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3.

Am Weihnachtsabende des Jahres 1826 stand im Salon des Forsthauses in Breitenberg ein prächtiger Weihnachtsbaum, und auf einer langen Tafel lagen wertvolle Weihnachtsgeschenke für die Eltern, die Kinder und die Dienstboten. Julchen bewunderte zuerst den schönen Baum mit den vielen Lichtern, und dann wandte sie sich den Geschenken zu. Sie fand neben Kleidern und Spielsachen einige Dinge, die sie ganz besonders interessierten, nämlich: ein kleines Buch, eine Schiefertafel mit Griffel und ein hübsches, braunes Kästchen. Das Büchlein mit dem Igel, dem Esel, der Uhr, dem Ofen und mit einzelnen Buchstaben kannte sie schon; es war die Fibel. Auch die Tafel war ihr nicht fremd; sie wußte, daß man mit dem Griffel darauf schreiben konnte. Ein solches Kästchen aber, wie das war, welches bei dem Buche lag, hatte sie noch nicht gesehen. Sie schob den Deckel ab und sah, daß kleine und rote Stäbchen mit schwarzen Strichen darin lagen.

»Was ist denn das?« fragte Julchen verwundert und erfuhr von ihrem Vater, daß dies ein Rechenkästchen sei.

»Muß ich auch rechnen lernen?« fragte Julchen, und die Tränen standen ihr in den Augen, denn sie dachte an ihren Bruder, dem das Rechnen so schwer fiel.

»Freilich mußt Du auch rechnen lernen,« sagte der Oberförster. »Du brauchst Dich aber nicht zu fürchten; denn in dem Kästchen stecken kleine Männchen; wenn Du sie herausnimmst und recht genau anguckst, so sagen sie dir alle Zahlen.«

Nun hätte das Kind die »Männchen« am liebsten sogleich herausgenommen, aber der Oberförster meinte, das dürfe am heiligen Abende nicht geschehen.

Fibel, Schiefertafel und Rechenkästchen deuteten darauf hin, daß für Julchen bald eine neue Zeit beginne, nämlich die Zeit des Unterrichts und der Bildung. Das Mädchen war sechs Jahre alt und vom 1. April des nächsten Jahres ab zum Schulbesuche verpflichtet. Weil das Kind sehr schwach war, so beratschlagten die Eltern, in welcher Weise sie durch Privatunterricht den öffentlichen Schulunterricht ersetzen könnten. Einen Hauslehrer anzunehmen, dazu reichte das Einkommen des Oberförsters nicht aus.

In Breitenberg waren zwei Lehrer angestellt, ein Hauptlehrer und ein Hilfslehrer. Der Hilfslehrer Max Grundmann hatte weit über hundert Kinder zu unterrichten und bezog dafür ein so knappes Gehalt, daß ihm ein kleiner Nebenverdienst zu wünschen gewesen wäre. Er war ein besonders strebsamer junger Mann von angenehmem Äußern und bescheidenem Wesen. Die Schüler liebten ihn fast so sehr wie ihren leiblichen Vater; denn er war stets freundlich gegen sie, suchte ihnen das Lernen so leicht wie möglich zu machen, erzählte ihnen manche hübsche Geschichte und nahm an ihren Freuden und Leiden innigen Anteil. Auch die Eltern der Kinder schätzten und liebten ihn, denn er zeigte sich als ein Mann von festem Charakter und war ausgestattet mit reichen Kenntnissen. Bei den Schulprüfungen erntete er von den Vorgesetzten stets Lob.

Der Oberförster Börner verfehlte nie, den öffentlichen Prüfungen in der Schule beizuwohnen. Er kannte daher die Leistungen des Lehrers und war überzeugt, einem tüchtigeren Erzieher als Herrn Grundmann könne er sein Kind nicht als Zögling anvertrauen. Herr Börner ersuchte deshalb eines Tages den Lehrer, seinem Julchen Privatunterricht zu geben und bemerkte, wegen des Honorars würden sie sich schon verständigen.

Wider Erwarten trug der Lehrer allerlei Bedenken, in die Bitte des Oberförsters zu willigen. Er behauptete, es wäre besser für ein Kind, wenn es die Schule besuche. Die Schulstube sei für das Kind ein Ort, vor dem es eine gewisse Ehrfurcht habe; darum hätten auch die Worte des Lehrers eine größere Wirkung in der Schule als in der elterlichen Wohnung, dem alltäglichen Aufenthaltsorte des Kindes. Ferner wies er darauf hin, daß der Schüler, der die Volksschule besucht, mit Kindern umgehen lerne, zum Mitleid, zur Gefälligkeit und zu vielen guten Handlungen angeregt werde. Dies seien schätzbare Vorteile des gemeinsamen Unterrichts. Er unterließ nicht, zu erklären, daß auch der Privatunterricht gewisse Vorzüge habe, im allgemeinen sei aber der Unterricht in der Schule dem Unterrichte im Hause vorzuziehen, besonders auch deshalb, weil sich der Lehrer in der Schule völlig frei fühle, gleichsam wie ein unbeschränkter Herrscher, weshalb man ja auch von Schulmonarchen spreche, während ein Hauslehrer mehr oder weniger in seiner Lehr- und Erziehungsweise von den Eltern beeinflußt werde.

»Bei mir sollen Sie in bezug auf den Unterricht und die Erziehung ganz freies Schalten und Walten haben. Ich habe zu Ihnen großes Vertrauen, und von meiner Frau haben Sie auch keinen Einspruch zu befürchten,« sprach der Oberförster.

»In diesem Falle und unter diesen Bedingungen bin ich bereit, ein Jahr lang Ihrem Töchterchen Privatunterricht zu geben; dann müssen Sie aber das Kind zur Schule schicken. Und nun noch eins: Ohne Genehmigung der Schulaufsichtsbehörde darf ich auf Ihr Vorhaben nicht eingehen.«

»Die werde ich Ihnen besorgen,« erklärte der Oberförster.

Ohne Schwierigkeit erhielt der Lehrer die Erlaubnis, den gewünschten Unterricht zu erteilen.

Der Tag, an dem Julchen den ersten Unterricht erhalten sollte, war angebrochen. Sie bestürmte die Mutter mit allerlei Fragen und wollte wissen, ob Herr Grundmann ein guter Lehrer sei; ob er ihr hübsche Geschichten erzählen würde; ob sie Schläge bekommen würde, weil sie noch nichts könne. Sie fragte, ob sie dem Lehrer etwas schenken dürfe, einen Apfel, ein Stückchen Schokolade oder eine Zigarre. Beim Mittagessen war sie so aufgeregt, daß sie von ihrem Lieblingsgerichte, gebackenem Reis mit Rosinen, nur wenig genoß. Nach dem Essen ging sie auf Geheiß ihrer Mutter in den Garten, pflückte Blumen, und die Frau Oberförster wand sie zu einem hübschen Strauße, den sie in einer Vase auf den Tisch stellte, an dem der Lehrer unterrichten sollte. Dann holte Julchen ihre Schulsachen: Fibel, Schiefertafel, Rechen- und Federkästchen herbei und legte sie, nach der Mutter Anweisung, hübsch geordnet auf den Tisch. Am Fenster erwartete sie jetzt den Lehrer. Endlich erblickte sie ihn, wie er von der Dorfstraße nach der Oberförsterei zu schritt.

Herr Grundmann wurde von der Frau Oberförster aufs liebenswürdigste bewillkommnet. Julchen blickte schüchtern zu dem großen Manne empor und reichte ihm das Händchen. Aus dem Auge des Lehrers leuchteten Milde und innige Liebe, so daß die Furcht der kleinen Schülerin bald verschwand, und kaum hatte der Lehrer ein paar freundliche Worte an die Schülerin gerichtet, so hatte er ihr Herz gewonnen. Fröhlich hüpfte sie voraus, als ihn die Mutter in das Familienzimmer führte, wo der Unterricht erteilt werden sollte.

Das Zimmer war einfach ausmöbliert und alles blitzsauber. Der Lehrer merkte auch bald, daß seine Schülerin ein vorzügliches Talent besaß, und da sie einen großen Lerneifer an den Tag legte, so machten ihm diese Unterrichtsstunden Freude. In wenigen Wochen lernte Julchen die Buchstaben, und nach Verlauf eines halben Jahres las sie mit Verständnis und guter Betonung. Diese Fortschritte waren allerdings auch der vortrefflichen Methode des Lehrers zuzuschreiben.

Das Schreiben machte Julchen gar keine Schwierigkeiten, und das »böse Rechnen«, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte, lernte sie mit Hilfe des Rechenkästchens spielend; ja sie freute sich schon im voraus auf die Rechenstunde, wobei sie die weißen und roten Männchen als Zahlen aufmarschieren lassen durfte.

Manchmal hatte die kleine Schülerin ganz sonderbare Einfälle. So fragte sie einmal den Lehrer, als sie das Wort »Weibchen« gelesen, ob er ein Weibchen habe und gab ihm den Rat, die Frau Hauptlehrer zu heiraten. Durch solche kindliche Äußerungen ward der junge Lehrer nicht selten in Verlegenheit gebracht, da er wußte, daß die Frau Oberförster in der Stube nebenan mit einer Handarbeit beschäftigt war und jedes Wort hörte, das vom Lehrer und der Schülerin gesprochen wurde.


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