Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Ein Reporter wird Soldat

Der Journalismus, so sagt man, führt zu allem, wenn man ihn verläßt. Ich verließ den Journalismus 1914, um Soldat zu werden, und wohin führte er mich?

Zu Beginn des Weltkriegs, gleich mit den ersten Truppen, ging ich als Korporal der österreichisch-ungarischen Armee in die Schwarmlinie. Das wurde mir schwerer gemacht als jenen, die sich nicht dazu drängten, weil die mir vorgesetzten Kommandostellen in Heimat und Etappe mich als Historiographen (wie der Euphemismus für Reklamechef lautet) bei sich behalten wollten.

Mich jedoch verlangte es nach dem großen Abenteuer, und so lag und schoß und rannte ich vor dem Feind. Der Feind war zunächst das Königreich Serbien.

Ich hatte also einen neuen Beruf, wenn auch nur den zeitweiligen eines Soldaten. Zum erstenmal sah ich Begebenheiten von innen, die wichtiger waren als alle, die in der Presse erschienen. Daß nicht die wichtigen, sondern die belanglosen Begebenheiten in der Presse erschienen, war für mich selbst inmitten des unfaßbaren Grauens ein Stoff zum Nachdenken.

Meine Kompanie hatte Sturmangriff auf die Dammstraße von Kolubara gemacht. Die hundertfünfzig Schritte hatten mehr als die Hälfte unserer Leute gekostet, Burschen, mit denen ich Tag und Nacht beisammen gewesen war, von denen ich jeden Gedanken und jede Regung kannte. Mit manch einem hatte ich Freundschaft bis zum Tod geschlossen. Heute war der Termin abgelaufen.

Eine Landwehrkompanie hat uns abgelöst. Wir liegen wieder, reduziert, in unserer alten Stellung, die jetzt nicht mehr vorderste Linie, sondern Regimentsreserve ist. Noch immer bombardiert die feindliche Artillerie das hundertfünfzig Schritte breite Maisfeld, dessen Erwerbung uns so teuer zu stehen kam. 275

Mit dem Essen kommt auch Post zu uns, für mich eine Zeitung. Da ich sie aufschlage, wird Fähnrich Frank auf einer Bahre vorbeigetragen, Bauchschuß. Ich trete auf ihn zu:«Grüß mir Prag.« – »Ich komm' nicht mehr bis Prag«, stöhnt er.

Ich schaue in die Zeitung. »Heeresbericht nördlicher Kriegsschauplatz« . . . »südlicher Kriegsschauplatz« . . . Leitartikel: »Gegen die Flucht in die Sachwerte.«

Ich führe eine Patrouille zur linken Nachbarkompanie und frage dort einen Gefreiten, der abseits seine Notdurft verrichtet, nach dem Kompaniekommando. Er weist mit der Hand die Richtung.

Fast gleichzeitig bäumt sich die Erde auf, Schollen sausen mir in den Mund, in die Augen. Da ich wieder sehen kann, sehe ich den Rumpf des Gefreiten auf dem Boden, aus dem Hals spritzt Blut hoch. Die Granate fuhr durch seinen Kopf hindurch ins Erdreich, ein Blindgänger.

Ich bin wieder in meinem Unterstand, mir zittern noch die Glieder, ich bemerke, daß meine Hose mit Blut bespritzt ist. Schnell die Zeitung, nur vergessen, auf andere Gedanken kommen.

»Im Nachlaß des Barons Wladimir Schlichtner fand sich eine von Fragonard mit einem gewagten Bild geschmückte Tabatière, die begreiflicherweise bei der gestrigen Auktion . . .« – »Dem sonntägigen Wettspiel zwischen ›Sportbrüder‹ und ›Deutscher Fußballklub‹, die einander bei ihrem letzten Zusammentreffen nach erbittertem Kampf ein unentschiedenes Spiel lieferten, wird mit um so größerer Spannung entgegengesehen, als . . .«

Sanitäter tragen in einem Zeltplan einen Verwundeten, vor unserem Unterstand legen sie ihn hin, um auszuruhen. Ich schaue in sein Gesicht: es ist fahl. Ich berühre seine Hand: sie ist kalt. Die Legitimationskapsel wird ihm abgenommen, seine Taschen geleert, und er wird hinter den Pflaumenbaum getragen, wo die Toten liegen.

Im Feuilleton: »Um die Firste der Dächer wob das Mondlicht einen silbern-bläulichen, zittrigen Schimmer und verwandelte die Landschaft in eine Fata Morgana, wie sie in den 276 heißen Träumen des Wachens dem Sehnsüchtigen vor der Seele gaukelt.«

Ein Meldegänger der 12. Kompanie fordert von uns Blessiertenträger und Soldaten zum Fortschaffen von 15 Toten und 85 Verwundeten; die Schwarmlinie sei zu sehr geschwächt, als daß ihr Mannschaft entzogen werden könnte.

»Sechster Ziehungstag der 2. österreichischen Klassenlotterie. Je 200 Kronen gewannen folgende Lose . . .«

Ein Soldat, aus dem Mund blutend, bittet um Wasser. Zum Glück ist noch ein wenig kalter Kaffee in der Feldflasche. Er trinkt, wankt weiter, wir wischen sein Blut vom Flaschenhals.

»Javazucker fest, 23,6 bezahlt; Silber: 24,62; Rotterdam (Öle und Fette) Umsatz 6500.« – Aus dem Gerichtssaal: »Das Muster einer braven Tochter scheint die vierundzwanzig Jahre alte Martha Planer aus Komotau . . .«

Der Leichengeruch wird unerträglich. Gott weiß, wann die Pioniere kommen werden, um sie zu begraben.

»Eine Nachricht, die die Verehrerschar von Pauline Ulrich, der auch bei uns rühmlich bekannten Heroine des Dresdner Schauspielhauses, sicherlich hoch erfreuen wird, ist die Verleihung . . . – Morgen wird zum 75. Male, fürwahr ein seltenes Jubiläum, die Operette ›Das Musikantenmädel‹ aufgeführt . . . – In Fräulein Helene Winterfeld, bisher Breslau, scheinen wir nun endlich die Altistin gefunden zu haben, die die schmerzliche Lücke ausfüllen . . .«

Sssswum – eine Granate schlägt beim Hilfsplatz ein, Sssswum – eine zweite schon näher bei uns, Sssswum – die dritte beseitigt unsere Latrine. Wir warten auf die vierte.

»Kreuzherrenplatz. Die blonde Dame im grauen Tailormade wird von sie verfolgendem, nicht unbemerkt gebliebenen Herrn dringendst . . .«

Dort links kriecht jemand aus den Strünken des Kukuruzfelds, ich nehme das Gewehr in Anschlag. Ich erkenne, daß es der Hornist vom 3. Bataillon ist. Seine Uniform ist naß von Blut. Am frühen Morgen bekam er einen Schuß in den Rücken, blieb bewußtlos liegen, erwachte gegen Mittag, kroch stundenlang vorwärts, teils weil er nicht die Kraft hatte aufzustehen, 277 teils weil ihm Kugeln um die Ohren pfiffen. Seine Wunde hat er sich mit einer Wickelgamasche verbunden. Er beginnt zu schluchzen: »So allein war ich, so allein . . .« Die Blessiertenträger erneuern seinen Verband, legen ihn auf ihre Trage. »So allein.«

Wir frieren, und einer sagt: »Schade, daß ich keinen Mantel erwischt hab'.« Wir alle fühlen uns ertappt bei dem gleichen Gedanken: gäbe es doch mehr Tote, damit wir uns mit ihren Mänteln zudecken könnten.

»Eine Liebestragödie in der Weinberger Handelsschule« füllt die Lokalrubrik, hundert Zeilen, an Ort und Stelle recherchiert, sehr sentimental. Es handelt sich um den Selbstmordversuch zweier Schülerinnen aus Liebe zu einem Lehrer. »Eine Liebestragödie!« Wenn das Tragödie heißt, wie heißt denn das, was wir hier ununterbrochen erleben?

Das, was wir hier ununterbrochen erleben, heißt Krieg. Auch über den Krieg erscheinen Berichte in den Zeitungen, wahrlich genug. Aber alles ist falsch und entstellt. Mich beschäftigt die Frage: hätte ich als Kriegsberichterstatter auch solche Geschichten geliefert?

Zwischen mich und meinen alten Beruf hat sich eine Distanz geschoben. Ich sehe jetzt anders. Mein journalistisches mit meinem soldatischen Auge vereint, ergeben ein plastisches Bild der Dinge.

Etwas Ähnliches wie die »Zeitung«, die ich als Kind für mich allein verfaßt und gedruckt hatte, ist jetzt mein Tagebuch. Jeden Tag stenographiere ich meine Lebensweise und meine Gedanken, die Lebensweise und Gedanken von Hunderttausenden. Stundenlang schreibe ich in mein Notizbuch. Die Kameraden spotten: »Schreib das auf, Kisch!« Der Satz wird zur ständigen Redensart. Auch wenn ich nicht dabei bin, unterstreichen die Soldaten ihre Witze, Flüche, Drohungen, Klagen mit einem »Schreib das auf, Kisch!« Kisch schreibt auf, wenn der letzte Hosenknopf abreißt, wenn das einzige Stück Seife in den Brunnen fällt, wenn Blut in den Eßnapf spritzt. Manches schreibe ich auf, was ich als Journalist nicht gewußt hätte. Manches hätte ich als Journalist auch dann nicht 278 geschrieben, wenn ich es gewußt hätte, denn es wäre mir zu belanglos erschienen. Manches schreibe ich auf, was ich als Journalist nicht hätte schreiben dürfen, die Zeitung nicht gedruckt hätte. Mein Tagebuch weiß und darf. Welch ein Unterschied zwischen einem Spezialkorrespondenten und einem Soldaten, zwischen Zeitung und Notizbuch, zwischen einem Tag, den die Zeitung spiegelt, und einem Tag, im Schützengraben überlebt.

Der Heeresbericht meldet kurz und befriedigt: »Unsere Südarmee hat ihre Uferstellungen an der Drinamündung verstärkt.« Für uns sah das so aus: am Morgen waren wir über die Drina in Serbien eingedrungen, und nachts wurden wir wieder zurückgezwungen in die »Uferstellungen«. Es war zwei Uhr nachts, als der Rückzug begann. Vom linken Flügel aus ging in Intervallen eine Kompanie nach der andern zurück. Das Zentrum und der rechte Flügel verstärkten inzwischen ihr Gewehrfeuer, damit die Serben das Manöver nicht merken, nicht unmittelbar die Verfolgung aufnehmen sollten.

Um drei Uhr bildete unsere Kompanie den linken Flügel. Wir zogen uns gegen die Drina zurück. Immerfort durch Gestrüpp, immerfort mußten wir uns zu Boden werfen, Artilleriegeschosse streiften unsere Kappen. Wir verloren die Richtung oder glaubten es wenigstens. »Hierher!« rief einer. »Nach rechts!« rief ein anderer. Bald war alles zerflattert, Gruppen rannten hierhin, Gruppen dorthin.

Wir kamen an einen Fluß, der durch Spiegelung des Mondlichts etwas Helle gab. Ist das die Save? Wenn es die Save ist, sind wir oberhalb oder unterhalb der Drinamündung? Einer will eine Streichholzschachtel ins Wasser werfen, um die Stromrichtung festzustellen. »Die Schachtel ist zu schade«, wehren die Freunde. – »Sie ist ja leer.« – Aber auch eine leere Streichholzschachtel ist ein Wertobjekt. So werfen wir eine Feldpostkarte in den Fluß. Sie schwimmt nach rechts, wir gehen nach links. Soldaten kriechen aus dem Uferschilf und schließen sich uns an, andere überholen uns, wieder andere kommen uns entgegen und beteuern, daß wir in falscher Richtung gehen. Allerdings, wenn der Fluß, in den wir die 279 Postkarte warfen, nicht die Save, sondern die Drina war, entfernen wir uns von der Überschiffungsstelle. Aber bald hören wir, hören entsetzt, daß wir richtig gehen.

Ein ungeheuerliches Gedränge saugt uns auf. Soldaten werfen Gewehre und Tornister von sich, ziehen ihre Stiefel aus. Hunderte stehen im Wasser, um sich in dem herüberkommenden Ponton einen Platz zu sichern, bevor er anlegt. Durch Gebrüll und durch Schwenken der Arme wollen sie den Ponton veranlassen, bei ihnen anzulegen.

Andere haben die Absicht, den Strom bis ans österreichische Ufer zu durchwaten. Mit den Armen das Gleichgewicht herstellend, stapfen sie vorwärts, eine geschlossene Gruppe. Ihr schließe ich mich an. Weil das Gewehr an meiner Schulter mich am Balancieren hindert, stecke ich den Kopf in den Gewehrriemen. Wir stolpern über Tornister, Brotsäcke und Gewehre, die im Flußbett liegen. Kaum ein Viertel der Strombreite haben wir zurückgelegt, als ein verstörter Haufe uns entgegenkommt: es geht nicht weiter, der Fluß ist zu tief, die Strömung wirft einen um.

Mit einemmal erhält das Schreien einen gemeinsamen Text: »Die Serben sind schon am Ufer!« Tatsächlich verdichtet sich das Pfeifen der Projektile, ein horizontaler Regen prasselt los, nicht über unsere Köpfe sausen jetzt die Schüsse, sondern ins Wasser. Ins Wasser, in dem wir sind.

Wir hasten nach rechts und zurück, denn nur links, so scheint es, sind die Serben. Wer kann, beginnt zu schwimmen. Fünf Schritte schräg vor mir schwimmt Oberleutnant Batek. Ich rufe seinen Namen, aber er hört mich nicht. Ich will ihn einholen, da taucht sein Kopf unter und kommt nicht mehr zum Vorschein.

Rings um mich Ertrinkende, gegen den Ertrinkungstod sich Wehrende, Jappende, Röchelnde. Der oder jener versucht, sich den Krallen des Wassers zu entreißen, springt hoch, um sich an dem Nichts emporzuziehen. Im gleichen Augenblick sinkt er zurück. Manchmal verliert einer den Boden, während sein Nachbar noch aufrecht steht; der reicht ihm die Hand und rettet ihn. Wenn sich Nichtschwimmer an 280 Schwimmer klammern, werden sie verzweifelt abzuschütteln versucht. Gemeinsam schlagen sie um sich, gemeinsam sinken sie in die Tiefe.

Plötzlich geht eine Bewegung nach links durch die Massen, obwohl man links die serbischen Schützen vermutet. Aber von dort scheint auch Rettung zu winken. Links fahren drei unserer Pontons dem serbischen Ufer zu, um Soldaten aufzunehmen. Mitgerissen eile auch ich hin (soweit man eilen kann, wenn das Wasser fast bis zum Hals reicht). Einer der Pontons wird von den im Fluß Stehenden aufgehalten, bevor er ans Ufer kann. Der Ponton liegt quer. Während alle auf der ihnen zugekehrten Seite in den Kahn springen, stapfe ich zu der entfernteren, zu der dem österreichischen Ufer zugekehrten, und fasse den Bordrand. Noch ein zweiter ist so schlau gewesen und hängt schon dort.

Ich bitte einen im Kahn, mich hineinzuziehen. Er packt mich, vermag mich aber nicht über den Rand zu heben, so hoch ich mich auch emporziehe. Ein anderer Bootsinsasse bemüht sich, meinen Nachbar ins Innere zu zerren, gleichfalls vergeblich. »Hilf zuerst dem da und dann mir«, sage ich, zu dem, der mit mir beschäftigt ist.

Er tut es, und mein Nachbar ist drinnen.

Der Ponton hat sich gefüllt, die Insassen verlangen: »Abstoßen, keinen mehr hereinlassen!« Ich rufe meinem Helfer zu, jetzt wieder mir zu helfen, aber der denkt nicht mehr daran, ebensowenig mein früherer Nachbar, der mir seinen Platz im Boot verdankt.

Unterdessen ist das ganze Fahrzeug, einschließlich meiner privilegiert geglaubten Pontonseite, von etwa sechzig verzweifelten Händen umsäumt. »So können wir nicht rudern«, schreien die Pioniere, und das ist das Signal zu einem Angriff gegen die Hängenden. Mit Gewehrkolben schlägt man auf sie ein, bis sie loslassen. Sie fallen ins Wasser, tauchen auf und sinken wieder unter.

Der Aufgabe, mich vom Bootsrand abzuschütteln, unterzieht sich ein Bursch, dessen Gesicht ich niemals vergessen werde. Auf seiner Bluse trägt er die papageigrünen Aufschläge 281 der Einundneunziger, eine golden glänzende Locke schwingt sich zum Auge hin; zu diesem Blond passen die Augen, hellblaue große Kugeln, gutmütige Augen, möchte man sagen. Diese Augen würdigen die meinen keines Blickes, sind nur auf meine Finger gerichtet, die sich verzweifelt an die Brüstung klammern.

Im Boot knieend, beginnt er meine Hände vom Bootsrand zu lösen, so gleichmütig, als schäle er Nüsse. Es gelingt ihm, meine rechte Hand zu öffnen, und er macht sich an meine linke. Im gleichen Moment aber habe ich mich von neuem mit der rechten Hand festgekrallt.

So geht es also nicht. Einen Augenblick denkt er nach, wobei er seine Mütze in den Nacken schiebt, dann faßt er mit einer Hand meinen linken kleinen Finger, mit der anderen den rechten und versucht, sie zu brechen.

Während dieser Prozeduren bin ich keineswegs stumm. Zuerst flehe ich ihn an, verspreche ihm ewig dankbar zu sein, appelliere an seine Kameradschaft, erkläre ihm, daß durch mich das Boot ja nicht umkippen werde.

Das alles berührt ihn kaum. Schon hat er meinen linken kleinen Finger in seiner Macht. »Du feiger Hund«, brülle ich, »ich kenne dich genau. Wenn ich hinüberkomme, zeige ich dich als Mörder an.«

Verfehlt ebenfalls jede Wirkung. Ich habe ihm den Finger wieder entwunden, er hebt seinen Fuß, um auf meine Hand zu treten, aber der Bootsrand ist zu hoch. Nur ein Fußstoß in die Fingerspitzen trifft mich.

Die im Boot sind wütend, daß ich mich geradezu dagegen auflehne, ertränkt zu werden. »Helft mir, diesen da ins Wasser schmeißen«, ruft der Goldblonde.

Nun will ich nicht weiter lästig fallen, lasse mich los und plumpse hinab. Stehen kann ich nicht mehr, das Wasser ist zu tief. Ebensowenig vermag ich zu schwimmen. Bei jedem Tempo schiebt sich mein Gewehr hoch und gibt mir einen Nackenstoß. Den Gewehrriemen über den Kopf zu zerren, um mich des Gewehres zu entledigen, gelingt nicht. Ich muß 282 Wasser treten, aber die schweren Kommißstiefel zerren mich grundwärts.

Inzwischen hat sich der Ponton gedreht und Fahrt gewonnen. Er ist an einer so tiefen Stelle, daß er keinen weiteren Angriff von Fußgängern zu gewärtigen hat. Fast fährt er über mich hinweg. Mit letzter Kraft schnelle ich mich hoch und packe ihn am Heck. Mein Gesicht presse ich an die Bordwand, ich möchte nicht gesehen werden, am allerwenigsten von den blauen Kulleraugen.

In die Pfiffe der Projektile, in das Aufwimmern der Getroffenen, in die Schreie, Schreie, Schreie vom Ufer her mischen sich jetzt neue Töne, das tiefe Surren von Schrapnells. Ihre Füllkugeln dringen ins Wasser und ins Blut.

Ein Sprengstück – oder sind es mehrere? – saust in den Ponton. »Der Boden ist durch!« – »Zeltblätter, Mäntel hineinstopfen! Schnell, schnell! Rascher!!« Ich höre diese Rufe, ohne etwas zu sehen. Nebenan gleitet ein anderer Ponton, ein Artilleriegeschoß schlägt direkt hinein; der Ponton kippt um, ich schaue weg.

Der unsrige bewegt sich rasch, die Strömung treibt ihn ab, einige hundert Schritte nördlich von der Überschiffungsstelle kommt er nahe ans österreichische Ufer. Er landet nicht am Ufer, sondern einige Meter davon entfernt. Die Insassen springen heraus, helfen einander mit Stoßen und Ziehen über den lehmigen Flußgrund und die glatte Böschung. Bevor ich mich von der Hinterwand nach vorn gegriffen habe, ist der Ponton leer.

Ich versuche, an Land zu gehn, das Wasser reicht mir bis ans Kinn, die Strömung tut, was sie kann, mich umzuwerfen, ich rufe um Hilfe. Einer oder der andere wendet den Kopf, aber jeder ist froh, die Böschung erklommen zu haben; keiner kehrt zurück. Ich glaube, einen Kompaniekameraden zu erkennen. »Neumaier!« schreie ich, »Neumaier!« aus Leibeskräften. Neumaier fragt zurück: »Wer ruft mich?« – »Ich, der Kisch.« Er kommt herunter, streckt mir sein Gewehr entgegen, ich fasse es, er zieht mich an Land. Der Uferrand ist abschüssig und glitschig, an meinen Sohlen klebt der Lehm des 283 Flußgrunds. Ich bin am Ende meiner Energie, meine Finger schmerzen vom Fußstoß des Kulleräugigen und meine Arme vom Festhalten am Boot. Ich verliere das Gleichgewicht, falle rücküber ins Wasser. Neumaier springt mir nach, richtet mich auf. Er stellt sich hinter mich, packt mich bei den Hüften, stößt mich vorwärts und aufwärts über den Damm.

Boden, Boden unter den Füßen!

Eine jämmerliche Kolonne trabt längs der Böschung, noch jämmerlicher, noch zerlumpter als Falstaffs Lumpenpack; nackte Soldaten, Soldaten mit einem Zeltblatt über nacktem Körper; Soldaten im Hemd; Soldaten in Unterhosen und Soldaten in Uniformresten trotten apathisch und ziellos einher, naß und triefend, zähneklappernd vor überstandener Angst und vor nicht überstandener Kälte.

Am Straßenrand leere ich meinen Brotbeutel. Als flüssiger Brei liegt der Zwieback darin, dazwischen der Tabak meiner Zigaretten. Klaffend ist die Blechkapsel in meiner Hosentasche geöffnet, mein Name auf dem Legitimationsblättchen ist ein unleserlicher Fleck geworden. Egal, mag man mich als X oder Y begraben.

Mein Tagebuch war mit Tintenstift geschrieben, nun sind die Eintragungen verwischt, davongeschwemmt. Der Tintenstift selbst – er steckt zwischen den Seiten – ist unbrauchbar geworden, seine Mine hat sich in ein Liquid liquidiert.

Ich starre auf die violette Sauce, die gleichmäßig die Seiten des Tagebuchs bedeckt. Kein Wort zu lesen. »Schreib das auf, Kisch«, hatte mein gesellschaftlicher Auftrag gelautet. Ich hatte das aufgeschrieben, was kein Kriegsberichterstatter aufschrieb. Nun aber ist der Zensor gekommen, unbarmherzig hat er alles verlöscht, sogar den Tintenstift unschädlich gemacht für künftige Zensurwidrigkeiten.

Beim Gendarmeriehaus treffe ich Neumaier, der sich in Ertrinkungsgefahr begeben und alles aufgeboten hat, um mich zu retten. Rauchend sitzt er da. »Neumaier«, sage ich, »laß mich einen Zug aus der Zigarette machen.« Unwillig lehnt er ab. 284

Von unserer Division sind kaum tausend Mann übriggeblieben. Dreitausend sind vermißt – erschossen oder ertrunken binnen wenigen Stunden auf einer winzigen Fläche. Das Erdbeben von Messina oder der Tribüneneinsturz bei der Krönung des Zaren waren harmlose Lokalfälle im Vergleich mit dem, was sich heute nacht ereignete. Es ist vielleicht die größte Katastrophe des Jahrhunderts.

Ich denke nach, wie ich das Zeitungstelegramm formulieren würde, wenn ich eins absenden dürfte. Auf die Idee komme ich nicht, auf die zur gleichen Stunde der Verfasser des Heeresberichts kommt: »Unsere Südarmee hat ihre Uferstellungen an der Drinamündung verstärkt.«

*

Ein halbes Jahr später wurde ich an der russischen Front verwundet, lag im Hospital und kam eines Tages wieder ins Bärenhaus. Hier sang mir der kahlköpfige Gatte von Hannchen, genannt »Hanka Falschheit«, der blinde Methodius, die Elegie vom Übergang über die Drina. Sitzend, meinen Rücken auf Kissen gestützt, hörte ich die zwanzig Strophen des Liedes, zwanzig Strophen, die das Echo von Todesschreien ertrinkender Soldaten waren.

»Pure Erfindung«, bemerkte mein Bruder. »Kein Wort von so etwas stand in den Zeitungen.« 285

 


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