Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Debut beim Mühlenfeuer

Es ist zum erstenmal, daß ich meine Memoiren schreibe, mir mangelt die Übung und ich weiß nicht, ob ich's richtig mache. Immer wenn ich eine Begegnung oder eine Begebenheit erwähne, greife ich nicht nur zurück, sondern auch vor. So kennt mich der Leser bereits in Situationen, die mir noch nicht zukommen. Bin ich doch erst am Beginn meiner Reportertätigkeit. \

Auf der Börse war man unzufrieden, weil meine Zeitung als Nachfolger des Herrn Melzer, der mit den rangältesten Polizeibeamten die Schulbank gedrückt hatte, einen so jungen Hund wie mich entsandte. In der Redaktion war ich nur ein Reporter.

Und die Tatsache, daß meinen Anfängen ein sogenannter Erfolg beschieden war, vollzog sich unter Umständen, welche die anderen Redakteure der »Bohemia« nicht für mich einnehmen konnten. Meine erste Notiz schilderte meinen Besuch am Krankenbett eines Freundes, der vor Jahresfrist in einem Duell einen Studenten getötet hatte und selbst lebensgefährlich verletzt worden war. Neben ihm im Spital lag ein Akrobat, der, gleichfalls lange vor meinem Berufsantritt, vom fliegenden Trapez ins Publikum gestürzt war. Der andere Bettnachbar, ein Knabe, war am Weihnachtsabend vor der Villa des ehemaligen Bürgermeisters Bielsky von dessen Wachhunden überfallen und gebissen worden.

Jede dieser drei Begebenheiten war zu ihrer Zeit journalistisch zu Tode gehetzt worden und es waren demnach »olle Kamellen«, die ich zu einer Notiz zusammenschweißte. Aber die »Frankfurter Zeitung« druckte sie nach.

Seit langem war es das erstemal, daß etwas aus einem Prager Blatt Gnade fand vor der Schere des allwissenden und unfehlbaren Fedor Mamroth in Frankfurt. (»Mamroths Schere reimt sich auf Ehre«, pflegte der Feuilletonchef des »Prager 111 Tagblatt« selbstgefällig zu reimen, wenn die »Frankfurter Zeitung« einmal das gleiche ausgeschnitten hatte wie er.)

Die Zitierung unserer Zeitung hätte demnach so empfunden werden müssen, als sei der ganze Redaktionsstab im Tagesbefehl zitiert. Wenn nur die dekorierte Leistung nicht gerade vom jüngsten jungen Mann, dem Lokalreporter, vollbracht worden wäre, und dieser Lobspruch nicht wie ein Tadel für die übrigen geklungen hätte. »In der Prager ›Bohemia‹,« so leitete der Oberste Richter in Frankfurt den Abdruck ein, »findet sich nachstehende, ungewöhnlich gut geschriebene Notiz . . .«

Mein neuer Beruf schien mir kinderleicht zu sein. Ich hatte auf der Polizei und auf unserer Börse Nachrichten zu holen und sie zu stilisieren. Je mehr ich sie durch plaudernde Wendungen ausschmückte, desto mehr hatten sie Anspruch, als Schmucknotizen gewertet zu werden, die man zwar Schmocknotizen nannte, aber immerhin – wie man gesehen hat – eher einen anerkennenden Nachdruck fanden als ein simpel berichtetes Faktum.

So machte ich meine Arbeit bis zu der Nacht, in der ich mich zum erstenmal an einem Schauplatz erproben sollte. Die Schittkauer Mühlen standen in Flammen. Ich rannte hin. Das Feuer war im Begriff, den ganzen Komplex der Mühlen, ein Wahrzeichen der Stadt seit urdenklichen Zeiten, in Schutt und Asche zu verwandeln. Und, was weit schlimmer war, die anderen Reporter waren schon da und mitten in der eifrigsten Arbeit.

Auf einem Hydrantenwagen unter einer Laterne, alles überblickend und allen sichtbar, saß Papa Vejvara. Er schrieb und schrieb. Polizei- und Feuerwehrbeamte liefen auf ihn zu, gaben ihm Informationen und eilten wieder davon. Von Zeit zu Zeit erschienen Boten seiner Redaktion auf Fahrrädern. Papa Vejvara reichte ihnen Manuskript und schrieb weiter.

Ich aber, ich wußte nichts zu schreiben. Keine Zeile verstand ich von dieser Wagenburg der Dampfspritzen, von diesem Kreuzfeuer aus Wasserstrahlen, von diesem Manövrieren der Feuerwehr. Ich drängte mich durch den Kordon, es dauerte 112 eine halbe Stunde, bevor ich den ganzen Bezirk der brennenden Mühlen abgegangen hatte, um irgendwie irgendwo irgend etwas zu eruieren. Kein Wort eruierte ich.

Mir blieb nichts übrig als, ein demütiger Bittsteller, mich den Stufen des bronzenen Thrones zu nahen, auf dem Papa Vejvara waltete. Er neigte sich zu mir herab, ich reckte mich hoch, spitzte Zehen und Ohren, um keinen Ton von der Sensation zu verlieren, die er mir anvertrauen wollte. Aber was er mir zuflüsterte, war dieses: »Es brennt.«

Meine Verzweiflung zwang mich, den Hohn zu überhören. Ich bat ihn, mir doch ein paar Details zu geben. Er wies auf die Flammen: sähe ich da nicht Details genug?

Nein, ich sah keine Details. Ich sah nur die Flammen, die beschäftigte Feuerwehr und meine noch beschäftigteren Kollegen. Wie ein Spritzenschlauch schlängelte sich der bleiche Schnüffeles zwischen den Löschapparaten und Wasserstrahlen, überall war er gleichzeitig. Er maß mich mit Siegermiene: »Nun, Sie Schönschwätzer, zeigen Sie jetzt, was Sie können.«

Am Fuß der Feuerleiter traf sich die Chodiera-Börse und tauschte Informationen aus. Ich pürschte mich heran, etwas zu erlauschen. Sie bemerkten mich und verstummten, einige lachten. Der bleiche Schnüffeles bekam geradezu Lachkrämpfe.

Sie konnten lachen, ich konnte weinen.

Entschlossen arbeitete ich mich zum Feuerwehrkommandanten durch. Aber als ich vor ihm stand, fiel mir ein: ich weiß nicht einmal, was ich ihn fragen soll. Schöner Reporter, der nicht einmal weiß, was er fragen soll.

Ich fragte nach der Ursache des Feuers.

»Noch nichts festgestellt.«

So wie bei mir. Nichts hatte ich festgestellt, leer war mein Notizblock. Tränen vermochten meine Beschämung nicht zu löschen. Selbst wenn Dampfspritzen in meinen Augen aufgefahren wären, hätten sie nicht vermocht, meine Beschämung zu löschen. Nie, nie hätte ich mir eine derartige Unfähigkeit zugemutet. Schluß mit meinem Versuch, das Mühlenfeuer zu beschreiben! Schluß mit der Reportage! 113

Erhaben, auf strahlendem bronzenen Siegeswagen, umgeben von behelmten Mannen fährt der Berufene in die Ruhmeshalle der Journalistik ein . . . und unten schleicht geduckt und gedemütigt einer davon, der vieles unternehmen wollte und nichts gekonnt.

Durch die Masse der Neugierigen, finstere, nächtliche Gestalten, zwängte ich mich immer weiter nach hinten. Nur weg von hier!

Wohin? Auf keinen Fall in die Redaktion zurück. Wozu mir dort das Toben anhören, weil ich nichts bringe, wozu mich noch beschimpfen lassen, bevor ich entlassen werde?

Allerdings, fair ist es nicht, die Redaktion einfach sitzen zu lassen. Mutiger wär's, hinzugehen und mein Fiasko einzugestehen.

Langsam ging ich durch die Straßen. Was wird man auf der Börse sagen? Mir fielen die Anekdoten ein, mit denen man sich dort selbstgefällig unterhielt, die Anekdoten von unfähigen Reportern.

Ein aus der Provinz engagierter Journalist war zur Erhebung eines Vorfalls an die Peripherie der Stadt geschickt worden. Er recherchierte alles genau – aber er fand nicht in die Redaktion zurück, dieser findige Reporter. Hahaha!

Einer wurde zur Hochzeit des berühmten Schauspielers M. entsandt. Er kam zurück und schrieb nichts. »Wo ist der Bericht über die Hochzeit?« fragte man ihn. »Es gibt keinen. Der Bräutigam kam nicht, die Gäste warteten vergebens, die Hochzeit fand nicht statt. Also kann ich doch nichts schreiben.« Hahahaha!

Das ist noch gar nichts! Beim größten Brand unserer Zeit, als die Schittkauer Mühlen niederbrannten, war ein Reporter dabei – Kisch hieß er –, der wußte nicht eine Zeile zu berichten. Hahahahaha!

So geht mein Name in die Geschichte der Reportage ein!

»Gott sei Dank, daß Sie endlich kommen«, empfing mich der Nachtredakteur schon auf dem Treppenflur, »ich habe Ihnen anderthalb Spalten reserviert. Schreiben Sie schnell, damit wir recht viel davon noch in die Postauflage bekommen!« 114 Und so rasch wie es ihm seine siebzig Jahre erlaubten, humpelte er in den Setzersaal.

Anderthalb Spalten – das waren hundertfünfzig Zeilen! Ich hatte nicht einmal eine. Oder doch, eine hatte ich: den Titel. »Brand der Schittkauer Mühlen.« Der stand fest. Unter ihm klaffte leere Öde . . . hundertfünfzig Zeilen tief.

Da gab's keine Wahl, ich mußte mich hinablassen in die öde Leere. Ich schrieb . . . schrieb von den Flammen und wieder von den Flammen . . . ich ließ sie lodern, leuchten, züngeln, prasseln, aufflackern . . . das Gebälk ließ ich knistern, krachen, bersten . . . die Mehlsäcke ließ ich glimmen und platzen und qualmen und dampfen und rauchen . . . die Wasserstrahlen ließ ich stechen wie Dolche und niedersausen wie Säbelhiebe . . . und all das zusammen, all das zusammen ergab erst zwanzig Zeilen.

Der Metteur en page riß sie mir aus der Hand. »Schnell, schnell das Weitere«, schärfte er mir ein und war verschwunden.

Das Weitere! Das Weitere gab's nicht, obwohl noch hundertdreißig Zeilen dafür freigehalten waren, der Metteur, der Setzer, der Nachtredakteur auf sie warteten.

Ich lutschte an meinem Bleistift. Entlutschte ihm, daß das Städtische Nachtasyl in der Nähe der Schittkauer Mühlen lag. Mein Bleistift trieb eine Gruppe von Obdachlosen zum Brandplatz. Mein Bleistift sah, wie sie fasziniert sich gegen den Feuerherd vorschoben, mein Bleistift half ihnen, sich dem Kordon der Polizisten zu nähern, denen sie sonst eilig und in weitem Bogen auszuweichen pflegen. Die Polizei, von dichtem Dunkel umgeben, sah nicht, was mein Bleistift sah, sah nicht, welcher Art die sich heranwälzende Menge war. Nur wenn eine Feuergarbe ihr grelles Licht anstatt zum Himmel aufwärts seitlich warf, wurden die Gestalten sichtbar, die der Unterwelt entstiegen schienen, aber in Wirklichkeit meinem Bleistift entstiegen: Landstreicher mit gegerbten Gesichtern, wirren Bärten, struppigen Haaren und starr auf das Feuertheater gerichteten Augen. 115

Mein Bleistift – weit stärker beobachtend als sein Herr – beobachtete in einem solchen Moment flammender Beleuchtung, wie ein Polizist und ein vierschrötiger Riese einander gegenüberstanden. Wahrscheinlich kennt der Polizist den Mann, vielleicht ist es ein Gewalttäter, der ihm bei der Verhaftung Widerstand geleistet hat und entkommen war. Oder vielleicht war der Gewalttäter nicht entkommen und hat dem Polizisten Rache geschworen, der jetzt in seiner Reichweite steht. Gleich wird der Flammenkegel wieder dem Dunkel Platz machen, einem undurchdringlichen Dunkel gefährlicher Gelegenheit. Solcherlei schrieb und beschrieb mein Bleistift, bis ihn die hundertfünfzigste Zeile stoppte.

Sonst pflegte ich, wenn ich eine größere Notiz geschrieben hatte, in die Setzerei hinüberzugehen, um dort angeblich den Bürstenabzug zu korrigieren, eigentlich aber, um von den Setzern ein Urteil über mein Produkt zu hören.

Diesmal verließ ich die Redaktion ohne das. Nichts wollte ich wissen, am meisten befürchtete ich, man könnte mein Verlegenheitsgefasel loben. Daß ich einen »Bericht« zusammengebracht, änderte kein Jota daran, daß er nicht einmal enthielt, wie der Brand verlaufen war und was sich an Zwischenfällen zugetragen. Wahrscheinlich hatte es sogar Tote und Verletzte gegeben.

Der Entschluß, meine Demission zu geben, war ebenso wie die Möglichkeit, entlassen zu werden, noch da.

Am nächsten Morgen sah ich in unserem Blatt meine Phantasien noch vergröbert. Der Nachtredakteur hatte meinen Titel geändert. Mit Riesenbuchstaben, die mir wie brennende Balken vorkamen, spannten sich die Worte »Ansturm von Obdachlosen bei einer Feuersbrunst« über die Spalten.

Was die anderen Reporter gestern auf dem Brandplatz erfahren hatten, erfuhr ich heute aus ihren Blättern. Sie hatten alle Details erhoben, die mir verschlossen geblieben waren. Zumeist allerdings waren diese Details von der Art, die man in der Zunft als »interessant aber langweilig« charakterisierte: Nach einigen Berichten war das Feuer um 8 Uhr 16 abends von einer in der Nähe wohnenden Metzgersgattin bemerkt 116 worden, nach anderen Berichten Schlag 9 Uhr von einem zufällig des Weges kommenden Bauern aus Südböhmen. Laut »Nationalzeitung« war es die Löschmannschaft der Vorstadt Karolinenthal, die mit dem Spritzenmeister Soundso und zwei dreispännigen Dampfspritzen zuerst an der Brandstelle eintraf; der »Volksgemeinschaft« zufolge aber war die Feuerwache Sokolstraße mit der neuen automatischen Feuerleiter als erste zur Stelle gewesen. Übereinstimmend war mir die Feststellung, daß in kurzen Intervallen alle Feuerwehrstationen auf der Brandstätte eintrafen. In den meisten Blättern stand, der Brand sei auf dem ebenerdigen Schüttboden ausgebrochen, der bleiche Schnüffeles vom »Prager Tagblatt« hatte jedoch erhoben, daß das Feuer im ersten Stockwerk mehr als eine Stunde lang gewütet und erst nachher die Räume im Parterre ergriffen habe.

Als ich in die Redaktion kam, standen im Vorzimmer, das in der Frühstücksstunde eine Art Klubraum war, einige Redakteure beisammen.

»Dieses Gedränge der Obdachlosen«, sprach mich der Kunstkritiker an, »das muß ja wie ein Gemälde von Breughel gewesen sein. Ich habe Ihren Bericht interessiert gelesen.«

»Er hat ja nichts weiter aufgeschrieben, als was er gesehen hat«, sagte Doktor Dykschy.

Vielleicht um den geringschätzigen Ton Doktor Dykschys abzuschwächen, wandte der Kunstkritiker ein, ich hätte immerhin gut beobachtet.

»Eben nur beobachtet. Was hätte ein Dichter daraus gemacht! Eine Elendenkirchweih im Feuerschein! Heilige Hermandad und Briganten stehen einander unvermutet gegenüber! Aber dieser junge Mann merkte gar nicht, daß er eine Dramenszene in Händen hielt. Nun, schließlich ist das auch nicht seines Amtes.«

Ich hatte gute Lust, ihm zu enthüllen, daß ich den Stoff sehr wohl zu würdigen wisse, denn er entstamme meiner Phantasie. Jedoch dann hätte Doktor Dykschy nur wiederholt, und die anderen hätten ihm beigestimmt, daß das nicht meines Amtes sei. 117

Ehe der Tag zu Ende ging, an dem mich Doktor Dykschy den Unwert der Wahrheit fühlen ließ, bekam ich eine Lektion über den Wert der Unwahrheit.

»Ich habe Ihnen anzukündigen, daß Sie aus der Börse ausgeschlossen werden, wenn Sie noch einmal in dieser Art schreiben«, empfing mich Papa Vejvara, als ich abends auf die Börse kam.

»In welcher Art habe ich denn geschrieben?«

»In der Art eines Lügners«, brach er los. »Lauter unverschämte Lügen! Sie werden eine gesalzene Berichtigung vom Städtischen Nachtasyl bekommen – bei Nacht kann niemand aus dem Gebäude, weil es abgesperrt ist, und jeder beim Eintritt seine Kleider abgeben muß.«

»Ich habe nicht geschrieben, daß es die Insassen des Städtischen Asyls waren. Ich habe nur von Obdachlosen im allgemeinen gesprochen, die Nähe des Asyls habe ich erwähnt, ohne zu sagen, daß die Leute von dort kamen.«

Über diesen Trick wurde Papa Vejvara noch wilder. Er hatte nämlich von der Asylleitung ein Dementi meines Berichts verlangt, aber den Bescheid erhalten, daß infolge der Stilisierung nichts gegen meinen Bericht unternommen werden könne. Warum hatte Papa Vejvara das getan? Er verheimlichte es nicht.

»Mit Ihren Lügen bringen Sie uns um die Existenz. Heute morgen schnauzt mich der Chefredakteur an, wieso ich die Obdachloseninvasion auf der Brandstätte nicht einmal mit einem einzigen Wort erwähnt habe.«

»Sie konnten ihm doch sagen, Herr Vejvara, daß das erfunden ist.«

»Ich verbitte mir Ihre Ratschläge.«

Kollege Wenzel Vilde mischte sich ein: »Wenn man diesen Klebstoffjournalisten sagt, daß ein Konkurrent lügt, so glauben sie, das sei eine Ausrede.«

Papa Vejvara bestätigte das, indem er beide Fäuste auf den Tisch schlug; sein Chefredakteur habe ihm wörtlich gesagt: »Komisch, daß sich die anderen immer die interessantesten Lügen ausdenken, und Sie immer nur die langweiligste 118 Wahrheit wissen.« Papa Vejvara fiel aus der Höhe der Wut in die Tiefe der Bitterkeit: »Das muß ich mir sagen lassen im dreißigsten Jahr meiner Tätigkeit.«

»Wegen eines solchen Rotzbengels«, sagte Ritter Wuk von Rosenberg, nur um nicht unhöflich zu erscheinen.

»Was sollte ich denn machen?« wandte ich ein, »ich hatte doch überhaupt keine Details. Als ich Sie bat, Herr Vejvara, mir etwas zu sagen, haben Sie geantwortet: es brennt.« Diese höhnische Antwort von Papa Vejvara wurde stillschweigend mißbilligt.

Fromm und milde riet mir Herr Adalbert Betzek, mich immerdar nach der Religion zu richten: »Du sollst nicht lügen, steht in den zehn Geboten, und wenn Sie sich schon so eine faustdicke Lüge ausdenken, so müssen Sie sie uns telefonieren, damit wir sie auch bringen können und nicht dastehen wie die törichten Jungfrauen.«

Auf der Chodiera-Börse erschien an diesem Abend Herr Tschuppik statt des »bleichen Schnüffeles«, der vom »Prager Tagblatt« seines Postens enthoben worden war.

Was war das alles?

Solange ich Vortragsreferate und Schmucknotizen verfaßte, war ich nie ratlos gewesen, hatte nie, selbst wenn ich vom Thema wenig verstand, einen Bericht aus der Luft gegriffen, und nie die Stellung eines Kollegen gefährdet.

Offenbar ist die direkte Beschreibung der Wirklichkeit weit schwieriger. Kein Kritiker wird bei der Besprechung eines Buches, einer Aufführung oder einer Ausstellung jemals von solch einem Gefühl beruflicher Ohnmacht befallen werden wie ich gestern im Schein des Mühlenfeuers. Und dennoch behandeln die Redakteure der Kulturrubriken den Reporter als etwas Untergeordnetes, wie einen, der in den Beinen haben muß, was er nicht im Kopf hat.

Ein paar Tage vorher war ich dem künstlerlockigen Feuilletonchef, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, in den Weg gelaufen. Er sprach mir sein Mißfallen darüber aus, daß ich Reporter geworden. »Ich hatte anderes mit Ihnen im Sinn«, sagte er, »ich wollte Ihnen einen Namen machen.« 119

Auch Doktor Dykschy fand das verächtlich, was meines Amtes war. Gewiß, er war konsequent. In seinen Literaturkritiken anerkannte er als Kunst nur das Übersprudelnd-Launische, das Traumhaft-Zerfließende, das Ungebunden-Absurde, das Sprunghaft-Unlogische oder das Irrational-Mystische. Streng lehnte er den »phantasielosen Rationalismus und öden Materialismus der schnell veralteten französischen Schule« ab, worunter er Balzac, Flaubert und vollends Zola verstand. Dem Doktor Dykschy, der meinen unseligen Lyrikband seinerzeit eine kritische Ermunterung gegeben, konnte die Obdachlosenszene nicht gefallen, weil er sie für Realität hielt.

Aber Chefredakteure, Journalisten an verantwortlicher Stelle, mußten sie nicht Realität schätzen? So wirkungsvoll formuliert die Antithese war, die der Chef des Papa Vejvara gebraucht – durfte er eine Lüge fordern, weil sie interessant war? Durfte er sie einer Wahrheit vorziehen und wäre es der sterbenslangweiligsten?

Diese Fragen waren beileibe keine rhetorischen, es gab Antworten auf sie.

Manche Herausgeber, der große Gordon-Bennett zum Beispiel, haben eingestanden, daß Zeitungen, ob sie nun dem Geschäft oder der Verbreitung einer Gesinnung dienen, eine ihre Ziele begünstigende Unwahrheit vorziehen müssen einer Wahrheit, die ihren Zielen zuwiderläuft. Ein Zyniker tat gar den Ausspruch: »Eine falsche Nachricht ist mir die liebste, denn erstens hat man sie allein, und zweitens bekommt man eine Berichtigung, die man wieder allein hat.«

Die Begründung ist falsch, denn nichts wird so prompt, so gründlich und so energisch dementiert wie gerade die Wahrheit. Um so mehr kann diesen Grundsatz des Zynikers auch ein Zeitungsherausgeber akzeptieren, der keine Berichtigungen wünscht.

Und der Leser? Welche Wichtigkeit hat es für ihn, zu erfahren, ob der zweite oder erst der vierte Schuß des Mörders tödlich war? Daß beim Sturm auf Port Arthur nicht fünftausend, sondern nur fünfhundert Japaner fielen? Daß sich das 120 Feuer in den Schittkauer Mühlen nicht auf dem Schüttboden ausbreitete, sondern zunächst im ersten Stock?

Der Stein der Wahrheit, der nur um hohen Preis zu erwerben ist, ist von seiner billigen Imitation nicht zu unterscheiden. Kein Leser hatte in meiner Erzählung vom lokalen und öffentlichen Ereignis des Mühlenbrands gemerkt, daß ihr nichts zugrunde lag. Wie sollte bei einem weniger erhellten Tatbestand, wie erst bei einem auswärtigen Vorfall die Phantasie von der Realität unterschieden werden? Wenn man gar das Gebot des frommen Herrn Adalbert Betzek befolgte, jede Erfindung den Kollegen weiterzugeben, fiele auch die letzte Entlarvungsmöglichkeit weg.

Ich definierte mir, was der Bericht überhaupt darstellt. Er ist eine Form der Äußerung, vielleicht sogar eine Kunstform, obschon nur eine kleine wie die Bänkel des blinden Methodius oder die Tätowierungen im Arrestgebäude.

Spezifisch ist dem Bericht, daß ein wirklicher Vorfall sein Thema bildet. Könnte nicht bloß vorgespiegelt werden, daß der Vorfall sich ereignet hat? Nein. Wenn die Begebenheit erfunden ist, mag es der Leser merken oder nicht, ist ihre Darstellung kein Bericht. Romanschriftsteller, Novellisten und Anekdotenerzähler behaupten oft, daß ein von ihnen geschildertes Ereignis sich tatsächlich abgespielt habe. Es schädigt den Dichter nicht, es erhebt ihn sogar, wenn der Leser diese Behauptung nicht glaubt. Aber ein Chronist, der lügt, ist erledigt.

Die Behandlung des Sujets birgt allerdings eine Alternative: entweder man nimmt das Ereignis zum Ausgangspunkt für ein Phantasieprodukt (was ich gestern beim Mühlenbrand getan), oder man bemüht sich, die Zusammenhänge und Details so zu ermitteln, daß das Ergebnis mindestens in gleichem Maße interessant ist wie das Phantasieprodukt. (Ich hätte die Obdachlosenszene entdecken müssen, nicht sie erfinden dürfen.)

Zum obigen Entweder hatte ich mein Geschick, zum obigen Oder mein Ungeschick bewiesen, aber ich mußte den zweiten Teil der Alternative wählen. 121

Oh, nicht etwa aus moralischen Gründen! Da war jene Dantesche Neugier. Von Kindheit an brachte ich infolge dieser Neugier von jedem Weg zum Kaufmann oder zum Postschalter eine solche Fülle von Erzählenswertem heim, daß man es zumindest für Übertreibung hielt. Mich verdroß diese Verdächtigung, weil ich es nicht nötig hatte, zu erfinden, sah und hörte ich doch überall so viel Unglaubhaftes, das dennoch Wahrheit war. Wie konnte es sein, daß die mir selbstverständlichen Erlebnisse den anderen unmöglich schienen?

Gestern hatte ich zum erstenmal etwas erfunden, und alle hatten es geglaubt . . . Sollte ich also bei der Lüge bleiben? Nein.

Gerade weil mir bei der ersten Jagd nach der Wahrheit die Wahrheit entgangen war, wollte ich ihr fürderhin nachspüren. Es war ein sportlicher Entschluß. 122

 


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