Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Paradox über das Talent

Talent ist, wenn . . . Nein, das ist eben das Talent nicht. Talent läßt sich nicht definieren. Sowenig wie die meisten andern Dinge auf der Welt. Jedes Talent ist anders. Es gibt wohl viele Merkmale, die Talente gemeinsam haben können: das wesentliche haben sie nicht gemeinsam. Um ihm darauf zu kommen, muß man sich schon um jedes einzeln bemühen. Es lohnt.

Talent steht zur Zeit nicht sehr hoch im Kurs. Es gibt zu viele, wird behauptet. Falsch: es gibt sehr wenige. Fast so wenige, wie es Genies gibt.

Wer dem Talent eines auszuwischen sucht, setzt es in Gegensatz zum Genie. Dabei liegen Genie und Talent auf zwei ganz verschiedenen Ebenen. Genie bezieht sich auf die Totalexistenz einer Persönlichkeit; Talent ist eine Spezialeigenschaft, wie schön oder gut oder wahrheitsliebend. Das Wort Genie erzählt ein Schicksal. Eine Notwendigkeit, eine auferlegte Mission, ein vorbestimmtes Eingreifen ins Weltgeschehnis. Talent ist eine Prämisse, zu der andere Prämissen kommen müssen, 237 wenn sich ein Schluß ergeben soll, ist eine Andeutung von Möglichkeiten, die auch ausbleiben können. Genie ist das Finish, Talent ist ein Start. Aus dem Talent kann alles werden: aus dem Genie nur ein Genie.

Ein Genie kann, wie es schön oder häßlich, schwarz oder blond sein kann, auch Talent haben, muß aber nicht. Es gibt sehr unbegabte Genies.

Man kann sich sogar ein dummes Genie vorstellen, und es bleibt doch ein Genie: vom Talent verlangt man Intelligenz.

Daß Talent eine Spezialeigenschaft ist, bedeutet nicht, daß es sich um ein Spezialtalent handelt. Das Spezialtalent ist eigentlich kein Talent: es ist die hypertrophische Entwicklung einer Eigenschaft auf Kosten aller andern Eigenschaften, die dadurch verkümmern wie ungenützte Organe. Das wirkliche Talent hat Talent zu allem oder wenigstens zu sehr vielem. Nur meist nicht zur Mathematik.

Das Genie hat es nicht nötig, liebenswürdig zu sein. Dem Talent ist es im Interesse seines Fortkommens sehr zu wünschen.

Und es ist auch meist liebenswürdig. Talent macht beliebt. Es wirkt so wohltuend, Menschen zu sehen, denen alles, was sie versuchen, gelingt; man hat den angenehm harmonischen Eindruck: es stimmt; es ist zwischen Kraft und Last, Anstrengung und Resultat, Wollen und Können das gute Gleichgewicht hergestellt. Man hat vom Talent 238 auch, im Gegensatz zum schweren Schicksalsgehorsam des Genies, das erlöste Gefühl von Leichtigkeit und Freiwilligkeit: es könnte auch anderes, es muß nicht, es tut seine Kunst nur um des schönen Spieles willen. Und wer, kann er schon selbst nicht spielen, sieht nicht gern dem schönen Spiel anderer zu! Außerdem macht jedes Können und Gelingen dem Könner so viel Spaß, daß es ihm leicht wird, heiter, gutmütig und erfreulich zu sein.

Die Spielfreudigkeit gehört zu den Symptomen, an denen man das Talent erkennt.

Was natürlich nicht hindert, daß Talente auch faul sein können. Aber auch zur Faulheit gehört Talent. Bei manchem das einzige. Das fällt dann unter die Spezialbegabungen.

Immerhin empfiehlt es sich, das Talent zu schmieden, solange es warm ist. Sonst kann es einem passieren, daß man sich nach einer allzu langen Pause seines Talents erinnert und die Entdeckung machen muß, daß es mittlerweile ausgeraucht ist.

Das Problem des Talents: wie wird aus einem Geschenk ein Eigentum?

Talent oblige.

Der Gegensatz zum Talent ist nicht Genie, sondern Talentlosigkeit.

Ein anderer Gegensatz zum Talent ist: Organisation.

Zum Talent gehört Fixigkeit. Talent ist kein 239 Schwerarbeiter. Es druckst nicht, es schwitzt nicht. Es kapiert geschwind. Konzipiert geschwind, produziert geschwind. Arbeit, bei der man allzu lange weilt, langweilt. Das Talent ist fürs Kurzweilige.

Talent ist der sechste Sinn. Und zugleich die Quintessenz der fünf andern. Es wurzelt in der Begabung der Sinne, und darum trägt es immer die gesunde Färbung der Sinnlichkeit. Für Unsinnlichkeit und Übersinnlichkeit fehlt ihm der Sinn.

Begabte Augen, begabte Ohren: dann stimmt auch alles andere. Was begabte Augen und Ohren beweist, hat Kopf und Fuß. Und Hand.

Die meisten Maler können tanzen, jonglieren, kunstpfeifen, ja mitunter selbst auch schreiben. Und einige sogar malen. Weil sie Augenmenschen sind.

Richtige Schauspieler können überhaupt alles, weil sie Sinnenmenschen sind.

Das erste, woran man das Talent des Schauspielers erkennt, ist das Gehör. Das zweite, daß er das mit dem Ohr Aufgefangene sofort wiedergeben kann. Die Stimme gehorcht dem Ohr. Der Körper gehorcht der Stimme.

Der nur talentierte Schauspieler kann alles machen, was er will. Am liebsten das, was ein anderer will. Aber er macht es so, als ob er selber es wollte, als ob es ihm Natur geworden wäre. Und es ist ihm Natur geworden. Der Schauspieler, der nur Natur ist, kann nur das machen, was er muß. Was 240 er muß. Aber das macht er so, daß auch der andere glaubt, er habe es gar nicht anders wollen können.

Talent und Natur im Schauspieler: das eine Wunder voll von unbegrenzten Möglichkeiten, die andere wundervoll begrenzt von Notwendigkeit.

Beim talentierten Schauspieler ist Talent nicht eine Eigenschaft neben allen andern, sondern jede andere Eigenschaft ist eine Ausstrahlung seines Talents. Er ist blond oder schwarz, dick oder mager, dumm oder klug, sicher oder bescheiden aus Talent.

Eine Natur kann sich lange verstecken. Manchmal sogar hinter Talent. Talent läßt sich nicht verheimlichen. Es spritzt einen an. Nur die Natur ist schamhaft, das Talent brennt darauf, sich preiszugeben.

Die schöpferische Stärke der Natur wird erst von der Bühne dekuvriert, das Talent tritt schon im Leben talentiert auf.

Aber wenn einer kein Gehör hat, das blitzschnell auffängt, keine Stimme, die dem Gehör, keinen Körper, der der Stimme pariert, ist er deswegen noch keine Natur.

Denn letzten Endes kann auch die schauspielerische Natur, gehemmter, schwerer, tiefer, undurchsichtiger als das Talent, des Talents nicht entraten. Im Gegenteil, sie braucht fast noch mehr Können, um ihre Hemmungen zu überwinden. Nur 241 daß ihr Talent unbewußter, wie unter einem Zwange, funktioniert, und nebenbei, wie wenn sie sich nicht viel aus seinen Künsten machte.

Das schauspielerische Talent braucht den andern, sich an ihm zu entzünden. Aber es entzündet sich auch wirklich. Es ist ein entzückendes Schauspiel, ein Theater vor dem Theater, diese Reagenzfähigkeit in der Arbeit zu beobachten. Ein Wort, ein Wink genügt, und der richtige Ton stellt sich ein, die richtige Geste unterstützt, die Verwandlung ist fertig; wie wenn es von einer Zaubergerte angerührt wäre. In den besten Fällen verwandelt es sich in sich selbst; aber auch dazu braucht es den andern.

Im Talent steckt so viel verwandelnde Kraft, daß es im Laufe der Zeit seinen Träger sogar in eine Natur umzutauschen vermag.

Aber es gibt auch den umgekehrten Fall: ein Talent ist so stark, daß es durch das Zuviel seiner Mannigfaltigkeit und Beweglichkeit die ursprünglich vorhandene Natur zuschüttet. Tragödie der Dichter Otto Julius Bierbaum und Klabund: die an sich durchaus nicht arme Persönlichkeit verblaßt am Farbenreichtum ihres Talents.

Seine Grenzen findet das Talent an der Zeit: es ist zeitgebunden, an seine Zeit gebunden, lebt von seiner Zeit und vergeht mit seiner Zeit. Nur die Natur trotzt der Zeit, nur das Genie ragt in die Ewigkeit.

242 So finden sich diese beiden Begriffe, Genie und Talent, so disparat sie sein mögen, ob man will oder nicht, immer wieder zusammen. Der Sprachgebrauch, der sich wenig um Begriffsbestimmungen kümmert, kuppelt sie aneinander, wie er die disparaten Begriffe Goethe und Schiller zusammengebracht hat.

Man kann auch die Grundverschiedenheit von Genie und Talent kaum besser erkennen als an diesen ihren beiden größten Repräsentanten: an Goethe und Schiller.

Schiller ist wohl das stärkste Talent der deutschen Literatur: er kann alles; er trifft jeden Ton, die zarteste Tonnuance, die er von sich verlangt, auch für das seiner Natur Entlegenste, auch für den Humor, er trifft den großen Schwung der historischen Aktion und bringt den verblüffendsten Scharfsinn auf für die verschlungensten politischen Intrigen, Strömungen und Gegenströmungen; er kann motivieren, verwickeln, steigern, spannen, er kann charakterisieren; und nur eines ist ihm versagt: das letzte Schöpfergeheimnis, wie man Menschen von Fleisch und Blut auf zwei Beine stellen kann, daß sie leben, ohne daß ein Mensch begreifen kann, mit welchen Mitteln das Wunder geschehen ist. Das kann Goethe. Schiller hat das Talent, unter tausend Worten jedesmal das schönste zu treffen; Goethe das Genie, unter allen Worten das einzig mögliche zu finden.

243 Wenn nicht Alfred Polgar für den Dichter Brecht die glückliche Formulierung (um die ich ihn beneide) gefunden hätte: »er hat Talent zum Genie«, so möchte man von Schiller sagen: er war ein Genie an Talent; aber nur an Talent.

 


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