Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Die Rolle

Die Rolle spielt die Hauptrolle am Theater. Rolle ist das Wort, das man nächst dem Wort Vorschuß am häufigsten zu hören bekommt.

Die Rolle ist das eigentliche Symbol des Theaters. Längst nicht mehr die früher bei den Vorhangmalern so beliebte Maske, die sich als Symbol für das übrige Leben viel besser eignen würde. Im Theater ist sie aus der Mode gekommen, seitdem ein jeder nur noch sich spielen will und kein Mensch mehr Maske zu machen braucht.

Die Rolle ist ein, selten mehrere Blätter beschriebenen Papieres, das man in der Tasche – meistens genügt die Westentasche – zusammengerollt zu tragen pflegt. Daher der Name. Eigentlich sollte sie die Knülle heißen, da man sie viel öfter noch dem Theaterdiener, der sie einem zugebracht, und dem Regisseur, der sie einem zugedacht hat, zusammengeknüllt vor die Füße zu pfeffern pflegt.

Der spärliche Text, mit dem diese Blätter beschrieben sind, ist noch lange nicht alles Rolle. Da 177 gibt es vorher noch links daneben oder drübergeschriebene, rot unterstrichene oder eingeklammerte unverständliche Satzfetzen und Satzenden, die gar nicht dazu gehören. Das sind die sogenannten Stichworte. Die bleiben. Der Rest ist zwar die sogenannte Rolle, ist aber gleichgültig, da ja schließlich doch ein anderer Text gesprochen wird. Meist wird das meiste und in jedem Falle das beste, wenn vom besten überhaupt die Rede sein kann, gestrichen.

Gerade das verwendet der listenreiche Schurke, der Regisseur, als geschickten Köder. »Der Text, der in Ihrer Rolle steht, gilt ja noch nicht. Das wird alles anders. Sie können nach den paar Worten gar nicht beurteilen, was die Regie gerade aus dieser Szene macht. Warten Sie nur ab!«

So lieblich klingt des Voglers Pfeife, bis der Gimpel in dem Netze ist. Immer wieder. Aber dieses Mal das letztemal.

Wegen dieses Fetzens Papier ist man zur Bühne gegangen.

Wenn eine Rolle aber überhaupt nichts ist, ist sie ein »wichtiger Farbfleck«. Was natürlich auch nur der Regisseur zu beurteilen vermag und nie der Schauspieler. Als ob es einen Schauspieler gäbe, der zum Theater gegangen ist, um »wichtige Farbflecken« zu spielen.

Das mindeste, was man von einer Rolle verlangen kann, ist, daß sie »zentral« sei.

178 Es gibt zentrale Rollen, die nicht Titelrollen sind. Es gibt Titelrollen, die nicht zentral sind. Beides ist abzulehnen.

Und auch mit den zentralen, den zentralsten Rollen ist es so eine Sache.

Man kommt den ganzen Abend nicht von der Bühne weg, man hört nicht auf zu reden, man »zerspielt« sich, und dann kommt irgendein anderer, irgendeine Charge, eine Episode, spielt fünf Minuten und »kassiert ein«. Es ist also jede Rolle zuerst daraufhin anzuschauen, wie die andern Rollen im selben Stücke sind.

Wenn zwei Rollen in einem Stücke einander vollkommen gleichwertig sind, ist immer die andere, die, die man nicht spielt, die bessere. Die Rolle, die man spielt, heißt: »Reifenhalter«.

Man ist nur dazu da, dem andern die Stichworte zu bringen, und der andere fängt sie auf als Reifen, mit dem er zum Ergötzen des Publikums jongliert, während man selber, wie der dumme August im Zirkus, unbeachtet danebensteht und müßig zusieht. Zum Schluß springt er durch meinen Reifen, die Leute zerklatschen sich die Hände, und der Kerl zerbricht sich nicht einmal das Genick dabei!

Ich habe das letzte Wort, gewiß. Aber was habe ich davon? Wenn er wenigstens nicht das vorletzte hätte!

Für das mißtrauisch geschulte Auge des zentripetalen Schauspielers ist auch der Faust, die 179 Mittelpunktsfigur der deutschen geistigen Kultur, nicht mehr als ein Reifenhalter.

»Ich bin die ewige Verstellerei, diese ewigen Chargierungen satt. Lassen Sie mich endlich einmal mich selber spielen! Lassen Sie mich den Hamlet oder einen Don Juan oder den Rosmer spielen!«

Wenn einer sich selber spielen will, meint er immer den Hamlet, den Don Juan oder Rosmer, nie den Polonius, den Leporello und den Rektor Kroll. Und doch begegnet man im Leben viel häufiger Poloniussen, Leporellos und Krolls, als dem Hamlet, dem Don Juan und dem Rosmer.

»Diese Rolle können Sie nicht verfehlen. Sie brauchen nur sich selbst zu spielen.« Als ob ich deshalb zur Bühne gegangen bin, um mich selbst zu spielen!

Und tatsächlich ist dieses, sich selbst zu spielen, das schwerste und letzte und erfordert die höchste künstlerische Reife. Weil auch die höchste menschliche Reife. Sich selber spielen, wirkt nur dann künstlerisch, wenn hinter dem Ich ein menschlicher Inhalt steht. Und es ist auch technisch nichts schwerer, als diesen eigenen Inhalt ohne jedes Hilfsmittel der Chargierung auf die verwandte Figur zu übertragen. Die Hände in den Hosentaschen allein machen es noch nicht.

Verwandlung, Verstellung ist nicht bloß ein Teil der schauspielerischen Kunst, sondern ihre stärkste technische Hilfe und Erleichterung. So kommt es, 180 daß Schauspieler die Rollen, die ihnen auf den Leib geschrieben scheinen, oft weniger treffen als die, die sie ihrer Natur durch den Gegensatz abringen müssen. Dieses Ringen, fast ein physisches mit dem eigenen Körper, dieser Zwang zur Verwandlung treibt sie über sich hinaus und steigert sie zu Persönlichkeitswirkungen, die sie im bequemen Gehenlassen in den Geleisen der eigenen Natur nie erreicht hätten.

»Diese Rolle liegt mir gar nicht.« »Um so besser werden Sie sie spielen.« »Der Esel!« sagt der Schauspieler innerlich oder draußen.

Rollen, die auf den Leib geschrieben sind, werden von den Dichtern mit Vorliebe Schauspielerinnen auf den Leib geschrieben. Aber auch diese sind selten zufrieden.

»Diese Rolle ist Ihnen auf den Leib geschrieben.« »Dann hat der Mann, der sie geschrieben hat, offenbar keine Ahnung von meinem Leibe.«

Rollen haben ihre Schicksale. An mancher hängt der unverdiente Ruf der Dankbarkeit: ein jeder Schauspieler reißt sich um sie, und doch ist sie noch keinem gelungen. Andere sind durch jahrhundertalte Tradition als »berühmte Wurzenrollen« berüchtigt, bis der eine kommt, der sie zum ersten Male richtig spielt.

Es gibt für jeden Schauspieler die Rolle, um derentwillen er zum Theater gegangen ist. Man spielt sie entweder zu früh, bevor man ihr 181 gewachsen ist, oder zu spät, wenn man ihr längst entwachsen ist. Mancher kommt überhaupt nie dazu. Und das ist sein Glück; denn wenn er sie spielte, wäre er schlecht; so bleibt ihm wenigstens seine Lebenslüge erhalten. Nicht jeder hat's so gut, daß er sich seinen Lebenswunsch unerfüllt bewahren darf.

Im Grunde sind eigentlich alle Rollen undankbar.

Die ideale Rolle ist noch nicht geschrieben worden. Die müßte eigentlich jeder Schauspieler sich selber schreiben. Auch wieder ein Schauspielerglück, daß er nicht die Zeit dazu hat! Er würde in keiner mit mehr Sicherheit durchfallen.

So lassen sie wenigstens den Hamlet gelten. Das ist die einzige Rolle, an der kein Schauspielerwunsch vorübergeht und die sich alle zutrauen. Da ist keiner zu alt oder jung, zu fett oder zu mager, zu hart oder zu weich, daß ihm der Hamlet nicht auf den Leib geschrieben wäre. Vom schrulligsten Komiker bis zur jüngsten Naiven spielen sie alle wenigstens in Gedanken mit dem Gedanken. Der Hamlet verträgt eben jede Auffassung. Nur schade, daß die Direktoren so verbohrt sind und keiner die Courage hat.

Diese einzigartige Möglichkeit, so allgemeingültig zu wirken, daß jeder sein Subjektivstes hineinzulegen vermag, macht aus dem Hamlet die Rolle der Rollen.

Denn nur Zettel der Weber, nur der Dilettant 182 sagt: »Laßt mich den Löwen auch spielen!« Der Schauspieler wirft dir die Rolle des Löwen vor die Füße: er will nicht bloß brüllen, er will nur mit subjektivstem Text brüllen. Er will sich selbst brüllen.

 


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