Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Das Menschliche auf der Bühne

Das Menschliche: nicht im Sinne einer humanistischen Weltanschauung; nicht als Tendenz einer postulierten Humanität; nicht als Menschliches-Allzumenschliches; und nicht als Mittel eines rührenden Appells an die Sentimentalität. Sondern als eines der Wesenselemente des Dramas, als das stärkste Element der dramatischen Wirkung.

Das Drama setzt sich aus bestimmten, konstitutiven, immer wiederkehrenden Elementen zusammen, die ebenso aus seiner spezifischen Natur unter den Kunstformen stammen, wie sie seine spezifischen Wirkungen bestimmen. Es hat seine bestimmte, eingeborene Weltanschauung: die heroisch-tragische; es hat seine bestimmte rhythmische Struktur: die dynamisch-dramatische; es hat sein bestimmtes Verhältnis zu Zeit und Geschichte, und zwar ein durch den Geist der Gegenwart bestimmtes; und es hat ein bestimmtes, ästhetisch-formales Verhältnis zum Wort, das im Drama die Rolle des Materials spielt, zum Wort als Sprachrohr des Dichters, als Mittel des Ausdrucks und der Charakteristik, als Instrument und Träger der 35 Handlung. Aber neben Weltanschauung, Rhythmus, Zeit und Wort ist ein anderes, ebenbürtiges da, als Stoff, als Mittelpunkt, als treibender Motor, als kreisendes Blut, als Seele des Ganzen und als ein letzter, heimlicher Zielpunkt: das Menschliche. Das starke, säftedurchblutete Erdreich der Dichtung, die Stelle, in der am meisten vom Dichter sitzt, die entscheidendste für den Wert, die entscheidendste für die Wirkung.

Das Menschliche als dramatischer Faktor und Motor – worin besteht es?

Die Bedeutung des Menschlichen greift tief und von allen Seiten ein in den großen Komplex des Tragischen.

Die Tragik des Dramas entwickelt sich aus dem Kampfe zwischen Ich und Welt. Zwei ungeheure Energien stehen einander schroff gegenüber, der Wille des heroischen Einzel-Ichs und die Welt, als Gesetz, als starre Idee des Ganzen, als starre Mauer der gegebenen ewigen Notwendigkeiten, an der die prätendierte Freiheit des Einzelnen, erst im Untergange völlig frei geworden, zerbricht. Zwischen den beiden Welten wäre ein unüberbrückbares Vakuum, wenn es nicht ein vermittelndes Element gäbe, in dem beide einander begegnen: das Menschliche, Private. Es wäre ein Kampf zwischen Begriffen, zwischen Schemen: das Menschlich-Private ist es, in dem Ideen Wirklichkeiten werden, Energien Menschen. Erst durch 36 ihren Gegensatz zum Menschlichen wird aus dem Begriffe Welt eine Wirklichkeit Welt, erst aus dem Gegensatz zu seinem Privaten entwickelt sich im Helden das Heroische und in seinem Privaten trifft ihn der Stoß der feindlichen Welt am tiefsten. Was den tragischen Untergang des Helden zu einem harmonisch versöhnenden macht, ist das Menschliche, das letzte Zurückfinden in die große Gemeinschaft und Gemeinsamkeit der Gattung: denn das allen Menschen geheimnisvoll Gemeinsame ist zugleich das Tiefste am Menschen, und erst wenn der Held ganz menschlich geworden ist, wird er tief, wird er er selber, wird er frei. So bedeutet letzten Endes das Drama eine Überwindung der Welt durch das Private und die Überwindung des Heroischen durch das Menschliche.

Als letzter Sieger, als Sieger über alles sitzt im Herzen jedes Dramas das Menschliche.

Was ist das Menschliche?

»Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nie erjagen.« Aber das ist es, was die Dichter macht: daß sie's fühlen. Das Menschliche ist das Einfachste. Wo die sieben Schalen, eine nach der andern, vom Menschen abfallen, beginnt das Menschliche: wo die Schallmasken der großen Ideologien, der Staatsbürger, der Parteimensch, das Streben nach Macht und Prestige, die gesellschaftliche Lüge, die Jagd nach Geld und hinter Zwecken, nach Namen und Befriedigung persönlicher Eitelkeiten von ihm 37 abfallen, beginnt das Menschliche. Wo das Ich zum Du spricht, Haß und Liebe, in Freud oder Leid; wo der Mensch als Vater, Mutter, Kind oder aus Einsamkeit empfindet; wo Enttäuschung, gekränkte Scham, erlittenes Unrecht aufschreit: da spricht Menschliches. Man merkt es, wenn das Menschenherz ganz still wird oder ganz laut zu schlagen beginnt; und seltsamerweise wird es auch auf der Bühne nur dann ganz still oder ganz stark, wenn das Menschliche zu sprechen anfängt. Die einfachsten Dinge sitzen am tiefsten, und aus den einfachsten Dingen sprechen die tiefsten, wenn auch am einfachsten. In der großen Geste läßt sich lügen, in der Sprache der einfachen Menschlichkeiten nicht. Das Stillewerden, der Aufschrei lügt nicht. Und wenn sie lügen, merkt der Einfachste die Lüge.

Darum ist auch das Menschliche für das unheroischste Publikum der einzige Weg zum Heroischen. Hier beginnt sein Ta-twam-asi. Nur wenn es im Helden das mit ihm Gemeinsame gefühlt hat, wird es ihm das Anderssein glauben; nur wenn es seine menschliche Tragik gefühlt hat, kann es seine heroische begreifen. Und es hat recht: ein Heroismus ohne Menschlichkeit ist gleichgültig; ein Heroismus, der sich nicht einer Menschlichkeit entringt, abringt, ist unheroisch: heroischer als der Kampf mit einer Außenwelt ist der Kampf mit sich selbst.

38 Was wird aus Helden, wenn man das Private subtrahiert? Wesen ohne Fleisch und Blut, leere Abstraktionen, Automaten einer Zielsetzung, monomane Fanatiker einer Idee, langweilig und gleichgültig wie alles Monomane und jeder Fanatismus, selbst wenn ihre Idee Menschlichkeit sein sollte; die Pedanten des Heroismus. Was ist Fanatismus denn anderes als Pedanterie, auf eine dominierende Idee übertragen? Nur Oberlehrer und Philister glauben an den Helden, der in jeder Sekunde seines Lebens den Helden mimt. Held sein heißt nicht: in jeder Sekunde seines Lebens mit dem Schwerte beziehungsweise mit der Idee rasseln, sondern in jeder Sekunde ein ganzer Mensch und sich selber treu sein: diesem wahren Heldentum verzeiht man auch den einen, den menschlichen Moment der Untreue, der dazugehört. Der so wunderbar private Götz ist ein wahrer Held. Der menschlichste Held, Egmont, ist der heroischste. Der geistigste Held, Faust, wird, verwandelt sich, gestaltet sich am privaten Erlebnis und wird erlöst durch das ewige Weibliche, das auch das ewige Menschliche ist. Iphigenie bedeutet den Sieg der Menschlichkeit über das Dämonische. Der stolzeste Römer, Coriolan, erreicht seine stolzeste Höhe im Augenblick seiner privaten Schwäche. Hamlets geistiger Heroismus ist das Problem seiner Menschlichkeit. Othellos Stärke und Schwäche wurzeln in seiner vertrauenden Menschlichkeit, König Lears Tragik 39 ist eine private und Macbeths Schicksal entringt sich privaten Quellen seines Wesens und läßt ihn in einer privat empfundenen Einsamkeit enden, als Sühne für unmenschliche Verschuldung am privaten Leben. Und selbst die unmögliche Thekla wird einen Moment lang ganz groß und ganz heroisch, also ganz menschlich, wenn sie in einer Anwandlung mädchenhafter Scham dem schwedischen Hauptmann sagt: »Sie haben mich in meinem Schmerz gesehn.« Schiller ist in keinem Augenblick seines Lebens der heroischen Größe und dem Weltgeist näher gestanden als hier.

Erst durch den Beisatz von Menschlichem wird eine Idee Schicksal und Erlebnis. Also bühnenreif, reif, Besitz der Bühne zu werden. Die Idee an sich bedeutet für die Bühne nichts: sie muß sich erst am Menschlichen, positiv oder negativ, erproben, durch die Feuerprobe des Menschlichen durchgegangen sein. Von allen seinen andern Funktionen im Drama abgesehen, führt das Menschliche gewissermaßen den Gegenstoß, die Gegenhandlung und setzt in dieser Funktion (spätestens) dort ein, wo die dramatische Rhythmik des Geschehens die Peripetie, den Umschwung vorsieht. Wo die heroischen Kräfte und Entladungen erschöpft zu sein scheinen, tritt als eine neue, höhere (oder vielleicht auch tiefere) Weltmacht das Menschliche ein. Mit jenem Atemholen des Stillewerdens, das einem letzten Sturm vorangeht. Dem durch das sanfte Walten einer 40 höheren, reineren, einer menschlicheren Milde die Unerbittlichkeit seiner vernichtenden Schärfe genommen wird. Das Menschliche verbürgt den harmonischen Ausklang in ein Jenseits des Dramas. Es spielt gewissermaßen dieselbe Rolle wie der deus ex machina in der Antike. Denn das Menschliche ist das eigentlich Göttliche.

Das Menschliche im Drama ist nicht das Übermenschliche. Es ist nicht das Ethische. Es begreift den Menschen in seiner hautnächsten Wirklichkeit, in seiner ganzen Menschlichkeit, in der Stärke und Schwäche seiner Gefühle, in seiner Passion, ob sie Güte oder Sünde heißt. In der Sphäre des Menschlichen ist der sündhafte Mensch nicht der schlechtere, wohl aber oft der dramatischere. Und der schwache nicht der dramatisch schwächere, sondern der problematischere. Der wirklich Große verträgt es, im Augenblick seiner Schwäche gesehen zu werden, verträgt es nicht bloß, sondern braucht es, um wirklich zu werden. Der Held wird erst Heros, wenn er problematisch wird. Große Menschen in ihrer Schwäche zu sehen, macht sie nicht kleiner, sondern größer. Und nach einem Abend der heroischen Aktion, in der eisigen Luft der einsamen Größe, entbindet das Menschliche, selbst im Kleide der Sünde, die weicheren Gefühle, ohne die kein Gebilde der Kunst leben kann.

Das im Drama so wichtige Zeitproblem, das Hineinfließen eines unsichtbaren Heute in Auffassung 41 und Auslegung, als vorbildliche Analogie oder als Anschauungswandel, als Entwicklungsziel oder als Gegensatz, wirkt sich nirgends so stark aus wie im Bereich des Menschlichen. In beiden Richtungen: das allgemein Menschliche wirkt gleichzeitig als Repräsentant des ewig Zeitlosen und gleichzeitig als Sprachrohr des Gegenwärtigen, denn Gegenwart, als ein Lebendiges, rückt dem Menschlichen, als einem Wirklichen, immer näher als der abstrakten und fernen Größe einer Idee. Darum wird im Menschlichen immer die Stelle zu suchen sein, wo das Eigentliche des Dichters sitzt, der alle Zeit und Geschichte von seinem Heute aus mißt und messen muß. Und wie immer er zum Heroismus stehe: es ist der heimliche Wunsch jedes Dichters, im Heroismus eine neue Menschlichkeit zu entdecken, und sein größter Stolz, der Bringer und Träger einer neuen Menschlichkeit zu sein.

So entwickelt sich in jedem Drama hinter dem Kampfe: Ich und die Welt eine zweite Gegensatzreihe: Heroismus und Menschlichkeit. Aber es gibt auch eine andere Dramenart, Dramen, die unheroisch sein wollen oder vielmehr, deren Heroismus die Menschlichkeit ist. Die Menschlichkeit im Kampfe gegen die Welt, die Menschlichkeit duldend oder anklägerisch, der Mensch aufschreiend gegen Unrecht, zerrissen von Mitgefühl, aufstöhnend in seiner Einsamkeit, in seinem Anderssein, in seinem Nichtverstandenwerden; Güte, die sich 42 zur Ohnmacht verurteilt erkennt, Liebe in einer Welt des Hasses und alle Tragik der ringenden Erkenntnis, von einer verständnislosen Umwelt verkannt, verhöhnt, verraten; der Mensch im Kampfe für seine Familie, der Mensch im Kampfe gegen seine Familie, der Mensch im Kampfe nicht um den Begriff seiner Freiheit, sondern um das letzte bißchen lebensnotwendiger Menschenfreiheit und Menschenwürde und der Mensch im Kampfe mit sich selbst, in seiner letzten nackten Einfachheit. In diesen Dramen eines stillen Heroismus von heute ist die Menschlichkeit nicht mehr Episode und nicht mehr Atmosphäre und nicht mehr begleitender Unterton oder versöhnender Ausklang, sie ist nicht mehr in die Peripetie und die Gegenhandlung gerückt, als Kontrast und Gegensatz zum Heroismus des Helden, sondern sie erfüllt das ganze Stück bis in seine verstecktesten Winkel mit der Tragik des Menschlichen, des Nichtsalsmenschlichen. Ist es Sentimentalität, wenn uns die Tragik des Untragischen am tiefsten erschüttert? Wenn wir im privaten Einzelfall das, was uns alle angeht, am stärksten spüren? Wichtiger als alle Großtaten der Geschichte und ihre zeitpolitische Ausdeutung ist das, was zwischen den Menschen ist. Wichtiger und ewiger und größer. Die menschliche Komödie ist das einzige Gleichnis der göttlichen. Und über allem dämonischen Zauber steht der dämonischste: die Liebe.

43 Die große heroische Tragik wechselt von Periode zu Periode, von Nation zu Nation, und was die eine Zeit, die eine Nation auf das tiefste ergriffen hat, wird von einer andern Zeit, einer andern Nation als kaum mehr erträgliches Pathos empfunden. Aber wie die menschliche Saite erklingt, wechselt die Wirkung und was zu den Menschen einer Zeit und einer Nation sprach, wird zu allen Zeiten und überall verstanden. Für die Pantomime der Menschlichkeit hören Länder-, Rassen- und Sprachgrenzen auf. Selbst wo die Menschen in ihren Menschlichkeiten verschieden sind, wo menschlicher Brauch, menschliche Sitte und Sittlichkeit anders gelten, andern Formen und andern Gesetzen folgen, findet das Menschliche in der künstlerischen Prägung des Einfachsten ein Volapük, das überall verstanden wird. Es ist freilich nur ganz großen Dichtern und ganz großen Herzen gegeben, diese allgemeinverständliche Sprache des Einfachsten anzuschlagen. Wenn ein Stück wie Tolstois »lebender Leichnam« auf fast jedes Publikum dieselbe einzigartig erschütternde Wirkung ausgeübt hat, so lag das nur an der einzigartig reinen und schlichten Menschlichkeit des Dichters, die aus jedem Worte des Werkes durchbricht.

Es gibt viele große Schauspieler. Den allgemeinen Erfolg werden nur immer die haben, die zugleich die menschlichsten sind. 44

 


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