Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Der schauspielerische Nachwuchs

1.
Wer geht und warum geht man zum Theater?

Wir sind, wie wir da sind, alle miteinander, vom Theater auf eine närrische Weise bezaubert, und es mag einer noch so bürgerlich sein, irgendwie lockt, reizt, beschäftigt ihn dieses rätselhafte Institut, zieht ihn an, stößt ihn ab, regt ihn auf, ob es ihm nun als eine leichte Stätte des Vergnügens, der Unterhaltung, der Erleichterung, der Betäubung gilt und als das bequemste Mittel, seine täglichen Geschäfte und Sorgen loszuwerden und zu vergessen, oder als der geweihte Tempel einer hohen Kunst, als Spiegel, Abbild und Deutung des Lebens, und als Ahnung eines höheren. Die meisten begnügen sich schließlich mit der passiven Rolle des Zuschauers, froh, einige Abendstunden angenehm auf dramatisch totzuschlagen und bestenfalls befriedigt, einen Eindruck empfangen zu 183 haben und etwas nach Hause zu tragen, worüber es sich weiter denken läßt. Aber selbst unter diesen sind nur wenige, die es nicht schon einmal geprickelt hat, mit dem Theater in irgendeine Berührung zu kommen, und wenn es keine andere wäre, als daß man die Nichte des Theaterfriseurs persönlich kennengelernt hat. Diese Theateratmosphäre, die sich als eine Welt für sich mitten in der bürgerlichen Welt auftut, hat etwas so Faszinierendes, daß fast jeder einen Zipfel davon erhaschen und hineingucken möchte, und nichts reizt das Publikum so sehr, als um jeden Preis informiert zu sein und etwas vom Leben und Wesen dieses sonderbaren Volks zu erfahren, wenn man schon selbst nicht dazu gehört. Denn fast jeder hat in seiner Jugend einmal mit dem Wunsch gespielt, dazuzugehören, womöglich als erfolggekrönter, beliebter, berühmter Schauspieler, und wenn nicht als Schauspieler, so doch wenigstens als dramatischer Autor, als Kritiker oder sonst irgendwie. Kurz, am Theater hängt, nach dem Theater drängt doch alles. Ach, wir Armen!

Wir Armen! Denn es ist ein verdammt steiniger Weg, und das Ziel des Ruhmes ist weit und mit lauter Hindernissen verhängt. Und doch läßt sich keiner abschrecken, und wir sehen immer wieder lange Karawanen hoffender Pilgerscharen, immer wieder neue nach dem lockenden Ziele wandern.

Aus allen Gesellschaftsschichten und 184 Berufskreisen kommen sie, strömen sie. Die Zeiten sind längst vorbei, da das Theater als gesellschaftlich verfemt galt und ein Sammelplatz der Parias und Ausgestoßenen war. Nicht bloß die Auserwählten, die Angelangten, die Prominenten, auch die andern, alle, auch die Anfänger, die Ringenden sind nicht mehr eine Kaste für sich, sind Schauspieler nur auf der Bühne, in der Arbeit, und gehen außerhalb des Theaters ebenbürtig in der übrigen Gesellschaft auf. Das hat längst aufgehört, daß jeder, der zum Theater geht, als verlorener Sohn oder gar als verlorene Tochter angesehen wird, und der bürgerlichste Vater erzählt stolz von den ersten Erfolgen seines Kindes. Aus allen Winkeln der deutsch sprechenden Länder kommen sie, und nicht wenige auch aus dem Ausland, und alle streben sie zur deutschen Bühne, die heute die höchste Geltung hat, und alle nach Berlin als dem Zentrum der deutschen Bühne. Aus allen Bevölkerungsschichten kommen sie. Aristokraten und Proletarier arbeiten friedlich und ohne gegenseitiges Vorurteil nebeneinander, und es gibt nur ein Privileg: das Privileg des Talents. Ich kenne Diplomaten, die eine bereits erfolgreiche Konsulatskarriere dem Theater freudig geopfert haben. Offiziere, Rabbiner, Ärzte, Advokaten, Fabrikanten, Leute in angesehenen Stellungen, und werfen alles hin, weil der Trieb zum Theater stärker ist, Studenten und Studentinnen aller Fakultäten, aus Ämtern und Geschäften 185 entlaufen sie, und zahllose junge Mädchen dem Verkaufstisch, der Schreibmaschine, der Nähmaschine. Und alle die Frauen aus unglücklichen und manchmal auch aus glücklichen Ehen.

Viel mehr noch als früher. Der Zudrang zum Theater war immer groß: so groß war er noch nie. Dabei erschwert man es ihnen, rät ab, warnt, schildert die Verhältnisse des Berufes, die Krisen des Theaters in den schwärzesten Farben. Umsonst, es nützt nichts, sie glauben einem nicht, und keiner läßt sich abbringen. Immer wieder sagt man ihnen: »Theater hat nur für den einen Sinn, der es zu etwas ganz Großem bringt. In der Kunst gilt nur das einmalige. Wie wenige sind einmalig! Wollen Sie das Proletariat vermehren?« Aber jeder einzelne hofft, daß er, gerade er, es zu etwas ganz Großem bringen wird, und glaubt, einmalig zu sein, und wagt den Sprung ins Ungewisse, auf die Gefahr, das Proletariat zu vermehren.

Warum? Warum zieht gerade das Theater so viele so magisch, so unwiderstehlich an? Gewiß, es liegt schon im Klang der großen Gagensummen erster Künstler eine große Verführung: und die bloße, wenn auch noch so ferne Möglichkeit, ähnliches zu erreichen, berauscht. Dann die Publizität: man kommt in die Zeitung (schon das für viele ein Glück ohnegleichen!), man wird bekannt, man hat Erfolg, man gehört dazu, zu den Leuten, die man sich zeigt, man wird sogar einmal 186 berühmt werden; der Ruhm, die verlockendste aller Verführungen, und wo ist er leichter zu gewinnen als am Theater? Schon auf einer Bühne zu stehen, fasziniert viele. Dann die Vorstellung eines freieren, ungebundeneren, unterhaltsameren, abwechslungsreicheren Lebens, mit der Aussicht auf Bekanntschaften, Verbindungen, Erlebnisse, Liebschaften, und für viele das Abenteuer des Theaters, die Stillung ihres Bedürfnisses nach Romantik. Manchen das Leben in Schönheit, in der Beschäftigung mit schönen Dingen, schönen Werken, schönen Worten, unter schönen Menschen, Farben und Musik. Und schließlich für einige wenige die einzige Möglichkeit zu leben, sich auszuleben, sich selbst zu geben, sich auszudrücken, sich zu gestalten. Das sind die Künstler, die wirklichen, die geborenen Schauspieler.

Und aus allen diesen Elementen setzt sich der schauspielerische Nachwuchs zusammen, den jedes künstlerische Theater die Pflicht, kennenzulernen, und kein anderes Mittel hat als das Vorsprechen.

2.
Das Vorsprechen.

Das Vorsprechen weckt in dem Theatermenschen ähnliche Gefühle wie das Zähnereißen in der übrigen leidenden Menschheit. Manche vergleichen es mit dem Photographiertwerden, aber denen ist 187 nicht unbedingt zu glauben; es kann doch keiner gezwungen werden, sein Bild in den illustrierten Zeitungen zu bewundern, wenn es ihm gar so unangenehm ist.

Der dentistische Vergleich aber stimmt bis aufs i-Tipfelchen. »Bitte, nehmen Sie Platz! Es tut nicht weh. Nur hübsch den Mund aufmachen!« Und dann beginnt das Bohren in allen Nerven.

Nur daß es beim Theater den Zahnärzten ebenso wehtut wie den Patienten.

Und es entrinnt ihm keiner. Wer zum Theater will, muß diese Folter der Feuer- und Wasserprobe über sich ergehen lassen. Es ist bis jetzt noch nicht gelungen, eine angenehmere Folter zu finden.

Die Anfänger sind die mutigsten. Sie springen hinein, wie man in ein kaltes Bad springt. Sie springen am leichtesten und am liebsten. Sie ahnen ja noch nichts von den Klippen und Gefahren und Untiefen des Berufes. Ihnen macht es noch Vergnügen. Je reifer ein Schauspieler ist, um so schwerer wird es ihm. Vor den zweitausend Augen des Publikums, unter dem Schutze der Maske und Kostüm, ohne weiteres, ohne Scheu: mit einem einzelnen in der Enge eines Zimmers allein, um keinen Preis! Da tritt jenes Problem der Scham hinzu, das eine so merkwürdige Rolle in der schauspielerischen Kunst spielt. Je mehr einer kann, um so mehr schämt er sich, im Vorsprechen unter vier Augen die geheimnisvollen Wurzeln seiner Kunst 188 bloßzulegen. Die ganz Großen schämen sich am meisten. »Wenn ich vorsprechen müßte«, sagte die Höflich, »ich glaube, ich brächte nicht ein Wort über die Lippen: kein Direktor würde mich engagieren.« Und doch bringen es gute Schauspieler gerade durch die Erregung dieses Kampfes mit ihren Hemmungen beim Vorsprechen im Zimmer mitunter zu einem Grade von Persönlichkeitswirkung, den sie am Abend auf der Bühne oft nicht erreichen.

»Ich kann nicht vorsprechen. Bitte, lassen Sie mich doch statt dessen irgendeine Rolle spielen! Ich mache es mit einer Probe.« Wenn der eine Ahnung hätte, was er sich wünscht! Probieren mit Mitspielern, die nicht da sind, vor Wut schnauben, daß sie wegen eines unbekannten Neulings den einzigen freien Vormittag einer ihnen überflüssig scheinenden Probe opfern müssen! Mit einer unvollständigen Probe und einem Hilfsregisseur machen müssen, wozu der andere zwanzig vollständige unter dem richtigen gebraucht hat! Abends mit unlustigen Partnern spielen, die nicht daran denken, den scheel angesehenen Fremden auch nur im mindesten zu unterstützen! Und immer in der Angst vor dem unentrinnbaren Vergleich mit dem erbeingesessenen ersten Darsteller der Rolle, der naturgemäß immer recht behält. Schließlich kann es auch der Direktor nicht mit einem ihm völlig Unbekannten riskieren, bloß auf 189 sein talentiertes Gesicht oder seine Versicherung, daß er sich's zutraut, oder auf eine Empfehlung, oder auf gute Kritiken hin: und wenn er dann gar nichts kann?, stecken bleibt?, die Vorstellung wirft?, schon vorausgesetzt, daß es der Menschenfreundliche auf sich nehmen wollte, den bisherigen Besitzer der Rolle vor den Kopf zu stoßen.

»Dann lassen Sie mich eine neue Rolle in einem neuen Stück spielen, bei dem ich eben alle Proben von Anfang mitmachen kann! Wenn ich nichts tauge, können Sie mir ja die Rolle auf der Probe abnehmen.« Das ist leichter gesagt als getan. »Ist die Rolle gut, so lauern schon zehn Anwärter (oder Anwärterinnen) drauf, die mir die Augen auskratzen, wenn ich sie einem noch nicht engagierten zuliebe übergehe; und ist sie schlecht, dann haben Sie nichts davon.«

So bleibt nichts übrig, als die Augen zu schließen, gute Miene zum oft sehr bösen Spiel zu machen, einen Anlauf zu nehmen und ins kalte Wasser zu springen, beziehungsweise mitten ins Gretchen oder in den Melchtal hinein.

»Was soll ich vorsprechen, Herr Direktor?« »Was Sie wollen. Was Sie für Ihr Bestes halten. Aber etwas Klassisches muß dabei sein, damit man sieht, ob Sie Verse sprechen können. Und etwas Modernes muß dabei sein, damit man sieht, ob Sie den konversationellen Ton beherrschen. Und etwas muß dabei sein, wo Sie ganz aus sich herausgehen 190 können. Und womöglich auch etwas, das Ihnen wirklich liegt. Aber höchstens zwei Stücke. Und kurz. Wir haben wenig Zeit.«

Ort der Handlung – der Vollstreckung, möchte man sprechen –: ein größeres Bürozimmer, der Nebensaal des Foyers oder die Bühne. Die Bühne wird gewählt, wenn Mehrere Probe sprechen sollen – Gott schütze einen davor, in ein sogenanntes Massenvorsprechen zu geraten: je mehr Opfer es sind, um so kürzer die dem einzelnen zugemessene Zeit, um so weniger liebevoll die Beschäftigung mit ihm, um so schneller ermüdet und gelangweilt die Zuhörer. Man steht nicht mehr allein auf sich und seinem Können, ein neues, akzidentielles Moment mischt sich ein, der Zufall der Vergleichsmöglichkeit. Es gibt nichts Stimmungsloseres, als am Vormittag, manchmal nach enervierend stundenlangem Warten, allein auf einer leeren, oder mit einigen Versatzstücken der Abendvorstellung umstellten Bühne zu stehen und in das große, schwarze, fast leere Loch hineinzusprechen, in dem man irgendwo ein paar Herren zu entdecken glaubt, die ihre Köpfe zusammenstecken, kaum hinzuhören und mit irgend etwas sehr wichtigem, jedenfalls mit ganz anderm beschäftigt zu sein scheinen, als mit dem Talent des Probesprechers. Das alles täuscht natürlich, der oben kann's nur nicht anders empfinden. Alle Schauspieler aber ziehen trotzdem die Bühne vor, weil es eben die Bühne ist, der 191 magisch lockende Gegenstand aller ihrer Sehnsucht. Sie wissen nicht, um wie vieles stärker die private Umgebung eines Zimmers zu ihren Gunsten wirkt, gerade weil es privater ist und die ganze Angelegenheit privater wird, weniger als hochnotpeinliche Prüfungsaktion, weil sie selbst privater, und das heißt persönlicher wirken. Jeder Mensch, auch der Schauspieler, gewinnt, wenn man ihm ins Weiße des Auges sehen kann. Sehr oft verspürt man die Anwandlung, einem zu sagen: »Wenn Sie in der Rolle so wirken, wie Sie hier im Gespräche wirken, ist es schon gut. Sie brauchen nichts dazuzutun.« (Was ein Irrtum ist: es gibt nichts Schwereres, als in der Rolle so zu wirken, wie man im privaten Gespräche wirkt, und gerade bei diesem scheinbaren Nichtsdazutun fängt die Kunst an.) Die Bühne dekuvriert fast immer: Vieles, was in der Intimität der Zimmerwirkung als Ausdruck einer letzten Natürlichkeit, Schlichtheit und Innerlichkeit empfunden wird, erweist sich nachher auf der Bühne als dünn, farblos, schwach, und dringt nicht über das Orchester hinüber. Zudem ist der geübte Zuhörer gewohnt (oder verleitet), alle fehlenden Momente des Abends, den Mangel an Stimmung, Erregung des Spiels, an Beleuchtung, Kostüm, Maske, Gegenspiel, den fehlenden Partner und Stichwortbringer zugunsten des Vorsprechenden in die Rechnung zu setzen. »Wenn nun das alles noch dazu kommt«, stellt man sich mit 192 wohlwollender Phantasie vor, »wie gut wird er erst sein!« Oder: »Dann wird er erst sein letztes geben.« Oder wenigstens: »Dann wird sich, was ihm heute noch gefehlt hat, hoffentlich einstellen.« So täuscht das Vorsprechen im Zimmer fast jedesmal zugunsten des Vorsprechers. Und eigentlich müßte, statt des Schauspielers, der vorsichtige Direktor sich dagegen sträuben.

Das einzige, was nicht täuscht, ist, wenn einer wirklich lachen und wirkliche Tränen weinen kann. Eine nasse Wange läßt sich nicht erschwindeln. Wenn einer es durch Autosuggestion erzwingen kann, ist auch das schon schauspielerisches Talent.

Sonst ist das Vorsprechen nicht viel mehr als eine Visitenkarte, die man abgibt. Man weiß ja von einem Menschen nie viel mehr, als was man beim ersten Eindruck von ihm weiß. Gar so wenig ist es nicht. Das Gesicht, der Blick, der Körper, die Haltung, die Stimme lügen nicht, verraten das meiste. Fast brauchte es des Vorsprechens nicht mehr. Immerhin lernt man Klang und Tonfall seiner Stimme, eine gewisse Schulung der Diktion, die Richtung seiner Verwendbarkeit kennen. Mehr nicht. Den Grad seiner Verwendbarkeit, den Umfang und die Tiefe seiner Begabung, die Echtheit seiner Innerlichkeit zu erraten, ist das Probesprechen nur ein unzulängliches, nur in seltenen Glücksfällen erfolgreiches Mittel.

193 Leider gibt's vorläufig kein anderes. Und so werden wir auch weiterhin von allen jungen Charakterspielern zum tausendsten Male die Traumerzählung des Franz Moor, den Monolog Richards III., den Mephisto (»Da du, o Herr«) und den Shylock (»Hat ein Jude nicht Augen?«); von den Helden den Faust-Monolog, die Forumszene und den Schwur des Karl Moor; von den jugendlichen Heldenliebhabern den Carlos, die Balkonszene Romeos, den Melchthal (»Oh, eine edle Himmelsgabe«) und den Mortimer (»Ich zählte zwanzig Jahre, Königin«); von den Sprechern die Schlachterzählungen des Raoul (»Sechzehn Fähnlein«) und des Zanga; und von den jugendlichen Komikern den Schüler aus »Faust« und den Monolog des Lanzelot Gobbo zu hören bekommen. Daneben sprechen freilich die ganz modernen, schwarzhaarigen, knabenhaft schlanken und nervösen Jünglinge mit Vorliebe Oswald und die Monologe des Moritz Stiefel oder des Sohnes aus »Armut« von Wildgans vor. Bei den Frauen steht an der ersten Stelle der ungeschriebenen Statistik nach wie vor das »Ach, neige du, Schmerzenreiche«; das läßt sich überhaupt keine entgehen, und es vergeht am Theater wohl kaum ein Tag, an dem man es nicht mindestens einmal vorgebetet bekommt: allerdings mit Recht, denn wenn auch nur ein Funke echten Gefühls vorhanden ist, muß er da herausspringen, und es kommt auch nur selten vor, daß eine darin 194 ganz versagt. Sehr beliebt sind immer noch die beiden Monologe der Jungfrau, die Marktszene aus dem »Egmont«, Julias Giftmonolog und das Mädchen aus dem »Tor und der Tod«. Selten geworden sind Luise, Milford, Eboli, verschwunden ist Hero. Der jetzt so häufig vorkommende Typ der kindlich Naiven bevorzugt Rautendelein (»Du Summserin von Gold«), das Hannele (»Himmelsschlüssel!«), die Holunderbuschszene des »Kätchen« und die Wendla; neuestens auch die Kleopatra aus Shaws »Cäsar und Kleopatra«; die Heroinen, soweit sie noch von früher herüberragen: Maria Stuart und Elisabeth, je nachdem; die modernen Heroinen, aber ganz unheroisch: die Penthesilea; die Munteren Viola, Franziska und den Puck; die volkstümlich Derben die Rose Bernd, die Piperkarcka und die Schwester aus Georg Kaisers »Gas«; die komischen Alten: ebenfalls das Hannele. Und die Allermodernsten (jetzt Charakterspielerinnen genannt) Lulu, Fräulein Julie, Klara Hühnerwadel und die Ilse aus »Frühlings Erwachen«; aber auch Judith, Elektra, Salome. Das wäre so ziemlich alles. Viel anderes dürfte nicht vorkommen. Wie man sieht, herrscht wenig Abwechslung und persönliche Phantasie in der Auswahl; leider aber auch, bei aller Verschiedenheit der Talente und der Charaktere, ebensowenig Abwechslung in Ton und Auffassung. Wenn sie auch die ursprünglichen Modelle kaum gehört haben 195 können, so vererbt sich doch deren Tonfall unsichtbar von einer zur andern Generation der Vorsprechenden.

Bonvivants und Salondamen sträuben sich mit der meisten Berechtigung gegen das Probesprechen, weil sich in ihren Rollen fast nie die geeigneten zusammenhängenden Stellen finden. Von älteren Komikern verlangt man's nicht: die werden auf Kredit engagiert.

Manche versuchen den traditionellen Ablauf des Vorsprechens durch die Improvisation kleiner Szenen, durch die Stellung improvisierter Ausdrucksaufgaben zu ergänzen. »Sie treten in ein Zimmer und finden Ihre Frau in den Armen eines andern.« »Ei, verflucht!« sagt der Bonvivant; »Ha! Verworfene!« der Pathetiker. »Sie sehen, wie Ihr Kind vor Ihren Augen überfahren wird.« Man kann sich denken, was die Anfängerin da für eine Filmkiste aufmacht! Jedenfalls sind das mehr Geschicklichkeitsprüfungen als Talentproben, und der Geschicktere ist durchaus nicht immer der Begabtere.

Ich finde ein Vorsprechen nur dann aufschlußreich, wenn es – zwei Vorsprechen sind, wenn man sich die Mühe nimmt, den Vorsprechenden zu korrigieren und ihm einige Winke zu geben, und sich dann nach acht Tagen überzeugt, was daraus geworden ist. Da lernt man ihn gewissermaßen in der Arbeit kennen; man erfährt, ob er ein Ohr hat, zu hören, und die Fähigkeit, das Gehörte 196 selbständig zu verarbeiten. Das sagt mehr von seinem Talente als der flüchtige Eindruck, den man aus dem von tausend Nebensächlichkeiten bedingten Zufallsprodukt des üblichen Schuldrills gewinnt.

Alle Schulerziehung geht auf das kollektiv Erlernbare, das Sprachliche, aus, geht über die Kehle. Aber das schauspielerische Erlebnis vollzieht sich erst im Körper und dann erst in der Kehle. Der Weg zu diesem Geheimnis, das eines der wesentlichsten aller Schauspielkunst ist – wer es hat, dem ist »der Knopf aufgegangen« –, führt über die Einsamkeit der privaten Arbeit.

Beim ersten Vorsprechen merkt man es fast nie, ob einer im Körper erlebt oder nicht: beim zweiten untrüglich.

Und wenn's von Tausenden nur einer wäre, der Schauspieler, der daran zweifelt, der eine zu sein, hat beim Theater nichts zu suchen. Aber leider entscheidet nicht das Genie.

Zur Phänomenologie des Vorsprechens: fast alle reißen sich darum, wenn sie sich auch noch so sträuben; fast alle suchen im letzten Augenblick davor nach dem Mauseloch, in dem sie sich verkriechen könnten, aber noch keiner hat es gefunden; fast alle sind gerade heute in der denkbar ungeeignetsten Verfassung; fast alle machen es schließlich so gut, wie sie es nur können, und meistens noch etwas besser; wenn sie einmal drin sind, würden sie nie aufhören, wenn man sie ließe; und 197 wenn sie unterbrochen werden, dann hat man sie immer gerade unmittelbar vor ihrer besten Stelle unterbrochen.

Viele sind zum Vorsprechen berufen, aber wenige zum Engagement auserkoren.

Das Theater kann nicht alle engagieren. Das Theater kann auch nicht alle Begabten engagieren. Nicht einmal die Begabtesten. Von den Unzähligen, die zu dem einen Zentrum drängen, wie der Falter ans Licht, kommen nur ganz wenige in Betracht. Etat und Bedürfnis entscheiden. Und das ist nun das Traurige daran, daß man, wie oft!, jungen hochbegabten Menschen gegenübersteht und ihnen nicht zu helfen vermag. Warum läßt man, trotz dieser Aussichtslosigkeit, sich doch immer wieder vorsprechen? Setzt sich der traurigen Verantwortung, die Ärmsten der nutzlosen Quälerei stets von neuem aus?

Weil ein großes Theater die Überschau über den vorhandenen Personalbestand und das menschliche Material, zumal das aufwachsende, der Bühne seiner Zeit nicht verlieren darf. Und wenn es auch nicht jede Hoffnung erfüllen kann, der Verpflichtung, jede anzuhören, kann es sich nicht entziehen. Selbst wenn das voraussichtliche Resultat schmerzlich negativ ist.

Wie man es ihnen beibringt? Wenn es zum Engagement geführt hat, ist es leicht; wenn nicht, ist es gleichgültig, wie: der andere hört ja doch nur 198 das Nein. Mit der Zeit lernt man, daß die rückhaltlose Wahrheit zu sagen, noch immer die schonendste Methode ist.

Und noch nach Jahren halten sie es einem dankbar vor: »Sehen Sie? Und Sie haben mich damals für völlig talentlos gehalten!«

Ich schweige und verrate nicht, wofür ich ihn heute noch halte.

3
Woran erkennt man ein Talent?

Wer viel versteht, irrt viel. Unfehlbar sind nur, die nichts verstehen.

Unbelehrbar sind leider auch die Verstehenden. Nichts ist schwerer, als aus Irrtümern zu lernen. Wir sind geneigt, aus einem Irrtum alle möglichen Folgerungen zu ziehen, nur nicht die, daß wir geirrt haben.

Ich habe eine Schauspielerin oft spielen gesehen. Ich glaube sie zu kennen. Mein Gesamteindruck ist der: sie kann etwas, sie hat eine gewisse Sicherheit, die darüber hinwegtäuscht, daß sie im Grunde eine kleine unbedeutende Persönlichkeit ist, der Entscheidendes nicht zuzutrauen ist. Dabei bleibe ich.

Nun spielt sie die entscheidende Rolle, die ich ihr nicht zugetraut habe, und spielt sie ausgezeichnet. Was folgere ich daraus? Nicht, daß ich geirrt habe. Sondern: daß Ausnahmen die Regeln 199 bestätigen; daß eine Schwalbe keinen Sommer macht und ein Erfolg nichts beweist.

Statt daß ich mir sage: man kennt einen Menschen nie genug und vollends den Schauspieler nicht. Vielleicht steckt in jedem mehr, als man ihm zutraut, und kommt heraus, wenn man es ihm zutraut. Vielleicht gibt es für jeden die eine Aufgabe, in der er über sich hinauswachsen kann. Und wenn es die eine gibt, dann muß es mehrere geben, und es kommt nur darauf an, daß man sie herausfindet und ihn vor sie stellt. Dazu gehört allerdings, daß man sich ein wenig liebevoll mit einem Menschen und der Entwicklung seiner Möglichkeiten befaßt. Wie aber kann man liebevoll sein, wenn man eigensinnig und unbelehrbar bei seinem vorgefaßten Bilde der unbedeutenden Persönlichkeit bleibt? Und wie soll sich einer aus diesem Bilde herausentwickeln, wenn man ihm die Gelegenheit vorenthält, die jedes Talent braucht, um zu wachsen?

Ohne die Liebe geht es beim Theater nicht. Man kann aber nicht alle lieben, und die Welt ist nun einmal nicht auf Gerechtigkeit gestellt, am wenigsten die Welt des Theaters. Das größere Talent hat es leichter, von zwei Persönlichkeiten siegt die stärkere, und die, die kleiner und unbedeutender wirkt, muß eben leiden. Das ist nun einmal so, und wir werden es nicht ändern.

So dürfen alle Leute sprechen, nur gerade die Leute vom Theater nicht. Ein Theater muß wie 200 ein reichbesetztes Blumenbeet oder, noch besser, wie eine ganz bunte Wiese der mannigfaltigsten Blumen sein, und jede muß zum Blühen gebracht werden. Und es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Leute vom Bau, mit dem ihnen anvertrauten Pfunde zu wuchern, und wenn sie nicht das Gras wachsen hören können, wer sollte es sonst! Jedes Talent ist anders, und die Spannweite zwischen dem größeren und dem kleineren Talent ist vielleicht lange nicht so groß, wie sie ausschaut, morgen kann's umgekehrt sein, und aus dem kleineren Talent ist das größere geworden. Darum hat der verantwortliche Theatermensch die Sorge, jede der ihm anvertrauten Persönlichkeiten bis an die äußerste Grenze ihrer Möglichkeiten zu führen und zu entfalten, und darum muß er die Spürgabe haben, die man sonst von keinem verlangen kann, auch das werdende Talent im Keime zu erkennen. Beim gewordenen, beim bereits fest konturierten, beim geprägten ist's keine Kunst mehr: das kann jeder Genießer. Gewordenes Talent zu beurteilen ist ein anderes Amt, als dem sich bildenden, dem ringenden ans Licht zu helfen. Dazu muß man das Talent, durch seine Unzulänglichkeiten durch, in seinen Anfängen wittern können. Das Talent natürlich, nicht alle Möglichkeiten seiner Zukunft. Das kann niemand: unfehlbare Prophetie ist immer eine Geheimkunst der Scharlatane geblieben. Wie soll man einem neunzehnjährigen Geschöpf, das 201 noch nichts ist und nichts hat und nichts haben kann als sein Gesicht und den Klang seiner ungeschulten Stimme, seine ratlos tastende Innerlichkeit und einen leidenschaftlichen Wunsch, prophetisch anmerken können, was das Leben aus ihm machen wird? Ist auch nicht nötig. Was ihm jetzt nottut, muß man wissen; ihm auf den Weg helfen, ihm die ersten Gelegenheiten geben: in der Wirklichkeit der Arbeit kommt dann von selbst alles, wie es muß.

Leicht ist das Erkennen des Talents nie. Es ist nicht immer Persönlichkeit, was am auffälligsten persönlich auftritt. Gerade die Persönlichkeit wird oft von den Hemmungen der Scham zugeschüttet. Routine wirkt oft wie Talent, aber auch Talent oft wie Routine. Auch das Talent kämpft manchmal gegen eine gewisse Scham, die es hinter einer zur Schau getragenen allzu großen Sicherheit der Routine zu verstecken sucht. Und stößt auf die gefährlichere, die redensartliche Routine vorschneller Beurteiler, die sich mit einigen immer wiederkehrenden Wendungen hilft: »So jung und schon so routiniert!« ist die beliebteste. Oder: »Sie sind viel zu bewußt für einen Anfänger. Sie müssen an sich selbst vergessen.« Wie froh wäre der Ärmste, wenn er schon wüßte, wie man das macht, an sich selbst zu vergessen! Ein junges Mädchen hat vorgesprochen, und ich muß sagen: wirklich gut. »Zu gut!« lautet das Prophetenurteil. »Daraus wird die 202 typische Durchschnittsnaive.« (Sie sagten beides: »Typisch« und »Durchschnitt«.) »Zwölf auf ein Dutzend. Ganz nett, aber nicht mehr. Konventionell in jedem Ton.« Das junge Mädchen ist heute eine der besten Naiven der deutschen Bühne, und zwar die, die dem ganzen als überlebt geltenden Fache durch ihre unkonventionelle und ruhige Eigenart ein neues Gesicht, das Gesicht der Zeit, gegeben hat. Es kommt alles im Theater anders. Was beim Vorsprechen als ekstatische Inbrunst faszinierte, entpuppt sich als eine leere Hysterie. Was unter vier Augen intim und beseelt wirkt, wird auf der Bühne dünn und dringt nicht übers Orchester. Menschen, die durch die betonte Persönlichkeit ihres Auftretens imponieren, sieht man abends neben den wirklichen Schauspielern kaum, und der in der Zimmerenge Verkrampfte hat sich unter der Suggestion der Rolle freigespielt und alles Private abgestreift. Manche gewinnen in der Intimität des Zimmers, unter vier Augen, eine Intensität, die sie auf der Bühne schwer wiederfinden. Viele brauchen Bühne, Partner, Licht, Kostüm, Publikum, um ganz sie selbst zu werden.

Natürlich kann man auf die Prüfung im Zimmer nicht ganz verzichten. Aber man muß lernen, vorsichtig zu werden, sich vor der Endgültigkeit des eigenen Urteils zu hüten, die Zimmerwirkungen richtig zu werten und, was immer möglich sein muß, das im Zimmer Erreichbare für die Bühne 203 wenigstens zu retten, womöglich zu steigern, doch nie leichtfertig Hoffnungen abzuschneiden. Jungen Menschen den Mut nehmen, nützt nie, weil es ja doch keinen vom Theater zurückhält, und schadet jedem. Es ist verzeihlicher, einem halben Talent zu seinem halben Erfolge zu verhelfen (wer weiß es, am Ende wird's doch noch ein ganzer), als an einem wirklichen Talent blind vorbeizugehen.

Das dürfte keinem passieren. Es passiert doch. Ich weiß Fälle, in denen es fast allen passiert ist. Und dabeizustehen und zusehen, wie ein ganz starkes, persönliches, ungewöhnliches, ungewöhnlich sympathisches Talent, das es verdienen würde, in der ersten Reihe zu stehen, aus unverständlichen Gründen, vielleicht wegen seiner unauffälligen Stille, von allen übersehen wird, und doch nicht helfen zu können, gehört zu den traurigsten Erlebnissen unseres Berufs.

Es gibt Fälle, in denen das innere Gefühl so untrüglich sicher wird, daß die Möglichkeit des Irrtums aufhört.

Bei jedem, der sich lange mit diesen Dingen befaßt hat, bildet sich schließlich eine Methodik und ein bestimmtes System von Merkmalen heraus, an denen er das Talent erkennt. Natürlich hat jedes System als das Resultat einer Erfahrung seine Berechtigung. So gibt es eine Methode, die nur wirkliches Weinen und wirkliches Lachen als Kriterium der wirklichen Begabung gelten läßt. Dagegen bin 204 ich ein wenig skeptisch. Wirklich lachen zu können, ist so schwer, daß es dem Anfänger kaum gelingt: meist wird es ein Theaterlachen. Wenn einer wirklich lachen kann, ist es gewiß ein Beweis von Talent, aber wenn er es noch nicht kann, noch lange kein Beweis von Talentlosigkeit; und echte Tränen zu produzieren, wird fast jeder Frau so mühelos leicht, daß damit kein Beweis erbracht ist, ob in ihr etwas innerlich vorgegangen ist oder nicht. Echtheit oder Unechtheit des Tons ist überhaupt für viele das entscheidende Schiboleth; nur läßt sich mit nichts so sehr schwindeln wie mit der Echtheit des Tons: wir alle kennen den Bibber, der jahrzehntelang als das unerläßliche Wahrzeichen des echten Gefühls galt; und gibt es nicht auch eine Schauspielerei, die auf Echtheit und Gefühl nicht angewiesen ist und doch gute Schauspielerei sein kann, eine Schauspielerei der Verwandlung, der Charakteristik, der großen Pose, sogar der Kälte und Härte, kurz, die echte Komödianterei? Andere achten nur auf gute Stimm- und Sprachschulung: die, die das Theater wieder lediglich auf das Wort stellen wollen, auf Tirade und neues Pathos. Der zur Zeit beliebteste Maßstab für die Beurteilung des Talents ist die Kraft des Ausbruchs: mir scheint das nur ein Anspruch unter tausend Ansprüchen an das schauspielerische Können zu sein, und gewiß der bei weitem nicht wichtigste, nicht die zentralen schauspielerischen Kräfte berührende; es 205 gibt neben den lauten Effekten noch zahllose andere Ziele der Darstellung, Formen der Wirkung, auch Wirkungen der Stille, die durchaus nicht weniger intensiv zu sein brauchen. Jedes einzelne dieser Merkmale kann etwas, kann viel besagen und verraten: aber man sollte sich auf keines allein verlassen, weil man damit dem Schauspieler unrecht tut; und man täte gut, von Zeit zu Zeit die Maßstäbe zu wechseln. Schon im Interesse der eigenen Erfahrung.

Ich selbst habe es im Laufe meiner Erfahrung zu einer hübschen Sammlung kleiner Geheimnisse gebracht, an denen sich mir das schauspielerische Talent offenbart, und eins oder das andere davon will ich preisgeben, auf die Gefahr hin, daß es sich als secret de Polichinelle herausstelle. Zunächst beobachte ich den Schauspieler auf seinen Körper hin: und wenn ich sehe, daß er das, was er sagt, zuerst im Körper erlebt und dann erst in der Kehle, zuerst in der Geste und dann erst im Wort, beginne ich an sein Talent zu glauben. Und bin davon überzeugt, wenn ich auch nur die Spur eines Versuches wahrnehme, hinter dem Text, den er spricht, und eventuell sogar gegen den Text, und neben dem Ausdruck der gegebenen Situation die Figur anzudeuten oder gar festzuhalten, die er spielt; denn hier, in dieser Doppelbodigkeit des Spiels, fängt die eigentliche Schauspielerei erst an; ein Gefühl, eine Stimmung in einem Tone ausdrücken kann 206 immer noch Rezitation oder Deklamation sein: Gestaltung beginnt, wo ein Hintergrund mitspielt. Erst wenn der Schauspieler davon eine Ahnung bekommt, fängt er an, Schauspieler zu sein. Und wenn ich ganz sicher gehen will, gebe ich ihm zu guter Letzt einige Winke für dieselbe Szene, um mich nach einer Woche zu überzeugen, wie er sie verarbeitet hat; weil Empfänglichkeit des Gehörs und Elastizität in der Arbeit mehr von einer Begabung aussagen als der erste flüchtige Eindruck einer Improvisation unter stimmungstötenden Umständen. Wenn er dann im einzelnen widerstrebt und auf seiner Auffassung beharrt, um so besser; denn es kommt nicht auf mein Rechthaben, sondern auf sein Talent an.

Ein Talent zu spüren, traue ich mir allmählich zu. Eine Talentlosigkeit noch lange nicht: da muß man, so viele Erfahrungen man auch haben mag, vorsichtig sein.

4
Die Typen des schauspielerischen Nachwuchses

Das schauspielerische Talent ist sehr häufig. Besonders bei den Frauen. Die großen Talente sind sehr selten. Trotzdem gibt es keinen Rückgang. Jede Zeit bringt neue Persönlichkeiten hervor, in denen sie sich ausdrückt, immer wieder tauchen neue Kräfte auf, die es mit den alten aufnehmen 207 können, neue Gesichter in der repräsentativen Porträtgalerie des Theaters. Die Kette des Talents reißt nie ab. Die Summe der schauspielerischen Talente, der Talentgehalt einer Zeit, ist zu allen Zeiten ungefähr der gleiche. Auch hier wirkt das Gesetz von der Erhaltung der Kraft.

Die Summe des Talents bleibt die gleiche, die erreichbare Größe des Talents bleibt die gleiche, aber die Typen wechseln. Der schauspielerische Nachwuchs von heute sieht anders aus als der von früher. Auch er trägt das Antlitz seiner Zeit.

Die Frauen und Mädchen sind, wenn das noch möglich war, fast noch hübscher geworden. Darin ändert sich das Theater nicht. Es will immer noch eine Auslese der schönsten Menschen sein.

Aber die Puppengesichter sind weg. Die Zeit verlangt, auch vom jungen Mädchen bereits, beseelten Ausdruck. Die Schönheit der Zeit ist unsentimental, fast sachlich. Dementsprechend eine viel größere Elastizität und Beweglichkeit der schlanken, gymnastisch durchtrainierten Körper.

Die alten Typen der Naiven, der Munteren, der Sentimentalen, der Heroine kommen nicht mehr vor. Die neuen Typen sind komplizierter, widerspruchsvoller, aus Gegensätzen zusammengesetzt. Wie auch das Leben komplizierter und widerspruchsvoller geworden ist, das sich wieder im Theater widerspiegelt. Und so bilden sich die neuen Typen nach schauspielerischen Vorbildern. 208 Da ist der Dorsch-Typus: frisch, echt, saftig, natürlich, rund, appetitlich, mit einer gewissen volkstümlichen Breite, aber nicht ohne eine herbe Weichheit. Der Bergner-Typus: zart, aber geistig, kindlich, aber früh gereift und wissend, kompliziert und doch hilflos. Der Helene Thimig-Typus: herb, spröde, leise, geheimnisvoll, undurchsichtig in seiner verhaltenen Leidenschaft, in seiner tiefen Innerlichkeit. Der Mosheim-Typus: klar, besonnen, rein, klug, sympathisch: das gescheite und lebenstüchtige junge Mädchen von heute. Und schließlich der neue Typus der Maria Bard: sehr mondän, pikant, intelligent, witzig, überlegen und von der äußersten geistigen und körperlichen Beweglichkeit.

Daneben finden sich überraschend viele, die, unter Hintansetzung ihrer weiblichen Eitelkeit, die weiblichen Charakterrollen spielen wollen, und nicht wenige, die, obwohl noch jung, bereits nach dem Fach der komischen Alten streben. Beides ein Symptom dafür, wie vieles sich in der Psyche des jungen Mädchens geändert haben muß, wenn es ohne schmerzliches Opfer auf die Darstellung der Liebe auf der Bühne verzichten und sich rein sachlichen Aufgaben der Energie, der Beobachtung und der Charakterisierung zuwenden kann.

Die männlichen Typen sind schwerer zu überschauen. Schon deshalb, weil der junge Mann später zu einem eigenen Gesicht oder wenigstens zur 209 Darstellung seines eigenen Gesichtes kommt als die Frau. Später kommt's umgekehrt: dann, nach vollzogener Entwicklung, ist die individuelle Differenzierung beim Manne stärker.

Zunächst sehen alle die jungen Leute einander ziemlich ähnlich. Fast alle sind mehr oder minder Charakterspieler. Der blonde, hünenhaft breitbrüstige jugendliche Held mit der Schmetterstimme und der lyrische Liebhaber mit dem süßen Schmelz sind ganz selten geworden. Der brünette, der intellektuelle Typ herrscht vor.

Die einen sind ernst, spröde, männlich, energisch, geistig, zerebral; die andern ein wenig effeminiert, weicher, nervös, melancholisch, dagegen farbiger, beweglicher. Sehr viel Humor, sehr viel Heiterkeit scheinen sie alle nicht zu haben, und ihr Verhältnis zur Liebe ist mehr psychoanalytisch. Um so stärker das zu Philosophie und Politik.

Wenn sich der Most noch so absurd gebärdet, zum Schlusse wird es doch ein Wein. Die Praxis des Theaters mit all seiner Mannigfaltigkeit wird schon aus der Monotonie einer Generation eine Polyphonie von Persönlichkeiten hämmern.

Es wird jetzt in Berlin ein ebenso gutes Theater gespielt wie je zuvor und wie kaum irgend anderswo. Das wird wohl eine Weile so bleiben. Es schaut nicht danach aus, als ob das schauspielerische Talent, der schauspielerische Nachwuchs aussterben wollte. 210

 


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