Karl Kraus
In dieser großen Zeit – Aufsätze 1914-1925
Karl Kraus

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Herz, was begehrst du noch mehr?

Im Reiche des Dionysos, das jetzt wieder manchmal sogar bis 4 Uhr früh offen haben darf, dort, wo jeder Kaffeesieder seine »Prominenten« hält und um Mitternacht die Tragödinnen angerückt kommen, um geschwind noch ein bißchen Tralala zu machen; in der Sphäre, die die Schmach der bürgerlichen Kultur im Betrieb der von ihr ruinierten und nun auch entehrten Kunst spiegelt, dort, wo das Champagnergeschäft geistige Vorwände braucht und zwischen zahnstochernden Schiebern jetzt auch die kostspieligsten Literaturkommis serviert werden; wo Theater, Kunst und Literatur sich herabgelassen haben, den Neppgewinn mit den dazu Berufenen zu teilen, und wo ganz bestimmt demnächst auch jeder Wäschelieferant seinen Conférencier haben wird nebst !!Jazzband!! und Herrn Slezak – eben dort sticht mir seit Jahren das seltsame Wortgebilde »Benatzky-Selim« in die Augen. »Ralph« ist ohneweiters als Attribut mondäner künstlerischer Betätigung verständlich. Aber »Josma« in Verbindung mit »Selim« hielt ich ursprünglich für eine Zigarette. Nicht einmal für eine, die wie »die gute Massary« über die ganze Breite der Friedrichstraße zwei Welten der Reklame verbindet, sondern für eine Sorte schlechthin. Allmählich wurde ich, den das Plakatwesen nicht seiner Bestimmung gemäß anzieht, sondern abstößt und zur Verschmähung der Ware animiert, allmählich wurde ich darauf aufmerksam, daß es sich in der Verbindung Benatzky-Selim jedenfalls um etwas Künstlerisches handle und um einen Dual, dessen Reiz gerade in der Untrennbarkeit beruhen dürfte. So verhält es sich in der Tat und im Vorstellungsleben des Volkes sollen nach allem, was man hört, Tristan und Isolde, Hero und Leander, Riedel und Beutel, Verbindungen, die für die Ewigkeit geschmiedet schienen, längst zurückgetreten sein vor dem Beispiel, das Benatzky und Selim tagtäglich einer zerrissenen Epoche geben. Der Fall, daß einer der beiden Teile erkrankt, wodurch naturgemäß das Ganze undurchführbar wäre, kann nicht vorkommen, da sie, wie behauptet wird, nur gemeinsam erkranken. Als es jüngst einmal der Fall war, hieß es, ein gemeinsamer Wespenstich – ursprünglich Selim zugedacht, aber, um Benatzky nicht zurückzusetzen, aufgeteilt – habe sie zur Absage gezwungen. Nun brenne ich seit Jahren darauf, dieses Künstlerpaar, von dem eine faszinierende Wirkung ausgehen soll, auf mich faszinierend wirken zu lassen. Da das aber nicht zu machen ist, indem ich mir doch eben seit Jahren all das versagen muß, was andern Menschen das Herz pumpern läßt – wie gern hätte ich zum Beispiel Salten oder Hans Müller im »PavilIon« erlebt (in jenem Pavillon Törley, der ja auch bessere Zeiten gesehn hat, als dort noch Mausis ohne Literatur verkehrten) – da das also nicht zu machen ist, muß ich mir alles vorstellen und es geht schließlich auch so. Ja ich bilde mir ein, daß ich von der Art des Benatzky, die sicher moussierend ist, eine noch bessere Vorstellung habe als das Publikum, das ihm zuströmt, und glaube, daß ich des Erlebnisses Selim so völlig habhaft bin, daß ich es nachbilden könnte. Mein Eindruck ist, daß hier das Wiener Freudenleben endlich zu jener mondänen Note gelangt ist, die dem Geschmack der ganz raffinierten Genießer entspricht, indem einerseits, bei Benatzky, die fine fleur des fin de siecle von einem five o'clock zum Ausdruck kommt, während anderseits, bei Selim, das gewisse Jenesaisquoi vorhanden ist. Beiden ist offenbar das zu eigen, was ich kürzlich in der Empfehlung einer Gehirnjauche, die zu einer neuen Separeernusik serviert wird, als die »Verbindung von Duft und Schlager« definiert sah. Ja, ohne Grund befindet sich nicht das Publikum in einem Taumel. Es gibt eben Erscheinungen, die einfach vorhanden sind und deren Wirkung man mit Analyse nicht beikommt. Wenn Meister Schönpflug eine Figur nur so hinstellt und man in Zweifel sein könnte, ob er eine offene Pappen oder eine heraushängende Zunge intendiert hat, so ist doch der Eindruck, der speziell beim christlichen Publikum entsteht, ein auf den ersten Blick gspaßiger, und eben dieses Publikum wird auch nicht umhin können, zu wiehern, wenn der urkomische Dr. Bergauer im Umgang mit der bloß komischen Alten die Daumen zu drehn, zu scheangln und mit den Lippen zu bibbern beginnt, also das tut, was seit dem Gesangskomiker Stelzer zwischen Budweis und Klagenfurt halt in verfänglichen Situationen zu geschehen pflegt. (Ich habe ihn gesehen, den Unwiderstehlichen, nachdem ich ihn so lang' schon gekannt hatte.) Das sind die elementaren Wirkungen auf einem mehr volkstümlichen Niveau, Benatzky-Selim befriedigen die Ansprüche einer verwöhnteren Kultur und es ist die spezifische Schichte von Gourmands in Mariahilf, die bei ihnen auf ihre Kosten kommt. Und doch. (Hier könnte man etwa fortsetzen: Und doch ist es eine dezente Note, die sie pflegen, im Gegensatz zu der mehr verruchten Erotik, die ein maitre de plaisir und zugleich arbiter elegantiarum wie Siegfried Geyer nach Wien gebracht hat, der drei Geyer-Bühnen leitet, les affaires sont les affaires, und den Zeitpunkt wahrnahm, da das Publikum der rue de Rothenturm für Poiret mit etwas Grandguignol reif wurde.) Benatzky-Selim, stelle ich mir vor, deuten mehr an, als sie aussprechen, tändeln mit den Dingen, auf die es letzten Endes doch ankommt, und reizen das Publikum, welches speziell in »Etablissements« das unbestimmte Gefühl hat, daß alles ein Umweg zur geschlechtlichen Betätigung ist, indem sie das Ziel mehr verheimlichen als aufdecken. Ich stelle mir vor, daß alles nicht geradezu gesagt wird, sondern durch die Blume, ein Hauch, ein Zwinkern genügt da oft. Das ist das Geheimnis der Wirkung, welches darin besteht, das Geheimnis der Ursache nicht zu verraten, und doch. Aussprechen was ist, wie etwa Salten in seiner »Josephine Mutzenbacher« getan hat, ist nicht Benatzky-Selims Sache. Auch spielen sich die Vorgänge meist nicht in den Niederungen des Freudenlebens ab, sondern es dürften Prinzessinnen und Pagen vorkommen und was sich da zwischen Taxushecken tut, dürfte mit ähnlicher Grazie höchstens noch getroffen sein, wenn Dörmann in die Saiten seiner Leier greift oder Krenes zu seinem Silberstift. Die Champagnerkundschaft, an die soziale Note gewöhnt, jahraus jahrein vor die Alternative gestellt, sich für einen Proleten, was kann er dafür, oder für eine Dirne, was liegt daran, zu entscheiden, liebt diese Abwechslung, durch ein Trällerliedchen zu erfahren, daß auch in höheren Kreisen, und selbst dort wo man es gar nicht glauben würde, etwa zwischen Nonnen und Mönchen (besser Abbés) ein lebhafter Geschlechtsverkehr herrscht. Selim (Schalkin das) macht gewiß einen scheinheiligen Augenaufschlag, wenn sie besonders Anzügliches, das ihr Benatzky da in den Mund legt, zu beichten hat, und ich sehe so deutlich das Schmunzeln derer, die das Glück haben, dabei zu sein, ich mache so jede Nuance von Hingabe und Empfängnis mit bis zu dem Punkt, wo der Göttergatte die Göttergattin stupft und fragt, ob sie verstanden hat – daß es auch mich anregt und mein Nachtleben etwas Freude abbekommt. Wenngleich nicht ohne ein Alzerl Neid. Und wenn ich bedenke, Benatzky ist Doktor wie Bergauer, Robert heißt Professor gar, soll primo loco für Temesvar vorgeschlagen sein, dann wurmt's mich, daß ich nicht mein Doktorat gemacht habe, vielleicht wäre ich heute auch im Wiener Kunstleben eine Nummer, wenn schon nicht in Berlin eine Kanone. Das Bild nun, welches ich mir von der Lebensfreude, die ich vom Hörensagen kenne, gemacht habe, wird durch einen Blick in die Sonn- und Montagszeitung vollständig, wo ein feiner Kenner die belebende Wirkung, die von Benatzky-Selim ausgeht, folgendermaßen bekundet:

– irgendwo gibt es eine Oase, auf die das echte, richtige Chanson geflüchtet ist und wo es seine allerbeste Tradition zu wahren vermocht hat. Diese Oase befindet sich dort, wo das Künstlerpaar Selim-Benatzky jeweils auftritt.
Man sollte es nicht für möglich halten – aber hier gibt es eine Chansonniere, die über ein ganz vortreffliches Repertoire verfügt. Man könnte aber auch sagen: man begegnet in Dr. Ralph Benatzky sozusagen dem besten Vertreter seines Genres, der in Josma Selim eine geradezu ideale Interpretin besitzt.
Herz, was begehrst du noch mehr?
– Das ist das Wunderbare bei den Benatzkys oder den Selims, bei den Ralphs oder den Josmas, daß sie inmitten der normale Kabarettwüste Vollkommenes bieten. Vor allem ein vollkommene Programm. Sechs Chansons, bitte sehr. Und dann gibt es ein siebentes als Draufgabe. –
Ausnahmslos besitzen sie ihre geistreiche, witzig pointierte Note und ihre sanfte, apart melodische Linie. Es sprüht aus ihnen, vor allem aber aus der Eigenart des Vortrags von Josma Selim eine wirklich wienerische Anmut, die sich aufs glücklichste mit einer fast französischen Pikanterie vermählt. –
Was den beiden besonders hoch anzurechnen ist: daß bei ihnen, obwohl sie in der Nähe der Mitternachtsstunde auftreten, nicht jedes Verbum nach einem Gedankenstrich dasselbe bedeutet; daß in ihren Darbietungen die Zote nicht ihr Unwesen treibt. – So bleibt uns nichts übrig, als zum Schluß zu sagen: freuen wir uns, daß wir die beiden haben, wenn sie nicht zufällig auf einer Auslandstournee begriffen sind ...

Das muß ein erstklassiger Viveur sein. Freilich, daß nicht jedes Verbum nach einem Gedankenstrich dasselbe bedeutet, glaube ich nicht, ich bin im Gegenteil überzeugt daß jeder Gedankenstrich die schelmische Enttäuschung immer der nämlichen Erwartung ausdrückt. Und es ist da ein glücklicher Zufall, daß in der nämlichen Nummer der Sonn- und Montagszeitung eines der entzückenden Chansons des Meisters abgedruckt wird, geistreich, witzig pointiert und mit sanfter, apart melodischer Linie, so daß es sprüht:

Abschied am Kupeefenster.

»Leb' wohl, mein kleiner Prinz!
Ach, daß ich rasch vergesse
Den gestrigen schönen Tag, die heut'ge wilde Nacht! –
Die treuen Untertanen lesen beim Frühstück morgen in der Presse:
»Seine Hoheit, Prinz Franz, haben den gestrigen Tag und die Nacht auf der Jagd verbracht.«
Und reisen Sie recht gut, zwar mach' ich mir nicht Sorgen,
Denn Ihr Waggon-lit ist wirklich exquisit,
Und schlafen Sie ... Sie brauchen's! ... Damit man nicht am Ende morgen
Die dunklen Schatten unter Ihren Augen gar zu deutlich sieht!
Und morgen früh erweckt Sie Glockenklang,
Böllerschüsse, Trommel und Gesang –
Feierlicher Empfang!
Des Bürgermeisters Töchterlein reicht Blumen zum Fenster, in Huldigungdress . ...
Und noch jemand empfängt Sie ... Ihre Frau ... madame la princesse!
›Ach teure Gattin! Wie ich mich nach dir gesehnt hab'‹ –
›Ach, teurer Gatte! Wie lang' ich die Ungeduld nach dir bezähmt hab' ... ‹
So schwört Ihr Euch aufs neue,
Daß Ihr hieltet hoch der Ehe Treue –
Und bei diesen reizenden Dialogen
Denkt sie des Pagen Reymond Saint-Cyr,
Mit dem sie ... Marienlieder gesungen...
Genau, mein Prinz, wie du mit mir! –
Leb' wohl, mein kleiner Prinz!
Ich liebe dich so ... pst! Ihr Adjulant! ...
Es ist nicht opportun, daß er diese Worte höre –
Ich küsse Hoheit untertänigst die erlauchte Hand
Und danke für die hohe Ehre!«

Ralph Benatzky.

Der alte Löwy begleitet seinen Sohn zur Bahn und verabschiedet sich von ihm mit den Worten: »Leb wohl, Josef, fahr' mit Gott!« Josef: »Wos redest du do, Tate, wird Gott fahren dritte Klass'?«

(Dies nur nebenbei, ich hab's für alle Fälle mitgedruckt.) Also man versteht. Der Prinz war nicht auf der Jagd, sondern er hat – also man versteht. Während die »Untertanen« glauben, hat er in Wahrheit. Also man versteht. Während es nicht opportun ist, daß der eigene Adjutant diese Worte höre, dürfen es die Eingeweihten. Woher die dunklen Schatten unter seinen Augen kommen, auf die ihn die Urheberin beim Abschied aufmerksam macht, wird nicht direkt gesagt, doch die Phantasie erhält ein gewissen Spielraum. Madame la princesse war aber inzwischen auch nicht faul. Sie hat mit dem Pagen (Reymond Saint-Cyr heißt er, wie denn sonst) – also sie hat mit ihm ... Marienlieder gesungen ... Hier, wo in der Tat kein Gedankenstrich, aber drei Punkte vor dem Verbum die Spannung aufs höchste steigern und drei Punk nach dem Verbum ein diskretes Abklingen bewirken, bleibt jedem Hörer noch etwas zu erraten übrig, und mancher dürfte beim Nachhausegehen oder später, vor dem Beischlafen, murmeln: »Nu na, Marienlieder hat sie gesungen!« Mit einem Wort, wienerische Anmut vermähl sich aufs glücklichste mit fast französischer Pikanterie. (Nur um dieser zu noch stärkerem Nachdruck zu verhelfen, habe ich die gleich anschließende Geschichte vom alten Löwy mitgedruckt.) Herz, was begehrst du noch mehr? Kein Zweifel, seit dieses Wien die »Kleinkunst« hat, werden auch die verwöhntesten Ansprüche befriedigt, und ich wäre nur neugierig zu erfahren, ob Benatzky leicht oder schwer schafft, ob er diese kapriziösen Dinge bloß so aus dem Hemdärmel schüttelt oder ob er ringen muß. Ich stelle mir das gar nicht so einfach vor, ich könnte es nicht; aber es muß doch auch eine gewisse Befriedigung gewähren, so zu produzieren. Im Geistesleben der achtziger und neunziger Jahre wurde der ganze erotische Bedarf durch die »Pikanten Blätter«, die »Bombe«, die »Karikaturen« gedeckt, die höchstens noch von den »Pschütt-Karikaturen« übertrumpft werden konnten. Pschütt! – das war die Losung des äußersten Sinnenkitzels. An der Kassierin jedes Kaffeehauses lehnte der Lebemann, Standbild der Männerschwäche, ein Individuum mit schütterem Haarboden, aufgedrehtem Schnurrbart und wässerigen Augen, deren eines von einem Glasscherben bedeckt war, in Zivil oder auch verkleidet, und man sah ihn in der nämlichen Stellung in den »Karikaturen« oder eben »Pschütt-Karikatuten«, doch da war er von Fischer-Köystrand oder von Lacy v. F. und sah aus, wie die Folgen ausschweifender Lebensweise. Oft auch beugte er sich über ein Sofa, auf dem die Lebedame lag, immer die nämliche, völlig ausdruckslos und nur erschaffen, um den einen Dialog zu absolvieren, der sich immer um dasselbe Thema drehte. Revolverblätter, die nur wegen des Bankinserates erschienen, brachten, um dieses für die Verwaltungsräte schmackhafter zu machen, die Lebedame als Zuwag, die durch eine gewisse Fülle für die Leere zu entschädigen hatte, und der Brauch hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten, wo die alten Klischees in der Zeit der Generalversammlungen noch hin und wieder auftauchen und ein hoher Busen von einer verschwundnen Pracht zeugt. Die Veredelung des Strichs war im Typus der »Büffetdame« erreicht und der äußerste Wüstling war der Balletonkel. Im Separee wartete der Erzherzog Otto auf die Speisinger-Finerl und ließ sich inzwischen die Zeit nicht lang werden, indem ihm der Klavierspieler »Ich bleib viel lieber doder, weil in Wien mein Himmelreich is« vorspielte, welches Lied er aber, wenn kein Klavierspieler doder war, auch sich selbst mit einem Finger vorspielen konnte. Jedes Bordell hatte ein sogenanntes Milan-Zimmer, das der Novize mit Ehrfurcht betrachtete. Das feinere Freudenleben beherrschte die Sachs, die mehr ein Begriff war als eine reale Kupplerin und die sich von den Richtern, welche Prozesse wegen Kuppelei durchzuführen versuchten, dadurch unterschied, daß jene nicht unabsetzbar, sie aber unvorladbar war. In all dieser Zeit und während sich dies begab, gingen Männer mit Schlapphüten und architektonisch richtigen Christusbärten angetan auf der Ringstraße herum, das waren die Künstler. Gleichwohl muß gesagt werden, daß es eine reinlichere, wenngleich simplere Epoche war als eine, deren hurisches Avancement sich durch Gürtelröcke, Jazzband, Psychoanalyse, Radio, Raumbühne und alle Furien, die im Ruf »Der Abeeend –! Die Stundeee –!« losgelassen sind, unverkennbar anzeigt. Gewiß, jenes Wien, das Auf Gschnasfesten den Humor in seine Rechte treten sah wie in etwas, in das man lieber nicht tritt, hatte seine Schrecken, die wohl darin gipfelten, daß sich der Schick den Schan zugezogen hatte. Aber wie harmlos war dieser Gehirntumor, in den man wie in den damals aktuellen Schödl'schen Smoking hineinschloff oder den man wie das Schödl'sche Sodawasser trinken und auch stehn lassen konnte – wie harmlos war dieser Schan im Vergleich mit dem Schanoir, den man sich nachher zugelegt hat, mit dem Freudengeräusch, das den Schlaf weiland friedlicher Hurengassen durchdringt und dem Nachtleben der Hausmeisterstadt ein wahres Montmartertum aufzwängt. Es ist nicht anders, als ob der Habakuk, der zwei Jahre in Paris war, es dadurch beweisen wollte, daß er nicht Tabak, sondern Kokain schnupft. Da schon die Urbilder dieses Lusttaumels, der eine kriegsschuldige Welt erfaßt hat, nichts an Trostlosigkeit zu wünschen übrig lassen und man dem ausgesuchtesten Laster der Boulevards die Anerkennung nicht versagen kann, daß in ihm der nationale Haß durch eine Annäherung an den Berliner Geschmack abgebaut erscheint, so reicht keine Phantasie aus, den Grad von ungarischer Provinz zu ermessen, den die Verpestung des Wiener Vergnügungslebens erreicht hat. »Komm mit nach Warasdin!« lautet die erfolgreiche Einladung, der der Wiener Gusto nicht widerstehen konnte, und diese größte österreichische Provinzstadt scheint, unter den Zurufen einer entwicklungsfreudigen Publizistik, in ein Boulewardein verwandelt. Als ein Zeichen gesunder Konstitution beruhigt dabei freilich der Durchbruch des spezifischen Schwachsinns, der der lokalen Fröhlichkeit die Note erhält. Ich glaube sie in einer Melodie nicht verfehlt zu haben, die mir jüngst in meinem bewegten Nachtleben, aus hundert fernen Bars herangetragen, trotz den schlechten Zeiten durch den Sinn zog, als Shimmysierung des angestammten Polkagemüts:

»Ach holde Pipsi,
mein Schatz, ich lieb' Sie.«
»Sie Herzensdieb Sie!«
sagt drauf die Pipsi.
In dem Betrieb sie
kriegt zwar 'nen Schwips, sie
spürt doch, die Pipsi,
womit ich schieb. Sie
sagt gleich. »Ach gib!«, sie
hab' mich nur lieb, sie
treu mir auch blieb', sie,
nämlich die Pipsi.

Ich litt sehr und kann nur sagen: Trotz Marinetti (kein Pupperl, sondern ein Futurist), allen Kokolores von Expressionismus und Konstruktivismus zum Trotz: auf diesen Ton ist das mitteleuropäische Geistes- und Freudenleben seit ungefähr zwanzig Jahren gestimmt, der Tanzschritt wechselt, es ändert sich nichts, als daß bei reicherer Illumination die Stupidität von Jahr zu Jahr fortgeschrittener erscheint, daß dem Massenbedürfnis immer mehr ein Kunstbetrieb entspricht, der in seiner Verbindung mit dem ordinärsten Freudenbetrieb, als der notdürftige musikalische und tänzerische Vorwand der nackten Gewinnsucht – dieser letzten intellektuellen Regung, die den Schwachsinn wucherisch aufkauft –, alles zu gewähren scheint, was das Herz begehrt. Und so sehr hat auch die kunstpolitische Organisation jener anderen Masse, an deren Bildungsfähigkeit zu verzweifeln tragisch wäre, die Forderungen der Zeit erfaßt, daß sie außerhalb der Feste, die sie auf dem Trümmerfeld der Theaterkunst feiert, und wenn sie nicht gerade mit bühnenreformerischen Grotesken ein epater le proleaire wagt, eben diesen mit den Brosamen füttert, nein, mit den Resten von Mehlspeiskitsch, die von der Tafel der Bourgeoistheater abfallen, welche sie großmütig ernährt, ohne die mäzenatische Chance auch nur zu dem Versuch zu mißbrauchen, auf eine Verbesserung der Kunstnahrung zu dringen. Denn durch keine Revolution wäre je das Gesetz der Trägheit abgeschafft worden. Und wenn wir am Ende das kulturelle Fazit allen Umschwungs ziehen, so dürfte sich – nebst der Errungenschaft, daß Gewerkschaftsfunktionäre, die sich mit Theaterdirektoren schlagen sollten, ihnen Operetten liefern, in welchen eine Gräfin einen Bürgerlich heiratet oder umgekehrt – so dürfte sich also herausstellen, daß eine Inhaltsangabe des »Fräuleins aus 1001 Nacht« die purste geistige Wirklichkeit dieses Lebens darstellt und daß wir uns auf einem Niveau befinden, auf dem das Erraten dessen, was madame la princesse gemacht hat, während Seine Hoheit nicht auf der Jagd war, zu einer Gehirnleistung wird und Benatzky zum losesten Cupido, der je die Götter des Olymps an der Nase herumgeführt hat. Die Bühnenrevolutionäre können sich getrost Zeit lassen, recht viel von jener, der sie ihre Kunst aufkonstruieren wollen. Die einzige Brücke, die zum Publikum führt, schlagen die Champagnerbudiker, die ja bereits auch alle vorrätigen Kräfte den Theaterdirektoren ausgespannt haben. Vorübergehende Stagnation durch Wirtschaftskrise und Steuerdruck kann die Entwicklung nicht aufhalten, und wenn die Treffpunkte der Schakale dutzendweise verschwänden, was ja doch nicht ohne Aussicht auf Ersatz geschähe. Denn nach einem Blutregen wachsen mit den Betriebsstätten des Raubes die Sanssoucis der Räuber wie die Pilze aus dem Erdboden und was Krieg und Inflation kulturell geschaffen haben, kann von einer Sanierung nicht mehr abgebaut werden, und von der der Seelen schon gar nicht. Der Ruin des Freudengeschäfts, das auf dem Vorsatz der Kanaille basiert, der Welt die Haxen, die ihr noch geblieben ist, auszureißen, müßte von innen heraus erfolgen, durch den Ekel an der Verödung dessen, was für die Ödigkeit des Lebens entschädigen soll und nur noch die Wirkung der Quantität vermag. Doch eben dieses von allen Techniken anästhesierte Leben empfindet solchen Ekel nicht, keine Ermüdung von dem Brouhaha seiner Vulkantänze, nicht einmal den Überdruß an der sozialen Elendsmiene, die das Narrengeschäft jetzt annimmt, da »schlechte Zeiten« sind und eine Steuer, die mehr als das moralische Gewissen der Gegenwart drückt, dem Schandgewerbe zusetzt. Es ist die Parodie eines Zeitwesens, welches den Lebenszweck dem Lebensmittel unterworfen und den Konsumenten dem Händler dienstbar gemacht hat: daß nun auch das Gift darauf besteht, genossen zu werden, damit es erhalten bleibe, und daß der Beruf des Lustigmachers in so trauriger Welt seine Kunden erheitern will, um seinen Mann zu ernähren. Der Mord an zwanzig Millionen Menschenkindern hat der bürgerlichen Presse nicht so viel Interesse abgewonnen als das Schicksal jener, die von der Pleite der Unter- und Überhaltungsstätten betroffen sind; was sich allerdings daraus erklären mag, daß auch die Presse dem Heldentod weniger abgewonnen hat als dem Hurenleben. So erscheint das geistige Wien in einen Chorus von Nachtlokalredakteuren verwandelt, der den Jammer der Zeit an den Konkursen einer Branche beklagt, deren Wohlstand doch den denkbar grimmigsten Kontrast zu ihm bildet. Diese Menschheit, die wahrscheinlich zu leben hätte, wenn sie ihre Ware, in die sie ihre ganze Geistigkeit investiert hat, nicht bedienen müßte und nicht in Erwerbsgruppen zerfiele, die von der gegenseitigen Ausplünderung leben wollen, diese Menschheit, gegen die es der Sozialismus wirklich schwer hat, Kulturtendenzen zu vertreten, wenn er damit die Nachtcafebediensteten vor den Kopf stoßen könnte, nein, diese Menschheit wird wohl nie mehr aus den schlechten Zeiten herauskommen und dann wird unter den überflüssigen Berufen, welche in der Erhaltung ihrer Angehörigen eine Lebensnotwendigkeit erblicken, nicht das wahre Hurentum, das stumm duldet, sondern immer die sogenannte Kunst voran sein, über die brachliegende Fähigkeit zur Prostitution zu klagen und das Publikum an seine Konsumentenpflicht zu erinnern. Aber das sind nur vorübergehende Stockungen, die in Wahrheit die Technik der Reizmittel begünstigen. Nicht die schlechten Zeiten, sondern die schlechte Zeit hat das Bühnenwesen auf einen Punkt gebracht, wo es zu jeder szenischen Verwandlung fähig ist, und wenn die Konkurrenz von Nepp und Kino dem Theater überhaupt noch einen Spielraum läßt, so muß es diesen nicht ausbauen, sondern vertiefen. Die schlaueren Bühnenreformer, die nicht nur Snob, sondern auch Mob gewinnen wollen, wissen ganz gut, daß die Entwicklung, und wenn sie noch so sehr tut als ob sie des Esoterischen bedürfte, die Szene bloß in der Richtung erweitern wird, wo sie zum Restaurant wird. Herr Reinhardt, ein Mann, der's mit der Zeit wahrlich aufnehmen kann, die ihm seit zwanzig Jahren aufsitzt, und der erfaßt hat, daß wie einst den Göttern der Kaufmann, so jetzt der Künstler dem Schieber gehört, hat in Wien, wo er die Sträusslsäle eröffnete und für warme Küche nach Schluß der Vorstellung sorgte, zwar erfolgreich, aber dramaturgisch doch nicht radikal genug eingesetzt. Es muß während der Vorstellung gefressen werden! »Reinhardts neues Berliner Theater ist ein Logentheater und erhält eine besondere Note durch die Aufstellung kleiner Tische in den Logen-Vorräumen, so daß die Gäste in den Pausen an Ort und Stelle werden speisen können.« Herz, was begehrst du noch mehr? Etwa, daß die Kleinkunstbühnen, wo schon längst vom Publikum coram musis gefressen wird, eine besondere Note erhalten durch die Aufstellung kleiner Betten in den Logen-Vorräumen, wo die Ausgeburten der Hölle höchstens durch das Lachen über die Möglichkeit, daß sie da Marienlieder singen könnten, daran gehindert sind.


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