Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Der unsichtbare Gegenspieler

Er ist immer da. Er ist an jedem Abend zu spüren. Er ist überall. Er sitzt im Zuschauerraum, mitten unter den Leuten, ein Teil des Publikums, er ist das Publikum selbst, Quelle, Grad und Grenze seines Verständnisses und seiner Verständnislosigkeit, sein Niveau bestimmend, seinen Geschmack bestimmend, ansteckend und angesteckt, 54 Zustimmung und Widerstand sammelnd, vergleichend, prüfend, fast feindselig gegen das, was auf der Bühne geschieht, aggressiv, kritisch. Und er steht auf der Bühne, mitten im Stück, ein Teil des Stückes, eine unsichtbare Stimme des Stückes, ein unhörbarer Chorus, ein unsichtbarer Kommentar. Er ist in allen Winkeln und Schlupflöchern des Theaters zu finden, ein Teil des Theaters, er ist das Theater selbst, die heimliche Seele des Theaters.

Dieser unsichtbare Mitspieler und Gegenspieler des Theaters ist: das Heute.

Das Theater ist lebendige Gegenwart. Es ist das Fleisch und Blut gewordene, das Leben, Gestalt und Stimme gewordene Heute, der Protest des Heute gegen alles Frühere und alles Dermaleinstige, und wenn es die Vergangenheit aus allen Gräbern hervorkratzt, so tut es das nur, um die lebendige Kraft des Heute daran zu erweisen.

Man ahnt es gar nicht, in welchem Grade das Theater dem Heute gehört, dem Heute dient, dem Heute verfallen ist. Es ist sein beredtester Mund und Anwalt. Darum braucht es die Aktualität nicht, weil es selber die Aktualität ist, und der Kampf, den es führt (Theater ist immer ein Kampf), der Kampf einer Aktualität gegen die Geschichte ist.

Wenn es Rokoko spielt oder anhört, ist es nicht, als hörte man immerfort eine Stimme raunen: wir können es uns ja gefallen lassen, wir können sogar unsern Spaß daran haben, eben weil unser 55 Pläsier so ganz anders ist –? Auf der Bühne, aus allen Logen wispert, kichert das Vergnügen darüber, daß unser Vergnügen so ganz anders ist. Immerhin, auch das ist Vergnügen, auch das ist ein Rokoko, das Rokoko der selbstgefälligen Zeitgemäßheit.

Von diesem Stolze auf das Heute, auf seine Verbundenheit mit dem Heute, von diesem Bewußtsein, das Heute am unmittelbarsten und repräsentativsten zu verkörpern, lebt das Theater. Aus ihm zieht es seine unheimlichen Kräfte und unwiderstehlichen Reize. Dieses Gefühl erfüllt es mit einem atemlosen, prickelnden Leben. Sein Leben gehört dem Tage, nein, der Stunde, dem Augenblick. Wenn das Theater eine Weltanschauung hat, ist es die: heute ist heute! was kümmert's mich, was morgen kommt! Von diesem rückhaltlosen Bekenntnis zum Heute aus nimmt es Stellung zu allem in der Welt. Sogar zur Gegenwart selbst.

Es ist seltsam, welche Rolle die Begriffe: modern und Gegenwart im Theater spielen. Durch die Darstellung jeder Anekdote scheint ein unterirdischer Strom zu fließen: ja, aber von heute aus gesehen; mit den Mitteln der modernen Psychologie; und im Stile der Gegenwart dargestellt. Ein ungeheures, unsichtbares Netz von Postulaten der modernen Mentalität scheint gespannt, an denen die Lebendigkeitswerte eines Kunstwerkes wie Grade von einem Thermometer abgelesen werden. Jedes moderne Stück, das heute gespielt wird, erzählt nicht 56 bloß einen Hergang; ein Schicksal; von bestimmten Anschauungen; von bestimmten Menschen; und von der Persönlichkeit eines bestimmten Dichters: sondern vor allem und als Hauptinhalt ein Schicksal von heute, von nebenan, mit Anschauungen von heute, an Menschen von heute, von einem Dichter von heute, und daß es heute und heutig gespielt wird. Hinter jedem Satze, hinter jeder Geste ist dieses: von heute zu spüren, das ostentativ, aggressiv wie ein Lebendiges in Schicksal und Stück eingreift. In gewissen Lustspielen der älteren Literatur gibt es die Rolle des Räsoneurs, eines überlegenen und welterfahrenen, nicht mehr ganz jungen Herrn, der den gesunden Menschenverstand vertritt, meist ein wenig abseits der Handlung steht und diese mit klugen und manchmal ironisierenden Bemerkungen begleitet, glossiert, beleuchtet und erklärt. Seitdem der Esprit aus der Mode gekommen ist, verschwand die Figur des liebenswürdigen Räsoneurs, aber auch durch die neueren Stücke geht, als stummer Räsoneur gewissermaßen, das Heute, der nüchtern kritische Geist der Zeit, und glossiert, erklärt, analysiert und ironisiert, im Namen des gesunden Menschenverstandes, mit dem es sich identifiziert.

Und vom Heute aus nimmt das Theater auch seine Stellung zur Geschichte. Vor allem zur Geschichte. Es hat sie immer und zu allen Zeiten von einem Heute aus genommen. Das gehört zum Wesen 57 des historischen Dramas. Dieser unsichtbare Gegenspieler war immer da.

Warum dichten die Dramatiker historische Tragödien? Worauf beruht der ungeklärte, nie aufhörende Reiz der historischen Persönlichkeit und der historischen Schicksale?

Es hieße das Wesen des Dichters jämmerlich verkennen, wollte man es lediglich mit dem Mangel an stofflicher Phantasie, an anekdotischer Erfindung erklären. Oder gar als billige Spekulation auf den Kredit der abgestempelten historischen Größe. Stecken in jedem Einzelnen nicht dieselben, nicht ebenso viele tragische Elemente wie in den großen Namen der Geschichte? Erschließt sich dem Auge des geborenen Tragikers nicht Tragik-Trächtiges in jeder Tragödie des täglichen Lebens? Das Leben erfindet für ihn, wie die Geschichte für ihn erfunden hat, und Dichten heißt nicht erfinden, sondern das längst Erfundene, längst nicht mehr zu Erfindende verdichten.

Nur den Epigonen reizt die Entdeckung eines dramatischen Kerns in einer historischen Anekdote. Als ob, für den wirklichen, den geborenen Dramatiker, nicht in jeder Anekdote ein dramatischer Kern stäke! Weil der dramatische Kern nicht in der Anekdote steckt, sondern in seinen Augen und in seinem Blute.

Der Dramatiker dichtet eine historische Tragödie:

58 Weil er eine hundertmal geschaute historische Persönlichkeit, ein hundertmal geschildertes historisches Schicksal neu und als erster mit den Augen seiner Zeit sieht;

weil er zum Geist der Geschichte und zum Begriffe der geschichtlichen Notwendigkeit ein neues, das Verhältnis seiner Zeit hat;

weil es ihn reizt, das Bild einer Vergangenheit als Vergangenheit und im Gegensatz zu seiner eigenen Zeit, aber mit den frischen Augen seiner Zeit zu sehen und mit den Mitteln seiner Zeit darzustellen;

weil es ihn reizt, durch die Vergangenheit durch und in ihrem Spiegel das Bild und Schicksal der eigenen Zeit, ihr Gesetz und ihre Notwendigkeit erkennen zu lassen.

So steht mit allen ihren Kräften, Trieben, Wünschen, Bedürfnissen, mit ihren Ergebnissen und Errungenschaften seine Zeit neben ihm, hinter ihm, guckt ihm über die Schulter, deutet und treibt, dichtet mit ihm und für ihn und steckt zugleich in seinem Werk, als Gegensatz und als Gegenstand, als Ursache und als Wirkung, als Stimme und als Echo.

Wenn wir heute Schillers »Jungfrau von Orleans« spielen, so spielen wir sie: weil wir uns mit Schiller aus seiner ihm nüchtern grauen und rationalistischen Gegenwart des achtzehnten Jahrhunderts in farbigere, edlere, ritterlichere, gläubigere, wunderreichere Zeit retten wollen;

weil wir uns über Schiller weg aus unserer 59 eigenen noch graueren, noch rationalistischeren und darum dem Rationalismus schon wieder feindlichen Gegenwart in eine Ferne retten wollen, die uns fast näher noch steht, als sie ihm stand, auf uns noch farbiger, mittelalterlicher und inbrünstiger wirkt als auf ihn, da wir inzwischen einen ganz andern Begriff der Gotik kennengelernt haben, als er ihn haben konnte;

weil wir uns aus unserer Gegenwart weg und nach dem überstandenen Naturalismus nach den großen Stoffen und der größeren Linie des achtzehnten Jahrhunderts und nach dem edlen Schwung und dem feurigen Pathos der Schillerschen Diktion sehnen;

weil es uns aber zugleich lockt, das allzu edle Schillersche Pathos, dem wir ein wenig mißtrauen, in der realeren Substanz eines neuen Pathos, das wir erstreben, und die etwas vage, etwas allzu stilisierte Schillersche Wundergläubigkeit, die vom Rationalismus seiner Zeit nicht ganz unberührt geblieben ist, in der vertiefteren Inbrunst unserer glaubenssüchtigen Gegenwart auszudrücken;

und weil wir das fünfzehnte Jahrhundert in der Auffassung des achtzehnten Jahrhunderts mit den Mitteln des zwanzigsten Jahrhunderts darstellen wollen.

Und wenn wir Shaws »Heilige Johanna« spielen, so tun wir das:

weil sie nicht von Schiller und nicht von Voltaire 60 ist, sondern von heute; so von heute, wie wir selbst von heute sind; weil sie zwischen Schillers Idealisierung und Voltaires Spott, zwischen Schillers Ja und Voltaires Nein den famosen synthetischen Mittelweg geht, den menschlichen und gerechten Weg des Verstehens ohne rationalistisches Aufklären, des Liebens ohne Glorifizieren, des Lächelns ohne Lachen;

weil wir so vollgesogen sind mit Irrationalismus, Ekstase und Gotik, daß wir erleichtert und beglückt aufatmen, wieder einmal die Stimme des gesunden Menschenverstandes zu hören, noch dazu eine so scharmante, helle und witzige Stimme;

weil wir im Grunde verdammt respektlos und aggressiv sind und einen diebischen Spaß daran haben, in den Engländern und Franzosen, den Katholiken und Protestanten von damals unsere lieben Zeitgenossen von heute unverändert wiederzufinden, und wenn Geschichte als Politik (Interessenpolitik!), Religion als Deckmantel für Kirche (Machtpolitik!) und Obskurantismus (Kulturpolitik!), Justiz als Komödie und die heroische Geste als Bluff und Reklame entlarvt wird und sich schließlich die ganze Historie als die Wiederkehr des ewig Gleichen, des ewig gleichen Kampfes der viel zu vielen Dummen gegen den immer einsamen Einzelnen, den ebenso einfach zu verstehenden, wie nie verstandenen wirklichen Menschen unsterblich blamiert; 61

weil wir dieselbe Wut auf unsere eigene Zeit haben, die das Heilige kanonisiert, wenn es Vergangenheit geworden ist, und kreuzigt, solange es Gegenwart ist; und weil dieses Mädchen als simpler Mensch so wunderbar ist, daß wir alle ihre andern Wunder ihr verzeihen und sie sogar in den Kauf nehmen.

»Ein edler Sinn liebt edlere Gestalten.« Aber dem unsichtbaren Gegenspieler von heute ist dieser Schuß Gretchen, den Shaws Johanna, unsere Johanna im Blute hat, offenbar lieber als die Jungfrau in den Wolken (um nicht zu sagen: auf dem Kathedralendache).

 


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