Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Liebe am Theater

Es wird viel geliebt am Theater.

»Warum glauben Sie das?« heißt es in einem alten, aber ungarischen Witz, und die hübsche Antwort lautet: »Weil überhaupt viel geliebt wird in der Welt.«

In dieser Hinsicht ist also das Theater vorbildlich. Es wird sehr viel geliebt am Theater. Es wird sehr viel geheiratet am Theater. Es wird noch mehr geschieden am Theater.

Ich weiß nicht, ob die Anzahl der Ehen und der Scheidungen ein Gradmesser für die Sittlichkeit ist. Von der Liebe glaube ich es bestimmt.

Ich glaube an die erzieherische Kraft der Liebe. 227 (An keine andere.) Liebe macht frei, macht reif, macht reich und gut. Sie macht geschickt und gescheit, wenigstens die Gescheiten. Sie öffnet die Augen für das Leben und die Menschen. Sie löst den Geist, den Körper und die Seele.

Sie steigert auch das Talent. (Was am Theater nicht ganz unwesentlich ist.) Liebe ohne Talent macht's freilich nicht, obwohl der Versuch immer wieder gewagt wird; doch schließlich kommt's raus. Talent ohne Liebe aber auch nicht. Zum Glück gibt es kein Talent ohne Liebe.

Liebe ist die Atmosphäre des Hauses. Wie sollte es anders sein? Sie ist der in mystisches Dunkel gehüllte Ursprung dieser Kunst und ist ihr Schutzgeist, ihre Seele, ihr Motor, ihr Geheimnis und ihre geheimnisvolle Kraft und Anziehung geblieben. Sie ist ihr wesentlicher Inhalt. Liebe in allen Arten und Abarten, auf allen Wegen und Umwegen, als Schicksal und als Spiel, als Glück und als Gefahr, mit ihren Freuden und Schmerzen, mit ihren Überraschungen und Künsten, mit ihren Geheimnissen und Komplikationen ist darzustellen: wie soll einer darstellen, was er nicht kennt? Wie soll einer Verführung oder Koketterie darstellen, wenn er es nie geübt, Leidenschaft oder Blamage, wenn er es nie erlebt hat?

In allem andern hilft die Phantasie nach. Gewiß, man hat noch nie als Sieger eine Schlacht gewonnen, als Besiegter eine verloren: aber man ist 228 doch in Premieren draußengestanden. Man muß nicht selber König gewesen sein, um sich in einen hineindenken zu können. Nichts leichter als das. Und man braucht nicht einmal selbst einen König ermordet zu haben, um sich vorstellen zu können, wie einem dabei zumute ist. In der Liebe ist es mit der Phantasie nicht getan: ihre Wirklichkeit ist eben viel schöner und hat Überraschungen, auf die keine Phantasie gefaßt ist. Und außerdem: wenn die Phantasie einmal angefangen hat, sich mit der Liebe zu beschäftigen, bleibt es nicht bei der Phantasie.

Meistens ist das Zumtheatergehen darauf zurückzuführen, daß die Phantasie angefangen hat, sich mit der Liebe zu beschäftigen.

Wie schnell wird aus der Liebe zum Theater die Liebe am Theater!

Es wird der Tugend nicht leicht, der Verführung der Atmosphäre zu widerstehen. Trotzdem kann nicht bestritten werden, daß die siegreiche Tugend auch am Theater in natura vorkommt; vielleicht öfter, als man gemeinhin annimmt oder wünschen möchte. Nur erfreut sie sich nicht einer besonderen Wertschätzung. Auch nicht etwa des Gegenteils. Sie wird als Privatschrulle hingenommen.

Es kann nicht gut bestritten werden, daß jedes hübsche Mädchen, das am Theater auftaucht, nicht lange zu warten braucht, bis sich ihm fromme 229 Wünsche nähern. Und ebenso muß man der Wahrheit die Ehre geben, daß sich diese Wünsche fast regelmäßig zurückziehen, wenn sie einmal auf einen wirklich ernsten Willen der Unschuld stoßen, sich zu behaupten. Vielleicht nirgends so wie beim Theater.

Rein sachlich allerdings besteht das allgemeine Vorurteil gegen die Unberührtheit, daß sie von einer gewissen Unerwecktheit des Talents nicht zu trennen ist. Merkwürdigerweise zeigt es sich am deutlichsten, wenn es sich darum handelt, Unberührtheit darzustellen. Das scheint ohne die entgegengesetzten Erfahrungen am schwersten zu sein.

Ihr Manko bleibt der Novize übrigens nicht verschwiegen. Sie wird von allen Seiten schonend und mitleidsvoll darauf vorbereitet, daß ihr noch »der Knopf aufgehen müsse«. Was natürlich rein fachlich gemeint ist. Es gibt ja unter den Schauspielern auch junge Männer, denen der Knopf noch nicht aufgegangen ist.

Man ist beim Theater sehr aufrichtig in diesen Dingen. Es wird viel geliebt beim Theater. Es wird mindestens ebensoviel von der Liebe gesprochen. Nicht ganz so unanständig wie im übrigen Leben draußen, aber mit mehr Freiheit und Offenheit. Und auch mit mehr Grazie und Talent.

Übrigens gibt es Unterschiede. Ich habe mir erzählen lassen, daß an den Operettentheatern der österreichischen Provinz zum Beispiel eine große 230 Aufrichtigkeit in diesen Dingen herrscht. Hier dürfte die Pädagogik manchmal über das Ziel und die Grazie hinausschießen.

Anderswo hält sich die Tonart mehr an die höhere Psychologie. Aber gewispert und getuschelt wird überall, in allen Winkeln und in allen Ecken. Und nicht bloß in den Winkeln und Ecken, und nicht bloß leise und heimlich. Was? Von der Liebe. Es wird geklatscht. Beim Theater bekommt alles gleich die volle Scheinwerferbeleuchtung der Öffentlichkeit. Was auf der Bühne geschieht, reflektiert in allen Teilen des Hauses. Ist es ein Wunder, wenn in dieser Atmosphäre junge Herzen und Sinne heiß werden? Sich die Köpfe verwirren, die Anschauungen verschieben, die Widerstände dezimieren? Wo alles liebt, kann man nicht allein unbeschäftigt daneben stehen und zugucken. Man müßte sich schämen und würde sich langweilen. Da wird dann eben jung geliebt und jung geheiratet. Nicht immer geheiratet. Aber doch überraschend oft und überraschend jung.

Schauspielerehen. Das ehrwürdige Amt des Dramaturgen, das so viel Ähnlichkeit mit dem verwandten des Beichtvaters hat, bringt es mit sich, daß man unerwartete Einblicke in dieses seltsame soziale Gebilde der Paarung gewinnt. Es ist nicht zu sagen, was einem Dramaturgen alles anvertraut wird. Leider verschließt das berufliche Amtsgeheimnis den sonst so beredten Mund.

231 Ich glaube, daß wenige Menschen so viel Gelegenheit haben, in menschliche Angelegenheiten hineinzuschauen. Unter Lachen und Weinen öffnen sich vor ihm die naiven und im Grunde doch meist gutmütigen Herzen von Menschenkindern, die, leichter bewegt als die andern, vor ihnen nur das Schicksal voraus haben, die Kerbe jedes Eindruckes deutlicher zeigen zu müssen. Und den kategorischen Imperativ, noch in der Verzerrung Leichtigkeit und Anmut zu bewahren.

Zwei junge Menschen finden einander. Alles: Situation, Interessen, Ideale, Wünsche, Arbeit, Erfahrungs- und Erlebnissphäre sind gemeinsam. Die langen Proben sind der »gran Galeotto«, der große Kuppler, der sie einander in die Arme treibt. Die Klatschsucht der Kollegen, die es lange, bevor es wahr wurde, bereits bemunkelt hat, der andere. Was Shakespeare entzündet hat, schürt der gemeinsame Haß gegen die Direktion zur Flamme. Man lehnt sich aneinander, arbeitet gemeinsam, schimpft gemeinsam über die Direktion, wehrt sich gemeinsam gegen die Kollegen, ißt zusammen, hungert zusammen, hilft einander, pumpt einander. Um sich und den andern den furchtbaren Ernst seiner Absichten zu beweisen, schreckt man vor keiner Übertreibung zurück. Die ärgste Übertreibung ist die Heirat. Man weist den freundschaftlich warnenden Einspruch, daß es »auch so ginge«, als lasterhafte Einflüsterung zurück und 232 heiratet entrüstet. Die Premiere, die dem einen den größeren Erfolg bringt als dem andern, bedeutet die erste Enttäuschung des andern, der den kleineren Erfolg hatte, über den einen. Viele andere Enttäuschungen folgen. Nichts dekuvriert jeden Charakter so sehr, wie der Erfolg, es sei denn der Mißerfolg. So lernt man einander gründlich kennen und hat sich das anders vorgestellt. In der nächsten Premiere wechselt man – o Tücke der Direktion! – die Partner. Eifersucht. Man macht das ganze Register der ehelichen Empfindungen durch. Man muß sich beeilen, denn in der nächsten Saison wird jedes ein anderes Engagement haben, Schüchterne Versuche, ein gemeinsames zu finden, scheitern, denn das Engagement von Ehepaaren erfreut sich in den Theaterbüros einer allgemeinen und erfahrungsgemäß begründeten Unbeliebtheit.

Man nimmt gerührten Abschied und beginnt die Hetze von einem Engagement ins andere, von einem Stadttheater zum andern, von einem Arm in den andern. Im zweiten Jahre bereits steht die Ehe nur noch auf dem Papier, die Treue kaum noch in den Briefen.

So fängt es an und so hört's auf. Und dann wird fortgeheiratet. Und hört auch nicht auf, wenn man groß und prominent und berühmt geworden ist. Dann erst recht nicht.

Schließlich wird das Heiraten zur lieben 233 Gewohnheit. Es ist schwer aufzuhören, wenn man in der Übung drin ist. Ich kenne einige Gruppen beim Theater, wo es schon jeder einmal mit jeder versucht hat, sich fürs Leben zu binden, und wenn es bis zu zwei Jahren dauern sollte.

Freilich gibt es auch Ehen darunter, die vom ersten Tage an glücklich, treu und unerschütterlich fest sind und bleiben, und halten wie für die Ewigkeit zusammengenäht, und Schauspielerinnen, die es an Häuslichkeit, Wirtschaftlichkeit, Ordnung und Sparsamkeit mit der bürgerlichsten Hausehre aufnehmen, und Schauspieler, denen Schlafrock und Pantoffel das liebste Kostüm sind, sogar, ohne daß es ihrer schauspielerischen Qualität Abbruch tut. Selbst in diese Rolle, wenn sie sie einmal übernommen haben, finden sie sich so hinein, daß alle andern von ihnen lernen könnten.

Es sind alle Spielarten vertreten: vom kleinsten Luderchen bis zum großen Luder; vom verliebten Backfisch bis zur Amoureuse; von der berechnenden Haustochter, die auf die Partie spekuliert, bis zur Hausfrau, die mit dem Korb am Arme auf den Markt einholen geht; von dem braven Mädel, das nur einen lieben kann, bis zur wirklichen Dame, von der niemand etwas weiß und an die sich kein Klatsch heranwagt. »Mathildens Herz hat keiner noch ergründet, doch große Seelen dulden still.« Das Fach besagt nichts: die züchtige Hero, die strenge Rhodope können arge Biester und die 234 ausgelassenste Kokottenspielerin ein Muster an Reinheit und Solidität sein.

Bei den Männern ist's ebenso. Man darf nicht glauben, daß Liebe ein Monopol der Liebhaber ist. Auch den Charakterspieler schützt sein Charakter vor Torheit nicht. Und die ältesten Komiker sind bekanntlich die schlimmsten.

Was im übrigen Leben vorkommt, kommt bei den Schauspielern auch vor. Nur immer stärker, heftiger, deutlicher, auffälliger. Auch ihre Tugend hat diese Heftigkeit, und ihre Treue wirkt ebenso explosiv wie die Untreue der andern. Es ist immer, als ob sie es einem Publikum vormachen müßten, wie man das macht: treu sein.

Das Lieben spielt eine andere Rolle bei den Schauspielern als bei andern Menschen. Sie nehmen es wichtiger und – sie nehmen es unwichtiger. Ein Kuß gilt ihnen nicht gleich als Haupt- und Staatsaktion; und manches andere auch nicht. Stimmung und Gelegenheit spielen mit. Und es gibt soviel Stimmung und soviel Gelegenheit beim Theater. Gelegenheit zur Liebe und Gelegenheit zur Untreue. Gelegenheit zur Treue seltener. Man erlebt mehr am Theater: man sieht mehr Menschen, verschiedenere, hat mehr Gelegenheiten des Vergleichs. Man ist das Pathos der Beziehungen und der Situationen gewohnt und schämt sich seiner nicht. Man läßt sich voreinander gehen: man hat sich zu oft auf der Bühne verstellen müssen, um es 235 im Leben voreinander nicht bald aufzugeben. Kollegen durchschauen einander. Welche Rolle spielt Rivalität! Der Kampf auf der Bühne: Luise–Milford, Königin–Eboli, Maria Stuart–Elisabeth, Kriemhild–Brunhild setzt sich naturgemäß im Leben fort. Ist man zuwenig beschäftigt, ist Liebe Trost; ist man zuviel beschäftigt, ist Liebe Erholung. Immer wieder braucht man Erlebnis. Man hat es überreichlich. Man kommt aus den Erregungen und Katastrophen nicht heraus. Hat man keine eigenen, erlebt man die der andern mit derselben Intensität. Wo gibt es so viel Bewunderung wie beim Theater? Und wo solche Enttäuschungen? Und das alles in solchen Dimensionen, wie sie außerhalb des Theaters gar nicht vorkommen. Man lebt schneller im Theater. Immer wie hinter einer Jugend her, die zu entrinnen droht. Sich verlieben, werben, erhören, sich kriegen und sich überkriegen, das alles geht in einem Theatertempo vor sich, als wenn man es in die drei Stunden eines Theaterabends zusammenpressen müßte. Wo sitzt das Herz, wo der Mund, wo die Hand lockerer? Wo ereignen sich noch so viele Szenen der Rührung und der Wut, so viele Ausbrüche des Hasses und der Kameradschaft? Wo kann man noch so sentimental und so unsentimental, so pathetisch und so naiv unmittelbar sein? Wo gibt es Männer, die sowenig Mann, Frauen, die sosehr Frau sind, wie beim Theater?

236 Und wo finden sich noch Menschen, die sich mit einer so willigen und offenherzigen Diskretion zu verraten, so reizend, erfahren und amüsant von der Liebe zu sprechen wissen, wie beim Theater?

 


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