Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Perverses Vorspiel

Außer einer alten Dame mit ihrem Sohn waren keine Gäste in der Brünner Vorstadtpension, in der ich wohnte. Der Sohn war ein untersetzter Herr, Mitte der Dreißig, vielleicht ein Bankbeamter. Er trug einen Kneifer und sah, wenn man so sagen kann, auffallend uninteressant aus. Während der zwei Tage, in denen ich mit ihnen zusammenwohnte, wechselten wir, so gerne sie auch anscheinend ein Gespräch angeknüpft hätten, kein Wort miteinander.

Am Morgen schaute ich – o Dantesche Neugier! – die im Vorzimmer liegende Post an, obwohl ich keine zu erwarten hatte. Es waren zwei Karten für den Pensionsinhaber und ein Brief aus Teschen für Frau Prochaska da. So hießen also die alte Dame und ihr Sohn. Prochaska ist der gewöhnlichste Name in Österreich, wie Lehmann der gewöhnlichste Name in Deutschland ist; deshalb wurden Kaiser Franz Joseph »Prochaska« und Kaiser Wilhelm »Lehmann« genannt.

Am gleichen Nachmittag ging ich mit meinem Freund Hugo meiner Pension zu, als uns in ihrer Nähe ein Platzregen überraschte. Passanten liefen ins nächste Kaffeehaus, wir mit ihnen. Es war überfüllt, nur an einem kleinen Tisch fanden wir zwei Stühle frei. Auf dem dritten saß mein Pensionsnachbar und machte ein gelangweiltes Gesicht. Er hatte keine interessantere Gesellschaft als sich selbst gefunden, kannte also keine Menschenseele in der Stadt.

Mein Freund Hugo zog aus seiner Aktentasche Photos von neuen Filmen. Neugierig wie ein Kiebitz lugte unser Nachbar auf die Bilder, worauf Hugo ihm eines nach dem anderen reichte. Auf diese Weise entstand ein Gesprächsbeginn, just so uninteressant wie unser Nachbar und sein Name. Er fragte, ob wir aus der Filmbranche seien, und wir antworteten, wir seien aus der Filmbranche, und er sagte, das sei ein sehr interessanter Beruf, und wir antworteten, 263 ach Gott, es sei nicht alles Gold, was glänze. Zu einem der Photos bemerkte er, daß er diesen Film gesehen habe. »Wie ist das möglich?« fragte mein Freund Hugo, »dieser Film ist noch gar nicht gelaufen.« Aber das klärte sich rasch auf, denn es war im Ausland gewesen, in Belgrad, wo unser Nachbar den Film gesehen hatte.

»Waren Sie lange in Belgrad?« fragte ich.

Unser Nachbar erwiderte, zehn Jahre lang habe er auf dem Balkan gelebt, er habe die Nase voll davon.

»Die Geschäfte schlecht da unten, nicht wahr?« fragte mein Freund Hugo mit regem Interesse, denn er verschmäht niemanden, den er bezaubern kann.

Unser Nachbar erwiderte, er sei als Beamter dort gewesen.

»Ah, sicherlich im Holzhandel«, meinte mein Freund Hugo, damit sei freilich jetzt nicht viel los, er habe einen Schwager, der sei Direktor der Belgrader Sägewerke und . . .

Nein, unterbrach unser Nachbar, er sei Staatsbeamter.

Das schien mir seltsam. Die Balkanstaaten beschäftigen keine Österreicher in ihrem Staatsdienst, am allerwenigsten einen, der die Nase voll hat vom Balkan. Andererseits unterhält auch Österreich keine Staatsbeamten im Ausland, es sei denn Diplomaten. Wie ein Diplomat sah aber unser Nachbar nicht aus, und er war es auch nicht, wie sich aus dem weiteren Verlauf des Gespräches ergab. Bestenfalls konnte er . . .

Kaum hatte ich begonnen, mir ihn auszurechnen, als ich schon den Ruf ausstieß: »Sie sind der Konsul Prochaska!«

Er lächelte halb geschmeichelt, halb erschrocken, und schaute nach allen Seiten, ob niemand meinen Ausruf gehört. Niemand hatte ihn gehört, alle Gäste ringsum waren mit dem Abtrocknen ihrer durchnäßten Anzüge beschäftigt.

»Woher wissen Sie, wer ich bin?« forschte unser Nachbar.

Ich antwortete, daß ich heute morgen in der Pension einen Brief aus Teschen mit dem Namen Prochaska gesehen. »Und als Sie eben sagten, daß Sie Staatsbeamter auf dem Balkan waren . . .« 264

»Hm. Man muß noch viel vorsichtiger sein, als ich es schon bin. Sind Sie wirklich aus der Filmbranche, meine Herren? Haben Sie nichts mit der Zeitung zu tun?«

»Mit der Zeitung? Unsere einzige Beziehung zu den Zeitungen sind die Filminserate, die wir aufgeben.«

Der Ton unserer Erklärung mußte jedes Mißtrauen beseitigen. Überdies fragte mein Freund Hugo unseren Nachbar, ob er sich nicht filmen lassen möchte. »Um Gottes willen«, sagte der, »das fehlte gerade. Ich bin ja hierhergeschickt worden, damit mich niemand sieht. Ich durfte nicht einmal nach meiner Heimatstadt fahren, mußte meine Mutter aus Teschen hierherkommen lassen. Seit ich hier bin, habe ich mit keinem Menschen gesprochen.«

Er war offenbar erpicht zu sprechen, und ich war erpicht, etwas von ihm zu hören. Aber es hieß vorsichtig zu Werke gehen, nicht mit der Tür ins Haus fallen, taktvoll sein, nichts Indiskretes fragen, nichts, was seine Person betraf Ich fragte also: »Ist es wahr, Herr Konsul, daß Sie von den Serben kastriert wurden?«

»Keine Spur«, antwortete er verbindlich und begann alles zu erzählen, was er wußte. Aber er wußte nicht alles. Selbst wenn ihm weiter nichts abgeschnitten worden war als die Verbindung mit der Außenwelt, so war es doch gerade die Außenwelt gewesen, die seine uninteressante Persönlichkeit zum Zentrum des Interesses und den harmlosen Namen »Prochaska« zum Schlachtruf von Europa gemacht hatte.

Im Winter 1912 war der Krieg der Balkanstaaten gegen die Türkei in vollem Gange, denn Griechenland, Rumänien und Serbien hatten sich noch nicht wegen der zukünftigen Beute (Konstantinopel und Mazedonien) entzweit.

Die österreichisch-ungarische Monarchie war strikt neutral, das heißt sie trat offen gegen Serbien auf. Hingegen wurde Serbien ebenso offen von Rußland in der Feindschaft unterstützt, die es seit der Annexion von Bosnien und Herzegowina gegen Österreich hegte. 265

Anfang November drang die dritte serbische Armee über Orischtina und das Amselfeld gegen die Stadt Prizrend vor und eroberte sie trotz ihres Widerstandes.

»Keine Spur«, antwortete also unser Nachbar auf meine Frage, ob er kastriert worden sei, und fuhr fort: »Aber es wäre wirklich kein Wunder gewesen, wenn mir in Prizrend etwas passiert wäre. Die Besatzungstruppen konnten an sich einem österreichischen Konsul nicht sympathisch gegenüberstehen. Außerdem wurden wohl auch über meine persönliche Haltung Gerüchte ausgesprengt.«

Ganz recht, Herr Nachbar. Und damit begann's.

Die Serben warfen Ihnen vor, daß Sie die Türken und die Albaner zur Verteidigung der Stadt Prizrend aufgereizt und eigenhändig auf die einziehenden Truppen geschossen hätten; und daß Sie dem serbischen Armeekommandanten Jankovic keinen Besuch abgestattet hätten, während der russische Konsul das sofort tat. Einige Zeitungen forderten Ihre standrechtliche Aburteilung als Spion.

»Jedenfalls hatte ich keine Ahnung, welcher Art die Ausstreuungen gegen mich waren, und konnte ihnen daher nicht entgegentreten.«

Ganz recht, Herr Nachbar, aber das österreichische Außenministerium nahm Sie in Schutz. Es protestierte gegen die Angriffe, die nicht nur in der Presse Serbiens erschienen, sondern auch in Kroatien und Slawonien, also österreichischen Provinzen, lanciert wurden. Das Wiener Kommunique bezeichnete diese Verleumdungen und Drohungen gegen Ihre Person als völkerrechtswidrige Hetze.

»Aus der Haltung der serbischen Behörden mußte ich schließen«, erzählte unser Nachbar weiter, »daß die Aussprengungen auf fruchtbaren Boden gefallen waren.«

Ganz recht, Herr Nachbar, und zwar wurden diese Anwürfe zur Grundlage eines diplomatischen Protestes von seiten Serbiens. Statt von den Presseangriffen abzurücken, erklärte nämlich der Gesandte Serbiens in Wien, seine Regierung betrachte Sie, Herr Nachbar, als persona non grata und verlange Ihre Abberufung. 266

»In dem Haus, in dem ich meine Diensträume und meine Wohnung hatte, wurden Soldaten untergebracht. Ich war praktisch ein Gefangener. Die türkischen Postbeamten waren aus Prizrend geflohen, und die Serben hatten nur eine Feldpost eingerichtet, in deren Dienst ich nicht einbezogen war. So konnte ich nicht nach Wien berichten, und das mußte dort auffallen.«

Ganz recht, Herr Nachbar. Die Tatsache, daß keine Nachricht von Ihnen einlangte, war der dritte Akt der Komödie um Ihre Person. Im Zusammenhang mit dem ersten Akt (den Pressedrohungen gegen Sie) und dem zweiten Akt (dem Verlangen nach Ihrer Abberufung) erregte Ihr Stillschweigen Aufsehen und Besorgnis. Sie waren vermißt, Sie waren spurlos verschwunden, Sie waren verschleppt oder gefangen oder gar tot, denn warum hätten Sie sonst kein Lebenszeichen gegeben? Repressalien gegen Serbien war die Forderung des Tages in Österreich.

In den Delegationen, einer Repräsentanz der Reichsräte von Österreich und Ungarn, kam es zu Szenen stürmischen Unwillens, als Graf Berchtold, der Außenminister, erklärte, daß eine Fühlungnahme mit Ihnen, Herr Nachbar, unmöglich sei, weil die serbischen Militärbehörden gegen die Entsendung eines österreichischen Kuriers nach Prizrend Widerspruch erhoben.

»Ich bekam nur die Bewilligung, meiner Mutter in Teschen eine Postkarte des Inhalts zu schicken, daß ich gesund sei. Sonst nichts. Man erlaubte mir nicht einmal, mit unserer Belgrader Gesandtschaft Fühlung zu nehmen. Dahinter mußte etwas stecken.«

Ganz recht, Herr Nachbar. Was dahintersteckte, war der riesenbärtige serbische Ministerpräsident Nicola Pasic, der »Bismarck des Balkans«. Er beantwortete die Telegramme, die Ihretwegen an ihn gerichtet wurden, keineswegs selbst, sondern ließ durch einen Beamten die nichtssagende Mitteilung ergehen: »Laut Informationen liegt kein Anlaß zu Besorgnissen über befragte Persönlichkeit vor.« 267

Österreichs Sprachrohre führten keine Sprache mehr, sie spritzten Galle und Haß. Voll alttestamentarischen Zorns wütete die »Neue Freie Presse« gegen das Königreich Serbien. Moriz Benedikts Leitartikel fingen immer mit einer lapidaren Banalität an, die dann am Schluß als Pointe wiederkehrte. (So begann und endete die berühmte Benediktsche Verfluchung des Bolschewismus mit dem Satz: »Die Familie Broisky war eine der reichsten in Kiew.«)

In Ihrem Fall, Herr Nachbar, war es die Postkarte an Ihre Frau Mutter, mit der Moriz Benedikt die Welt aus den Angeln heben wollte: »Der Konsul Prochaska darf seiner Mutter schreiben. Eine harmlose Mitteilung an das Ministerium wird jedoch nicht erlaubt, und Österreich-Ungarn muß wegen dieser kleinlichen, nichtigen und geradezu widerwärtigen Gehässigkeit die ernstesten Vorstellungen machen . . . Das Ehrgefühl der Monarchie ist nicht minder lebendig als das anderer Großmächte, und spielen lassen wir mit uns gewiß nicht . . . Rußland schweigt, obgleich gerade dieses Volk die Selbstverleugnung der österreichisch-ungarischen Monarchie am genauesten verstehen sollte . . . Die serbische Politik drängt ihre wirklich abstoßende, zänkische Art selbst dann nicht zurück, wenn die Angelegenheit abseits von der Heerstraße der großen Fragen liegt. Das k. u. k. österreichische Außenministerium bekommt keine Nachricht aus Prizrend. Ist der Konsul etwa tot? Nein! Konsul Prochaska darf seiner Mutter schreiben.«

»Wochenlang saß ich«, erzählte unser Nachbar weiter, »in Prizrend, bis ich eines Tages vom Serbischen Kriegshauptquartier – wie es heißt, auf persönliches Betreiben Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Alexander – die Bewilligung erhielt, aus Prizrend abzureisen und nach dem inzwischen von den Serben eroberten Üsküb zu gehen. Das heißt: die Stadt hieß nicht mehr Üsküb, dieser türkische Name war eben abgeschafft worden. Sie hieß nunmehr ›Skoplje‹. Dort traf ich einen unserer Vertrauensmänner und trug ihm auf, an eine Privatfirma in Wien zu telegrafieren, daß X – ich gab ihm einen Namen an – in Üsküb 268 sei. Die Firma war eine der Anlaufadressen des Ministeriums, der Name des in Üsküb Eingetroffenen war mein Deckname. Ich glaubte mit diesem Telegramm die Besorgnisse zerstreut zu haben, die mein Stillschweigen erregt haben mußte. Aber stellen Sie sich vor, meine Herren, plötzlich bekam ich Telegramme, die ich nicht verstand: Sie machten mir nur klar, daß irgendwelche peinliche Gerüchte über mich herumliefen.«

Ganz recht, Herr Nachbar. Es waren peinliche Gerüchte, die über Sie herumliefen, sie erhitzten den friedvollsten Bürger und brachten sein Blut zum Sieden. Was Ihnen angetan worden war, Herr Nachbar, wagte die dezente Presse nur anzudeuten: »Schändliches Attentat gegen unseren Konsularvertreter«, »Bestialische Grausamkeit . . .«, »Verstümmelung«, »Vergewaltigung«. Die etwas weniger dezente Presse war etwas weniger zurückhaltend und sprach das Wort »Kastrierung« aus. Aber die ausgesprochen indezente Presse malte mit krassen Farben, wie Sie, Herr Nachbar, von hohnlachenden balkanischen Hammeldieben festgehalten wurden, während Ihnen die Zange in die Lenden fuhr – ein Akt, mit dem die Täter symbolisieren wollten, daß Österreich aus einem maskulinen Widder zu einem neutralen Hammel gemacht sei.

In einem Punkt aber waren sich Dezente, weniger Dezente und ausgesprochen Indezente einig, nämlich darin, daß diese der Großmacht angetane Schmach vergolten werden müsse, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hoden um Hoden. Auch die Pazifisten streckten ihre Waffenlosigkeit. Ihr Führer trat mit allen seinen Titeln (»Herrenhausmitglied, Hofrat, ord. Professor der Wiener Universität und Mitglied des Internationalen Schiedsgerichtshofes im Haag«) hervor und forderte Sühne für die Gewalttat, die kaum ihresgleichen in der neueren Geschichte aufweise.

Nun hieß es nicht mehr Intervention und Repressalien. Nun hieß es Krieg. Der vierte Akt der Komödie um Ihre Person, Herr Nachbar, war erfüllt von Massenszenen und Schlachtenlärm. Vor dem Reiterstandbild des Prinzen Eugen im Wiener 269 Burghof sammelten sich Zehntausende von erregten Männern, meist dem gehobenen Mittelstand angehörend. Sie sangen das Lied vom Prinzen Eugenius, dem edlen Ritter, welcher bekanntlich »wollt' dem Kaiser wied'rum kriegen Stadt und Festung Belgerad«. Seinem hehren Beispiel folgend, ruckten die Demonstranten zwar nicht gegen Belgerad, immerhin aber vor das Gebäude der serbischen Gesandtschaft und in das Geschäftslokal eines serbischen Friseurs, das sie kurz und klein schlugen. Der Schlachtruf hieß schlicht: »Kastriert die Kastrierer!« Wiederholt wurde auch der Ruf »Hoch Prochaska« ausgestoßen, womit sowohl Sie, Herr Nachbar, als auch der alte Kaiser Franz Joseph gemeint sein konnten.

Der Sprecher der Sozialdemokratie erklärte in den Delegationen, seinen Informationen zufolge sei Ihnen, Herr Nachbar, nur einer der Testes exstirpiert worden, was zwar die Roheit der Täter nicht wesentlich vermindere, aber ebensowenig Ihre Manneskraft. Die kriegshetzerische Journaille übertreibe also wie üblich um fünfzig Prozent.

Ganz zu zweifeln vermochte niemand an Ihrer Kastrierung, Herr Nachbar. Die Nachricht stammte aus dem Außenministerium, und dieses bestätigte sie mit dem berühmten Kommunique: »Das k. u. k. Ministerium des Äußern ist leider um so weniger in der Lage, der Meldung von der Verletzung des Herrn Konsul Oskar Prochaska ein Dementi entgegenzusetzen, als die Entsendung eines Spezialkuriers zu ihm auf eine Ablehnung stößt, die nur dadurch erklärt werden kann, daß die Meldung auf Richtigkeit beruht.«

»Als mir schließlich gestattet wurde«, erzählte unser Nachbar weiter, »mit meiner vorgesetzten Behörde in Verbindung zu treten, schickte ich ihr einen telegrafischen Bericht. Der war einerseits so ausführlich und kam andererseits so verstümmelt an, daß die von vier Beamten vorgenommene Dechiffrierung drei Tage und drei Nächte in Anspruch nahm, wie ich später erfuhr. Graf Berchtold schien der Richtigkeit des Telegrammes nicht zu trauen, denn ich bekam weiter mysteriöse Anfragen über die Art meiner Verwundung.« 270

Ganz recht, Herr Nachbar, das Außenministerium dementierte auch jetzt nicht und hatte gute Gründe dafür. Die Volksempörung, die durch die Ausgabe und Bestätigung der Nachricht entfesselt war, hätte sich gegen ihre Urheber gewendet. Überdies wäre durch ein Dementi die Aktion gescheitert, die das österreichische Ministerium bei der serbischen Regierung führte: die Entsendung eines österreichischen Ministers nach Üsküb, der sich durch Lokalaugenschein von der Intaktheit Ihrer Organe überzeugen sollte. Serbien weigerte sich, diese beleidigende Reise zuzulassen. Mitten in diesem diplomatischen Scharmützel konnte Österreich, obwohl es nun Ihren unzweideutigen Bericht in Händen hatte, ohne Prestigeverlust seinen Antrag nicht zurückziehen. Gab es doch bereits Truppenaufmärsche an der Grenze, Zusammenstöße von Patrouillen und Gewehrgeplänkel.

Im letzten Augenblick kam es durch Intervention Großbritanniens am russischen Hof zu einem Akkord, auf Grund dessen das Königreich Serbien dem Abgesandten Österreichs – nicht einem Minister, sondern zwei Konsularbeamten – die Reise zu Ihnen, Herr Nachbar, freigab. Der Vorhang ging auf über dem fünften und letzten Akt.

Siegesglocken und Friedensjubel klangen durch Österreich, aber darein mengten sich neue Kriegsfanfaren. Was in Wirklichkeit der Intervention Großbritanniens zu danken war, wurde als das Ergebnis der Kriegsbereitschaft dargestellt, die das sonst so friedfertige Volk Österreichs und seine energische Regierung gegen das freche Serbien kundgetan. Und noch liege der Befund nicht vor, den die beiden Vertreter des Außenministeriums vom Besuch bei Ihnen, Herr Nachbar, zurückbringen werden.

»Ich saß eines Morgens in Üsküb«, erzählte unser Nachbar, »und hatte von meinem gewöhnlichen Frühstück, einem Schinkenbrot und zwei Eiern, das Schinkenbrot bereits aufgegessen. Eben wollte ich mich an den Rest der Mahlzeit machen, als zwei meiner Wiener Kollegen eintraten, Konsul Edl und Konsul Rakic. Eine sechstägige Reise über die 271 militärisch besetzte Grenze und dann durch das serbisch-türkische Kriegsgebiet hatten die Herren gemacht, um mich aufzusuchen! Sie waren sehr erstaunt, mich unversehrt, bei gutem Appetit und meinen zwei Eiern dasitzen zu sehen und zu hören, daß ich ihnen in normaler Stimmlage guten Morgen wünschte. Schon am nächsten Tage fuhren die Herren nach Wien zurück, und dort wurde die Ehre meines Geschlechts von Amts wegen wiederhergestellt.«

Ganz recht, Herr Nachbar. Und zwar war die Verlautbarung, mit der die weltbewegende Affäre aus der Welt geschafft wurde, recht lendenlahm: »Konsul Edl, der gestern in Wien eingetroffen ist, scheint von seiner Mission vollkommen befriedigt zu sein. Er hob das Entgegenkommen serbischer Behörden hervor und fügte hinzu, er habe Herrn Konsul Prochaska bei bester Gesundheit in Üsküb zurückgelassen.«

»Ich mußte noch ein Jahr in Üsküb bleiben«, sagte unser Nachbar, »ein ganzes Jahr.«

Ganz recht, Herr Nachbar, Sie mußten noch lange bleiben, ein ganzes Jahr, obwohl Sie dort unbeliebt waren, – nein, weil Sie dort unbeliebt waren. Konnte denn Österreich einen Vertreter abberufen, dessen Abberufung die Serben verlangten?

»Schließlich wurde ich doch abberufen und fuhr nach Wien.«

Wir hatten die Erzählung unseres Nachbars nicht unterbrochen, unsere Ergänzungen nur in Gedanken geäußert. Jetzt aber mußte ich ihm eine Frage stellen: »Wieso gab das Ministerium die Nachricht von Ihrer Kastrierung aus? So etwas kann ja nicht einfach erfunden werden?«

Unser Nachbar lächelte ein diplomatisch sein sollendes Lächeln und schwieg vielsagend.

»Nun ja, Sie können freilich nicht wissen, was sich in Wien abgespielt hat«, sagte ich.

»Doch«, erwiderte er, in seiner Eigenliebe getroffen, »ich weiß es.« 272

Unser Nachbar schaute sich im Kreise der durchnäßten Kaffeehausgäste um, ob nicht etwa jemand zuhöre, und erzählte leise: »In Wien habe ich erst erfahren, wie es kam. Das Telegramm, das ich durch unseren Vertrauensmann aufgeben ließ, hatte gelautet: ›stryc dragotin u skoplje‹, auf deutsch: ›Onkel Karl in Skoplje‹. Mit dem Onkel Karl war ich gemeint – natürlich stand ein anderer Name im Telegramm, aber den kann ich Ihnen nicht verraten. Nun mußten einem Telegrafenbeamten die beiden Worte ›u skoplje‹ unverständlich erscheinen. War es doch erst wenige Tage her, seit der türkische Name der Stadt Üsküb in ›Skoplje‹ geändert worden war. Dagegen war das Wort ›uskopljen‹ jedem Telegrafenbeamten vertraut in einem Lande, das von Hammelzucht lebt und jährlich genau viereinhalb Millionen Widder zu Exportzwecken in Schöpse verwandelt. So setzte der Beamte den Buchstaben ›n‹ hinzu, und Wien bekam das Telegramm mit dem Wort ›uskopljen‹. Die Wiener Firma war nur für meine Meldungen die Anlaufadresse, niemand anderer kannte sie, und selbst ich durfte mich ihrer nur im Notfall bedienen. Daß ich der – wie sagte ich doch? – ›Onkel Karl‹ war, wußte außer mir nur mein direkter Vorgesetzter. Also war zweifellos ich selbst der Absender der Nachricht aus Üsküb, und da der Text nicht verstümmelt schien, mußte es der Absender sein.«

Draußen goß es immer noch in Strömen, jedoch ich behauptete, der Regen habe schon nachgelassen und verabschiedete mich.

So schnell wie möglich wollte ich die Sensation niederschreiben. Als ich aber begann, ward mir bewußt, wie wenig sensationell diese Sensation im journalistischen Sinne war. Wohl gewährte sie einen seltenen Einblick in den Mikrokosmos der Diplomatie, in die Frivolität, mit der patriotischer Haß entfesselt wird, und in die eitle Hartnäckigkeit von Staatsmännern, die einen Irrtum nicht eingestehen wollen und lieber so nahe an den Krieg heran operieren, daß ein kleiner Buchstabe ihn auslösen könnte. Aber das hat »stets und immer sich begeben«, ist also ohne Neuigkeitswert. Für 273 die Zeitung ist ein Konsul, der weder kastriert wurde noch potent genug war, einen Krieg zu zeugen, so uninteressant, wie er mir zuerst erschienen war.

Die Aktualität der Prochaska-Affäre war vorbei.

Schon ein paar Monate nach ihrer Aufhellung verdunkelt sich das europäische Firmament von neuem. Größere Ereignisse als die angebliche Verletzung des Völkerrechts durch die angebliche Verletzung eines Konsuls sind fällig, ein Mordanschlag auf den österreichischen Thronfolger zum Beispiel. 274

 


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