Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Vom Lustspiel

Vom deutschen Lustspiel

Wer jemals, verschuldet oder unverschuldet, in die traurige Lage gerät, sich ein deutsches Lustspiel, Marke Gesellschaftsstück, ansehen zu müssen, dem wird das wesenloseste und irrealste Gebilde begegnet sein, das je, zwischen Sein und Nichtsein, im Nichts hing. Ein Ding, zeitlos und raumlos, dem nichts Lebendiges und keine Wirklichkeit entspricht, das nie gelebt hat, auch in keiner Phantasie je, gleich weit weg von Natur wie von Stil, von Zufall und Willkür auf der Jagd nach stumpfen Pointen und längst vertrauten Situationen gebildet, eine Wiederkehr des ewig Gleichen, statt der Menschen schwatzende Mumien, die schon tot waren, als sie noch lebten, stets die gleichen stehenden, wenn auch nicht sehr aufrecht stehenden Figuren in unmöglichen Kombinationen, meist aus einer Aristokratie, die es nie gab, mit wunderlichen Manieren, Redensarten, die nie 98 gesprochen wurden, Tendenzen, die nichts treffen, Witzen, die nichts verspotten. Mit Witzen, aber ohne Witz. Wer je, sage ich, mit Friedhofsgefühlen dieser stillen Feierlichkeit, die sich mit feiner, leider ihrer einzigen Ironie deutsches Lustspiel nennt, beigewohnt hat, wird sich mit Erstaunen fragen, auf welche Gründe diese Trostlosigkeit ohnegleichen zurückzuführen ist. Sie ist in diesem Genre zu allgemein und zu ausnahmslos, als daß die persönliche Unzulänglichkeit der Verfasser als einziges Motiv ausreichte, wenn es auch nicht zu leugnen ist, daß sich hier die Witzlosesten der Deutschen zu gemeinsamem Beruf und gefährlicher Organisation (leider mit Verzicht auf das Streikrecht) zusammengefunden haben. Talentlosigkeit allein ist nicht imstande, Generationen hindurch mit solcher Konsequenz ein geistiges Niveau zu halten, wie es sonst nur in einem Operettenlibretto oder in einer Reichstagssitzung erreicht wird. Die Gründe der Dummheit des deutschen Lustspiels müssen, wie bei deutschen Angelegenheiten immer, tiefer liegen.

Natürlich sind sie – wir geben's heute nicht billiger – sozial. Es gibt keine deutsche Gesellschaftskomödie, weil es keine deutsche Gesellschaft gibt. Deutsche Gesellschaft nicht im Sinne von deutschen Jours und deutschen Five o'clocks. Die gibt's. Aber im Sinne von gesellschaftlicher Tradition, von festen Formen des Zusammenlebens, von organisch und langsam gewordenen Gewohnheiten der 99 Lebensführung, von Sitten. Es gibt – weiß Gott – eine deutsche Sittlichkeit, und wir haben alle schwer an ihr zu tragen: aber es gibt keine deutschen Sitten. Und darum auch keine witzigen Köpfe, sich über sie lustig zu machen. Wo Mauern und Schranken fehlen, fehlt auch der Mann, der darüber hinwegsetzt; wo nichts zu sprengen ist, gibt's keine Sprengmittel. Gesellschaftliche Kultur gedeiht nicht in Winkeln: sie braucht einen Mittelpunkt, ein gesetzgebendes, maßgebendes Zentrum, das entscheidet. Hier ist das Zentrum noch zu jung, zu ungelenk. Noch fehlt ihm jede Verfeinerung, Differenzierung und Abschattierung, das Talent zur Nuance. Noch fehlen ihm Takt und Geschmack. Und das Recht, Geschmack für überflüssig zu halten, hat nur, wer selbst Geschmack hat. Noch fehlt hier das angeborene, ererbte, sichere Gefühl von dem, was erlaubt und nicht erlaubt ist, von dem, was möglich und nicht möglich ist. Dort aber, wo alles möglich ist, ist nichts wirklich. Und darum kämpft das bisherige deutsche Lustspiel mit Windmühlen: und ist auch danach. Sollte es einmal wirklich eine deutsche Gesellschaft geben mit den zu ihr passenden deutschen Gesellschaftsformen, dann wird – da kann man unbesorgt sein – auch der Anlaß nicht fehlen, daß die witzigen Köpfe über sie lachen. Und dann werden wir ein deutsches Lustspiel haben. 100

 


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