Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Die zusammengewachsenen Schwestern

Sehr merkwürdig erging es mir mit Rosa Blažek, der älteren der zusammengewachsenen Schwestern, sofern man bei zusammengewachsenen Schwestern von einer älteren sprechen kann. Rosa und Josefa Blažek stammten aus Škrejchov bei Mnichovice, einem Nest bei einem Nest, und wurden schon im Säuglingsalter auf Jahrmärkten gezeigt, wie sie zu zweit auf einem einzigen Nachttöpfchen saßen. Aus den böhmischen Dörfern kamen sie direkt nach New York und von dort zerrte man sie als Schauobjekt und Ausbeutungsobjekt durch die Welt. Überall wurden für die »Siamesischen Zwillinge aus Böhmen« wahre Wirbel auf der Reklametrommel geschlagen, unter anderem erhob ein Zirkusbesitzer Klage gegen die Eisenbahnverwaltung, weil »von Fräulein Rosa-Josefa Blažek« die Bezahlung zweier Fahrkarten gefordert wurde.

In der Tat benutzte das Paar nur eine Sitzgelegenheit. Bisher waren die meisten zusammengewachsenen Zwillinge sogenannte Ischiopagen gewesen, das heißt nebeneinanderstehende Wesen. Rosa und Josefa hingegen waren ein Pygopage, ihre Rümpfe standen in einem Winkel zueinander.

Intimere Details verbreitete eine Schrift, verfaßt von zwei Dozenten der Psychiatrischen und Nervenklinik an der Königlichen Charité zu Berlin: »Über das psychische und sonstige Verhalten des Pygopagen Rosa-Josefa Blažek«. Wie die beiden Lehrer der Seelenforschung einleitend hervorheben, »verdanken wir das Glück, eine so haargenaue Schilderung samt graphischer Skizze präsentieren zu können, dem Umstand, daß die Mutter des Pygopagen schwer erkrankt im Charité-Krankenhaus lag, gerade zu der Zeit, als ihr Tochterpaar ein Engagement in Castans Panoptikum antrat. So konnten wir sie veranlassen, uns ihre Töchter zur Beobachtung und Untersuchung zu übergeben, wiewohl sich 183 die Familie sonst gegenüber der Neugier des Publikums und auch wissenschaftlich interessierter Kreise sehr zurückhielt.«

Mit dem gedruckten Ergebnis dieser Untersuchung mußten die Mädchen, nachdem sie ihr Duett gesungen und ihr Geigenspiel beendet hatten, dem Publikum die »Sensationelle Beschreibung unseres Körpers« zum Verkauf anbieten.

Im Sommer 1909 kamen die Schwestern auf einem Umweg über den ganzen Erdball zum erstenmal nach Prag. Auf den Plakaten hießen sie »Ruža« und »Joža«, wie in ihrer Kindheit. Aber ihre Mutter, für die sie wohl immer so geheißen hatten, kehrte nicht mit ihnen in die Heimat zurück, die Škrejchover Bäuerin war in Singapore gestorben, und von ihren Töchtern hatte ein italienisch-amerikanischer Impresario Besitz ergriffen.

Beladen mit Broschüren, Sonderdrucken und Zeitungsausschnitten, besuchte er die Redaktionen, um die Reklame zu organisieren. Auch mich ersuchte er um den Abdruck des Materials, ich aber wollte selbst einen Artikel über die Zwillinge schreiben, die den Namen Böhmens in die exotischsten Himmelsstriche trugen. Ich schlug dem Manager vor, mir Gelegenheit zu geben, die Schwestern in ihrem Privatleben zu schildern. »Allright«, sagte er smart und amerikanisch, »va bene«, fügte er temperamentvoll und italienisch hinzu, »morgen haben die Girls Geburtstag, wir werden ihn abends zusammen feiern. Ist das o. k.?«

In ihrer Wohnung waren die Zwillinge anfangs recht befangen und benahmen sich konzertmäßig, und auch ich wußte mich nicht recht in die Situation zu schicken als Geburtstagsgast, als Freund an ihrem Tisch zu sitzen und dennoch ein Wildfremder, ein Späher der Öffentlichkeit zu sein. Erst nach und nach fielen einige Schranken. Seit langem hatten die Mädchen nicht mehr mit einem Dritten tschechisch gesprochen, und ich hatte noch nie Whisky getrunken. Whisky schien mir ein harmloses Getränk, der Impresario trank ihn pur, die Mädchen zwar mit Sodawasser, aber Glas auf Glas, und ich mit ihnen. 184

Noch heute, dieweil ich dieses schreibe, liegt ein whiskyfarbener Schleier über meinem Erinnerungsbild. Dahinter schwebt ein vierfüßiges, vierhändiges, zweiköpfiges Fabelwesen, halb himmelblau, halb scharlachrot. Die himmelblaue Halbfee Rosa hat ein aufwärts gerichtetes Näschen, »in das es hineinregnet«, wie man hierzulande sagt. In ihrem Kinn hat der Finger des Schöpfers ein Grübchen hinterlassen, als er auf sie wies: »Die da ist ganz nett«. Dunkelblond sind ihre Locken. Ihre Pupillen schimmern wie das helle Grün eines Dorfweihers.

»Gibt's einen Teich in Škrejchov?«, frage ich.

Rosa weiß es nicht, so lange war sie nicht mehr daheim; ihr Daheim heißt jetzt Unterwegs. Sie ist kein Landmädchen geworden wie die Nachbarkinder, sie tanzt nicht bei der Dorfmusik mit den Bauernburschen, sie ist blaß und mager wie kaum ein anderes Mädchen im Heimatdorf, aber dafür hat sie gelernt englisch zu sprechen und Whisky zu trinken statt Pilsner Bier. Sie rät mir, nicht so viel Soda zum Whisky zu nehmen, und noch ein Glas zu trinken und wieder ein Glas. Wir fangen an zu flüstern, Rosa neigt sich zu mir, wobei sie nolens volens den Kopf Josefas mit herüberzieht, und ich streichle Rosas Hals, – spürt es auch Josefa?

Nein, sie spürt es nicht. »Gemeinsam ist die Sensibilität nur im Gebiete . . .«, habe ich gelesen. Seltsam, sich einem Mädchen zu nähern, von dem man einen Situationsplan mit Grundriß und Aufriß in der Tasche hat.

Unser Geflüster scheint dem Mister Signor nicht zu gefallen und der Josefa ebensowenig. Der Impresario fürchtet wohl, daß Rosa mir, das heißt der Presse, in der ihm nicht verständlichen tschechischen Sprache zu viel anvertrauen könnte. Josefa fürchtet zwar nichts, aber sie ist links liegengelassen, und das ärgert sie offensichtlich. Ich frage Josefa, warum sie so still ist, ob sie schlechter Laune sei.

»Ach, lassen Sie sie!«, sagt Rosa. »Die ist immer so.«

Wie? Sind denn Rosa und Josefa nicht auch psychisch eine Einheit, sind sie nur ein Leib, nicht auch eine Seele? 185

Arme Geschöpfe! Lebenslänglich einander verhaftet, lebenslänglich abgesondert von anderen, ist keine von beiden jemals allein. Das Verdikt »Lebenslänglich« ward gefällt bei ihrer Geburt und wird dauern bis zu ihrem Tod, mit dem es anfängt todeslänglich zu werden. Zusammen werden sie im Grabe liegen oder in der mächtigen Spiritusflasche eines anthropologischen Museums. Und am Jüngsten Tag müssen sie einen Urteilsspruch entgegennehmen, der für beide gilt. Denn wie könnten um die eine Hüfte die linden Lüfte des Paradieses wehen, dieweil die andere Hüfte im Teufelskessel schmort?

Aber nicht einmal die Aussicht auf die Unzertrennlichkeit im Jenseits hat die Dualität zu einer Indivi-Dualität verschmolzen. Meine Verwunderung darüber veranlaßt Rosa, die Eigenschaften Josefas zu bekritteln. Josefa repliziert, und im Nu ist ein gehässiger Streit im Gange, der tätlich zu werden droht.

»Habt ihr euch schon einmal geprügelt?«, frage ich.

»Als wir noch klein waren. Aber bald sind wir darauf gekommen, daß uns jeder Schlag genau so weh tut, wenn wir ihn geben wie wenn wir ihn bekommen.«

Dem zusammengefleischten Haß ist also selbst dieses Ventil genommen und es bleibt zwischen ihnen nur ein ewiges Gequengel. Auch zum heutigen Festtag, der freilich an den fluchwürdigsten Tag ihres Lebens, den ihres Geborenwerdens erinnert, macht der Streit die Begleitmusik. Je herzlicher ich mit Rosa werde, desto obstinater wird Josefa; bald hat sie an Rosas Frisur, bald an ihrem Benehmen etwas auszusetzen. Obwohl sie dem Whisky nicht weniger zuspricht als Rosa, weigert sie sich, mit ihr eine neue Flasche vom Fensterbrett zu holen; als Rosa resolut aufsteht, um die Flasche zu bringen, läßt Josefa sich widerwillig nachschleppen.

Unbemerkt geht der Abend von der Farbe des Whisky in die der Morgendämmerung über; da ich mich verabschiede, döst der Impresario-Manager im Nebenzimmer vor 186 geleerten Whiskyflaschen; an Rosas Seite ist Josefa eingeschlummert.

Am nächsten Tag, als ich den Bericht schrieb, fühlte ich mich selbst wie ein Doppelwesen: ein privater Romantiker zusammengewachsen mit einem beruflichen Realisten. Einerseits wollte ich kein indiskreter Gast sein, andererseits war ich ja eingeladen worden, um die Absurdität effektvoll und geschäftsbelebend zu schildern. Nun, ich entlehnte die Realistik den medizinischen Abhandlungen und ließ der Romantik in einer Hymne auf Rosa freien Lauf.

Ein Prager Skandalblatt, »Der Arm mit dem Schwert«, bediente sich meines Berichts, um unter dem Vorwand der Empörung und mit dem Mittel der Vergröberung die Geburtstagsfeier in eine Orgie zu verwandeln. Meine Bekannten hänselten mich mit Rosa, wollten Details über das Fest wissen, und mancher Besucher der Blažekschen Schaustellung machte hohe Angebote, um ebenfalls eine Privateinladung zu erhalten.

Erfolgreich hätten die Zwillinge ihr Gastspiel in der Heimat verlängern können, jedoch eine Tournee-Verpflichtung rief sie nach Marokko, Algier, Tunis und Ägypten, und erst nach der Rückkehr von dort traten sie wieder einen Monat lang in Prag auf. Ich glaubte sie längst abgereist, als ich eines Tages ihren Italo-Amerikaner in einem Laden traf. Er war von der Begegnung offensichtlich unangenehm berührt, und auf meine Frage, ob auch die Damen noch hier seien, stotterte er, sie fühlten sich ein wenig unwohl und seien deshalb vorläufig in Prag geblieben.

»Ich möchte sie gerne besuchen«, sagte ich.

»No, Sir, das ist unmöglich, sie sind krank, sehr krank, a rividerci, good bye.«

Da stimmte etwas nicht, da lag etwas vor, was er verheimlichen wollte. Selbst eine gewöhnliche Krankheit solch ungewöhnlicher Menschen ist keine gewöhnliche Krankheit.

Ich ging in die Wohnung, in der wir den Geburtstag gefeiert hatten. Dort saßen neue Mieter, die Schwestern Blažek waren mit Monatsende übersiedelt. Wohin? Die 187 Hausbesorgerin wußte es nicht. »Ich glaube, sie sind abgereist«, sagte sie. »Wohin?« fragte ich wieder. Die Hausbesorgerin sagte, sie habe keine Ahnung. Erst ein Trinkgeld brachte ihr in Erinnerung, daß der amerikanische Herr sie gefragt hatte, von welchem Bahnhof man nach Ričan fahre. »Vielleicht«, sagte sie, »vielleicht sind sie nach Ričan gefahren.«

»Vielleicht« ist vielleicht das Wort, dachte ich, das das Wagnis von der Pflicht unterscheidet, vielleicht sollte das Wort »vielleicht« das Losungswort des Reporters sein. Der Weg, dachte ich weiter, zu den Begebenheiten, zu denen er eingeladen wird, führt zu nichts, der Vielleicht-Weg führt vielleicht auch zu nichts, vielleicht aber auch zu etwas.

Also nach Ričan, – vielleicht wird sich die Bahnfahrt lohnen, vielleicht sind die Schwestern dort.

Im Dorf Ričan hatte niemand sie gesehen oder von ihrem Hiersein gehört. Ich fragte nach dem Krankenhaus, es gab keines. Es gab nur ein Entbindungsheim in der Villa des Doktor Polifka.

Vom Gärtner der ersten besten Villa ließ ich mir einen Blumenstrauß binden und betrat die Villa Polifka. »Ich möchte die Damen Blažek besuchen.«

»Blažek?« Der Pförtner schüttelte erstaunt den Kopf: »Wir haben keine Frau Blažek hier.«

Zu meiner und meines Blumenstraußes Entschuldigung sagte ich: »Die Schwestern Blažek haben mir doch geschrieben, daß sie . . .«

»Ach so, Sie meinen diese Zusammengewachsenen?«

»Ja, sind sie nicht hier?«

»Die sollten vor ein paar Tagen zu uns kommen, aber statt dessen gingen sie auf die Klinik Kukula. Es war nur eine Appendicitis. Mein Gott, die Weiber, die reden sich leicht ein Kind in den Bauch.«

Unverrichteter Dinge mußte ich zum Bahnhof zurück. Mein Bukett warf ich ärgerlich über einen Gartenzaun.

Auf ein »vielleicht« hin, noch dazu auf das von einem Trinkgeld hervorgerufene »vielleicht«, hatte ich eine 188 Eisenbahnfahrt gemacht, Blumen gekauft, einen Nachmittag vergeudet.

»Vielleicht« ist vielleicht das Wort, dachte ich, das den Erfolg ausschließt, vielleicht sollte das Wort »vielleicht« ein Warnungswort für den Reporter sein, vielleicht sollte er auf ein »vielleicht« hin niemals eine Recherche unternehmen. Der Weg, dachte ich weiter, zu den Begebenheiten, zu denen er eingeladen wird, führt vielleicht doch zu etwas, der Vielleicht-Weg führt zu nichts.

Erst in zwei Stunden geht der Zug nach Prag. Ričan ist kein richtiges Dorf, es ist eine Villensiedlung, keine Bauernhäuser gibt es hier, keine Dorfschmiede, keine Mühle, keinen Weiher. Nur der Aprilwind, der mich heftig anfaucht, mag in Ričan wie in Škrejchov der gleiche sein, ein starker, feuchter und kühler Wind. Ich schäme mich vor ihm und gestehe mir ein, daß ich hier nichts zu suchen hatte.

Gut, daß die Mädchen nicht in der Villa Polifka liegen, das wäre ein zu arges Mißgeschick. Eine Blinddarmsache ist glücklicherweise nichts Gefährliches, und nichts, was man geheimhalten müßte. Milder weht der Wind, streichelt mich, als wäre er mit mir einverstanden.

Dann aber sitze ich wieder im Eisenbahnzug, die Fenster sind geschlossen, rauchig, stickig ist die Luft im Abteil. Haben die Mädchen eigentlich einen gemeinsamen Blinddarm, oder haben sie zwei? Davon stand nichts in den anatomischen Untersuchungen, auch nicht in der psychisch-somatologischen. Warum sollten die Schwestern zuerst in ein Entbindungsheim kommen? Warum hat man dem Kollegen von der Reporterbörse, der täglich im Allgemeinen Krankenhaus die eingelieferten Fälle notiert, verschwiegen, daß die Blažeks auf der Klinik liegen?

»Vielleicht« ist vielleicht schlecht, »vielleicht« ist aber vielleicht gut, dachte ich und ging zum Krankenhaus. Ohne in der Aufnahmekanzlei nach den Blažeks zu fragen, stieg ich geradewegs die Treppe hinauf in die Klinik Kukula.

Da trat Professor Pitha in einem weißen Mantel und begleitet von zwei Herren in weißen Mänteln aus einer Tür 189 am Ende des Korridors. Was macht Professor Pitha hier, der Leiter der geburtshilflichen Klinik? Unter normalen Umständen hat ein Gynäkologe bei den Chirurgen nichts zu tun, am allerwenigsten im Leinenkittel.

Ich verbarg mich vor den Ärzten und klopfte nach einer Weile an die Tür, aus der sie gekommen waren. Drinnen krähte ein Stimmchen. Eine mächtige Dame, mehr Wehmutter als Krankenschwester, trat heraus, sehr brüsk, sehr abweisend.

Ich sei von der Wiener Gynäkologischen Klinik, sagte ich, Herr Professor Pitha habe mich herbestellt.

Die Wehmutter änderte sofort den Ton. Leider sei Professor Pitha eben fortgegangen, in diesem Moment.

»Macht nichts, es ist nicht so eilig. Wann kommt denn Herr Professor Pitha wieder?«

»Heute nacht wird die Patientin« – sie verbesserte sich lächelnd –, »werden die beiden Patientinnen weggebracht, wegen der Zeitungen, Sie verstehen.«

Ich legte alle Verachtung, die ein Wissenschaftler für die Presse aufbringen kann, in meine Miene und sagte skeptisch: »Diese Kerle schnüffeln ja doch alles heraus.«

»Bis jetzt wissen sie nichts, obwohl schon drei Tage vergangen sind. Und wenn erst die Patientinnen von hier weg sind, kann niemand etwas erfahren.«

»Bravo! Und drinnen? Alles in Ordnung?«

»Alles normal, die Kindesmutter normal und auch der Bub normal. Selbst Fräulein Josefa schimpft nicht mehr so viel, obwohl sie noch immer Milchbildung hat. Entschuldigen Sie, ich muß wieder hinein.«

Die Nachricht schwang sich aus unserer Redaktion auf den Telegrafendraht, sprang auf die Druckmaschinen und drang zu den Lesern in allen Ländern: Ein halbes Doppelwesen gebärt ein Kind, die andere Hälfte zeigt sich empört, denn wie kommt sie dazu, gleichfalls das Wochenbett zu hüten und Milch in ihrem jungfräulichen Busen zu spüren, unschuldig, ohne Mehranlaß! 190

War der Fehltritt Rosas wirklich ohne Wissen, ohne Einverständnis und ohne Mitgefühl Josefas erfolgt? Hatte diese etwa geschlafen? War sie betäubt worden? Wenn nicht, warum hatte sie sich nicht entfernt, die moralisch gefährdete Schwester mit sich ziehend?

Amerika kabelte den Prager Zeitungen diese Fragen, und für die Antworten gab es Dollarschecks. Ich schrieb nichts, ich war der Sache nicht froh.

Bald aber schwand mein Schuldbewußtsein, denn ich wurde Zeuge von Indiskretionen und Konkurrenzmanövern aus dem Professorenkreis, und sie waren um nichts geringer als die der Tageszeitungen.

Hatten seinerzeit jene zwei Berliner Psychiater ihr »Glück dem Umstand verdankt, daß die Mutter des Pygopagen schwer erkrankte«, so verdankten nun eine Reihe von Gynäkologen ihr Glück dem Umstand, daß eine Tochter der alten Blažek in andere Umstände gekommen war. Die Geheimhaltung der Geburt und die Wegschaffung der Wöchnerin waren nur deshalb angeordnet worden, weil sich einige Professoren die Erstveröffentlichung sichern wollten. Jetzt, da das Geheimnis enthüllt war, jagten medizinische Reklamefeitel aus aller Welt heran, um wenigstens etwas von der Nachgeburt zu erhaschen.

Dank seiner machtvollen Beziehungen konnte der Wiener Hofrat Schauta, genannt »Habsburgs Klapperstorch«, von der Entbindung Rosas und der Milchbildung Josefas den Rahm abschöpfen. »Ich bin in der außerordentlich glücklichen Lage«, begann er seinen Vortrag, zu dem die Tagespresse eingeladen war, »als erster über ein Ereignis wissenschaftlich zu referieren, das bis jetzt niemals bei einer Doppelmißbildung zur Beobachtung kam: die Geburt eines Kindes.« Hofrat Schauta, der über jedes freudige Ereignis im Kaiserhaus oder in Theaterkreisen erschöpfende Interviews zu geben pflegte, fuhr fort: »Es ist klar, daß mir jedes Sensationsbedürfnis fernliegt und es mir nur um die erste Festlegung dieses historischen Phänomens zu tun ist.« 191

Ganz ließen sich die Prager Kollegen Schautas das Recht der Erstgeburt nicht rauben. Professor Pitha führte Mutter, Tante und Kind in der Aula vor, und sie mußten mitanhören, wie er in ihrer Muttersprache ironisch bedauerte, nicht auch den Freund Rosas vorstellen zu können, der sich durch die Vaterschaft den Dank der Wissenschaft erworben.

Inmitten der ärztlichen Rivalitätskämpfe machte der italienisch-amerikanische Impresario sein Geschäft, obwohl die Mädchen nicht mehr auftraten. Er ließ Photos und Ansichtskarten des Wochenbetts herstellen, in dem Rosa mütterlich-verklärt lächelte, während der Photograph der Josefa ein »Bitte, recht feindlich« eingeschärft zu haben schien; die Bilder wurden in Massen abgesetzt. Außerdem nützte der Impresario die Wochen des Wochenbetts dazu aus, um lnterviews mit der schuldigen Kindesmutter und der unschuldigen Kindestante gegen hohe Bezahlung an amerikanische Korrespondenten zu vermitteln. Er gab auch selbst Auskünfte über die mirakulöse Empfängnis, wobei er in Abrede stellte, der Kindesvater zu sein; und weil er wußte, daß die Geburtsnachricht von mir stammte, deutete er rachsüchtigerweise an, ein Prager Journalist sei der Autor des Kindes.

»Allgemeinem Vernehmen nach wird das neugeborene Söhnchen der Schwestern Blažek«, stand im »Arm mit dem Schwert« zu lesen, »auf den Namen Egon getauft werden; wäre dem Kind ein angewachsener Bruder mitgeboren worden, so hätte dieser den Namen Erwin erhalten zu Ehren des Reporters, der die Zeugung vorgenommen haben soll, um die Nachricht von der Geburt als erster veröffentlichen zu können.«

Demgegenüber erkläre ich hiermit, daß ich nur die Nachricht von der Geburt des Kindes in die Welt gesetzt habe, nicht aber das Kind selbst. 192

 


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