesellen heiraten – sie hätte eine sehr gute Partie gemacht – aber sie konnte den Mann nicht leiden. Warum? Weil er Krispin hieß.
»Dummes Ding,« sagte mein Vater, »'s ist doch ganz egal, ob ein Mann Paul oder Peter heißt, wenn er nur brav ist.«
»Dummes Ding!« schallt die Mutter. »Was liegt am Namen und Titel? Hauptsache sind die Mittel.« Nutzte alles nichts. Pauline blieb bei ihrem Starrsinn; einen Krispin möchte sie absolut nicht. Der arme Mensch hat mir leid getan, und als alles Zureden nicht half, da hat er sich – eine andere geheiratet.«
»Und Pauline, Ihre Schwester?« fragte der Amtsrichter.
»Ist alte Jungfer geworden. Daran ist nichts schuld als der Name, der meiner Schwester so lächerlich vorkam.«
»So wird es unserem Patenkinde nicht ergehen, denn sein Name ist und klingt schön,« meinte der Amtsrichter.
Die Eltern Julchens hatten am Tage vor dem Taufen wegen des Namen ihres Töchterchens einen kleinen Streit gehabt. Die Frau Oberförster wünschte eine Adolphine und der Herr eine Saraphine. Schließlich waren sie dahin übereingekommen, dem Kinde beide Namen zu geben und ihm dann den Rufnamen »Fine« beizulegen. Dabei konnte sich jedes denken, was es wollte. Wer den Paten den Namen des Kindes angeben sollte, das war nicht bestimmt worden. Der Mann verließ sich darauf, daß dies die Frau tun würde; die Frau aber dachte bei sich, das komme dem Manne zu.
Als nun die Eltern hörten, das Mädchen heiße Julie, da sahen sie sich zuerst verwundert an, und als sie vernahmen, wie das Kind zu diesem Namen gekommen sei, lachten sie und meinten, die Paten hätten keinen schöneren Namen wählen können, nur sei ihnen von dem Leben der heiligen Julia fast gar nichts bekannt.
Nach der Tauffeier fanden sich noch einige Herren und Frauen im Hause des Oberförsters ein, die mit der Familie auf freundschaftlichem Fuße standen, um an dem Festessen teil zu nehmen. Der Speisezettel ließ nichts zu wünschen übrig. Wildpret und Forellen spielten dabei die Hauptrolle. Als man beim Braten angelangt war, erhob sich der Bruder des Oberförsters, Herr Pfarrer Börner, und brachte folgenden Toast aus:
»Hochverehrte, liebe Tischgenossen! Zu Karthago lebte einst eine reiche, schöne Jungfrau. Sie hieß Julia; nichts fehlte zu ihrem Glück. Da kamen die Vandalen unter ihrem Könige Geiserich nach Afrika, plünderten, raubten und metzelten die Einwohner nieder. Auch die Eltern der Jungfrau wurden niedergehauen, und sie selbst wurde als Sklavin verkauft. Kurz ist das Glück dieser Erde. Nichts hatte die Jungfrau zu eigen; nicht einmal ihr Leben; statt zu herrschen, mußte sie jetzt die niedrigsten Sklavendienste verrichten. Aber ein Schatz konnte ihr nicht genommen werden, nämlich der Glaube an einen Vater im Himmel und die Liebe zum Erlöser der Welt. Die zarten Hände mußten die rauhesten Arbeiten verrichten; vom frühesten Morgen bis zum späten Abend war sie angestrengt; harte Reden, Schmähworte und Lästerungen und noch viel herberes mußte sie dulden, und sie, die nur ausgesuchte Speisen gewöhnt war, mußte mit armseliger Kost zufrieden sein. Da war es oft, als müßte ihr das Herz brechen; aber die Liebe zu ihrem Erlöser richtete sie immer wieder auf. Zuletzt wurde sie selbst ein Opfer der Liebe zu Gott: sie starb den Martyrertod, und heute feiert die Kirche das Gedächtnis dieser Heiligen.
Einem eigentümlichen Umstande ist es zuzuschreiben, daß in diesem Hause eine Julie weilt. Ich meine, das Kindlein, das heute die heilige Taufe empfing. Was die göttliche Vorsehung über das zukünftige Geschick dieses Kindes bestimmt haben mag, wer kann das wissen? Unter allen Umständen und immerdar bleibe der neuen Weltbürgerin der Glaube an Gott und die Liebe zu dem Erlöser erhalten, wie sie ihrer Namenspatronin erhalten blieben. Möge es den Erziehern gelingen, diese göttlichen Tugenden in das Herz der Kleinen zu pflanzen; dann bangt mir nicht vor der Zukunft: Aus einer Weltbürgerin wird dereinst eine selige Himmelsbürgerin werden. Die kleine Julie lebe hoch, hoch, hoch!«
Alle Anwesende stimmten kräftig in das »Lebehoch« ein und tranken auf das Wohl des Baby.
Nach Tische setzten sich einige Herren zu einem Spielchen zusammen, andere plauderten über interessante Tagesereignisse, der Forstdirektor aber und Pfarrer Börner begaben sich in den Garten, wo sie in den Buchengängen auf und ab spazierten.
»Herr Pfarrer!« hob der Forstdirektor an, »Sie haben mir mit ihrem Toaste aus der Seele gesprochen. Ohne Glaube und Liebe kann kein Staat, keine Gesellschaft bestehen. Wem diese Tugenden nicht eigen sind, der hat keinen Halt, keinen festen Grund, auf dem er steht, keinen sichern Weg, auf dem er weiterschreiten kann, um an das gewünschte Ziel zu gelangen. Darum sollten dem Kinde schon frühzeitig die religiösen Wahrheiten ins Herz gepflanzt werden, im Elternhause sowohl wie in der Schule.«
»Eigentlich sollte das auch eine Sorge der Paten des Kindes sein,« sprach der Pfarrer. »Leider wird diese Pflicht aber gar selten erfüllt. Die lieben Paten meinen, wenn sie dem Kinde ein wertvolles Geschenk übergeben haben, so sind sie aller Pflichten ledig. Um die Erziehung ihres Patenkindes kümmern sie sich gewöhnlich gar nicht.«
»Sie haben recht, Hochwürden! Aber wieviel Väter und Mütter gibt es denn, die den Paten gestatten, ein Wort bei der Erziehung ihrer Kinder mitzusprechen?«
»Leider ist es so weit gekommen, daß man weder die Rechte noch die Pflichten dessen kennt, der eine Patenstelle übernimmt.«
»Bei der Erziehung Julchens wird es nicht notwendig sein, daß sich die Paten darum kümmern; denn die Eltern werden selbst dafür sorgen, daß das Kind in der besten Weise erzogen wird,« bemerkte der Forstdirektor.
Inzwischen waren die Herren bis an den großen Teich gekommen, von dem aus man eine prächtige Aussicht auf das Dorf und auf das mit Fichten- und Tannenwald geschmückte Gebirge hatte.
»Ihr Bruder wohnt in einer so herrlichen Gegend, daß man ihn darum beneiden möchte,« rief überrascht der Forstdirektor. »Sehen Sie, dicht vor den Fenstern des hübschen Wohnhauses den netten Blumengarten, daneben den Gemüse- und Obstgarten, rechts den herrlichen Park und in der Ferne das schöne Gebirgspanorama! Können Sie sich ein schöneres Fleckchen auf der Erde denken?«
»Gewiß ist es sehr schön hier,« erwiderte der Pfarrer. »Mein Bruder weiß auch die Vorzüge seiner Stellung zu schätzen. Er fühlt sich glücklich und wünscht bis an sein Ende hier wirken und schaffen zu können.«
»Hier in der herrlichen Natur, unter den schlichten und braven Menschen wird auch Julchen gedeihen.«
»Das wollen wir wünschen und hoffen,« bemerkte der Pfarrer. Darauf kehrten die beiden Herren wieder zu den Festgenossen zurück.