Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Das Gesellschaftsstück

Es gibt kein deutsches Gesellschaftsstück und es hat nie eines gegeben.

Man muß nicht von allem haben. Begnügen wir uns mit dem, was wir haben. Wir haben die Klassiker und wir spielen sie so, daß sie an der Unsterblichkeit unserer Zeitungsaktualität partizipieren: ihre eigenen Ewigkeitswerte notieren nämlich zur Zeit unter pari. So gespielt aber leben sie noch, wenn auch nicht so, daß sie sich gegen ihre Modernisierung wehren könnten. Wir hatten das bürgerliche Lustspiel, und es war nicht sehr lustig, dafür um so bürgerlicher. Wir hatten das Offizierslustspiel, Schönthan-Moserschen Angedenkens, und die Leute haben sich damals dafür genau so interessiert, wie sie sich jetzt für Verbrecherstücke interessieren. Und wir haben jetzt die Diebskomödie in allen Formen, mit allen Ernsten und Humoren, mit allen Kostümmöglichkeiten, und sie befriedigt das lebhafte kriminalistische Interesse breitester 123 Gesellschaftskreise. An die Stelle der postulierten Gesellschaft ist das Milieu getreten und unter Milieu versteht man immer das eine Milieu, das sich seit Zille Miljöh schreibt. Begnügen wir uns also mit dem Milieustück! Sudermann hat es entdeckt. Auch er zog aus, Vorderhäuser zu schreiben, aber die mißglückten ihm oder es wurden Hinterhäuser daraus. Es gibt offenbar nur Hinterhäuser.

Wo es keine Gesellschaft gibt, kann es keine Gesellschaftsstücke geben.

In Paris gibt es eine Gesellschaft und gibt es Gesellschaftsstücke. In Wien gab es eine Gesellschaft und sogar eine erste und eine zweite Gesellschaft, und die zweite kopierte die erste und Leute aus der dritten Gesellschaft schrieben für die Leute der zweiten Gesellschaft Stücke aus der ersten Gesellschaft. Immerhin Gesellschaft. Auch in England scheint es so etwas wie eine Gesellschaft zu geben, denn in den englischen Stücken werden die schlechten Manieren ihrer guten Gesellschaft dargestellt und schlechte Manieren sind immer glaubhaft. Nur in Deutschland gibt es keine Gesellschaft, und wenn die Deutschen Gesellschaftsstücke haben wollten, imitierten sie die Franzosen und schrieben deutsche Stücke, die eigentlich französische Stücke waren, mit deutschen Personennamen. Nun gar so französisch waren sie auch nicht, denn vieles läßt sich abgucken, nur eben nicht der Takt, und Takt ist die Stilbedingung des Gesellschaftsstücks. Paul 124 Lindau und Oskar Blumenthal verfaßten eine ganze Reihe solcher Similigesellschaftsstücke mit Spree-Esprit echt à la Sardou, und die Stücke waren genau so schlecht wie die Gesellschaft. Gustav Freytag versuchte ein deutsches Gesellschaftsstück, und es gelang ihm, seines ganz frei von französischer Frivolität zu halten: sein »Graf Waldemar« sprühte eine so ehrbare Langweile, daß die dazugehörige Gesellschaft erfunden sein mußte, so unwahrscheinlich langweilig war sie.

Nämlich: Gesellschaft war ebenso das gerade Gegenteil der Kastengliederung von Anno dazumal, wie sie das Gegenteil des Milieus von heute ist.

Zu glauben, daß ein Preis genügt, um ein Gesellschaftsstück, daß ein Gesellschaftsstück genügt, um eine Gesellschaft hervorzubringen, ist ein naiver Irrtum.

Er wurde widerlegt durch das Resultat des Preisausschreibens: lauter Milieustücke, kein Gesellschaftsstück.

Was ist: Gesellschaft? Ein Querschnitt durch die kulturelle Einheit sozialer Mannigfaltigkeiten. (Milieu ist eine unkulturelle Einheit sozialer Gleichartigkeiten.) Nur so wird Gesellschaft produktiv.

Die kulturelle Einheit der Gesellschaft bestimmt Form und Stil des Gesellschaftsstückes, die Nuance der sozialen und individuellen Mannigfaltigkeit ist seine Inhaltsquelle. Das Wesen der Gesellschaft als die Gemeinsamkeit ihrer Konventionen 125 aufzufassen ist dramatisch nicht fruchtbarer als ihr Wesen in der Abhängigkeit von denselben Kleidermoden zu sehen.

Es hat also der Ruf nach dem Gesellschaftsstück mehr zu bedeuten als das allgemeine Bedürfnis, das kleidsame Apachenkostüm wieder einmal durch die Eleganz der Bügelfalte abgelöst zu sehen.

Es gibt auch ein Milieu der Bügelfalten, während man sich die Gesellschaft gerne anders symbolisiert denken möchte.

Nämlich durch Geist. Wir wollen annehmen, daß es ihn gibt. Aber der Geist des Eigenbrödlers ist nicht dramatisch. Er ist monologisch, nicht dialogisch. Erst im Dialog wird Geist dialektisch, dynamisch, also dramatisch. Die Kunst des Dialogs ist das Fundament und der Formreiz des Gesellschaftsstückes. Und da die Kunst des Gesprächs nur in einer kultivierten Gesellschaft blüht, ist das Gesellschaftsstück nur im Zusammenhange mit einer kultivierten Gesellschaft möglich.

Es ist ein bißchen viel verlangt vom Theater, daß es selbst die Gesellschaftskultur hervorbringe, deren Quintessenz es widerspiegeln soll. Daß es einer Gesellschaft, die es nicht gibt, ihr getreues Abbild auf der Bühne zeige.

Gewiß, ein Komödiant kann einen Pfarrer lehren, aber der Pfarrer ist wenigstens im Entwurf vorhanden.

Jene Einheit von Kultur und Gesellschaft ist nicht 126 nur nicht vorhanden, sondern erfreut sich, bereits in der bloßen Idee, allgemeiner Unpopularität.

Dieses unwahrscheinliche, unwahrscheinlich wagekecke Unternehmen Theater hat auch das versucht, von der Bühne herab eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, so zu tun, als ob. Das was da unten Gesellschaft vorstellen sollte, schien von der Kultur nichts wissen zu wollen, und die Kultur wußte von der Gesellschaft nichts. Der Versuch gelang negativ und der bemühte Geist wurde, als der Prügeljunge aller, daraufhin definitiv in Verruf erklärt.

Der Geist wurde rebellisch und ging in die Opposition. Und seitdem gibt es keine Gesellschaftsstücke mehr, sondern nur noch gesellschaftskritische Stücke.

Aber auch diese kritisieren eine Gesellschaft, die es nicht gibt.

 


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