Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I. Drama und Theater

Drama und Theater

Ich nehme an, daß jeder anständige Mensch seine eigene Theorie des Dramas hat. Ich habe sie auch. Und ich habe die Vermutung, daß die Deutschen nur deshalb ins Theater gehen, um sich vom Theater ihre Theorie des Dramas bestätigen zu lassen. Damit aber fallen sie herein. Wie ich auch hereingefallen bin.

Das Theater hat nämlich im Grunde mit dem Drama nicht das mindeste zu tun. Alles, was der Theorie am Drama das Wesentliche ist, ist für das Theater unwesentlich. Und was am Theater wesentlich ist, ist für das Wesen des Dramas unwesentlich.

Das Drama wird auf dem Theater gespielt. Das ist aber auch schon alles. Das Theater liefert den Raum. Dafür liefert das Drama den Text. Das Drama liefert den Vorwand, den Rohstoff sozusagen, die Gelegenheit, an der sich das Theater auswirken kann. Im übrigen sind es zwei verschiedene Künste, deren jede in einer andern Region und Sphäre liegt, aus andern Wurzeln ihre Kräfte zieht, von andern menschlichen und seelischen Funktionen gespeist wird und an andere appelliert, deren jede andern Gesetzen folgt. Sie haben sich 10 zusammengetan wegen der Vereinfachung des Apparats, aber ihre Absichten und ihre Wirkungen laufen in verschiedenen Geleisen und treffen einander nie.

Hänschen geht zum Theater, um das Gruseln zu lernen. Germanistisch ausgedrückt: Furcht und Mitleid. Er lernt's nie. Was hat das Theater mit Furcht und Mitleid zu tun? Höchstens Furcht vor der Kritik und Mitleid mit den Kasseneinnahmen. Den ihm in der Schule eingebleuten Aberglauben an den veralteten Ästhetikerbegriff der tragischen Schuld, der zum erstenmal einen christlich-ethischen Fremdkörper, eine postulierende Tendenz in die reine Sphäre objektiver Kunstgestaltung einschmuggelte, hat er längst abgeschüttelt, aber er glaubt fest und unerschütterlich an eine tragische Weltanschauung, an eine Weltanschauung, die allen Tragikern gemeinsam ist von Aischylos bis zu Wedekind, und die alle Tragiker von allen andern Menschen unterscheidet, an eine ganz bestimmte, fest abgegrenzte tragische Weltanschauung, die so gut ist wie irgendeine andere, wie die platonische, die scholastische, die kantische, die materialistische. Tragiker sein heißt: das Leben als Kampf (und nur als Kampf) anschauen müssen zwischen dem Ich und der Welt, zwischen dem prätendierten Freiheitswillen des Ich (das ewig ist) und dem notwendigen Gange des Ganzen (zeitlich modifiziert als Ananke, Fatum, historische Notwendigkeit, 11 Vorsehung, Schicksal, Verhängnis, Staatsbegriff, Vererbung, Milieu, die Andern). Dramatiker sein heißt: im eigenen Blute den inneren Rhythmus, das gesetzmäßige Tempo, das rhythmische Gesetz dieses Kampfes erleben, das geheimnisvoll identisch ist mit dem Rhythmus alles Weltgeschehens. Diese Gaben: der Glaube an das Ich, der Blick für die Notwendigkeit des Weltgeschehens, die Erkenntnis für den Kampf zwischen Ich und dieser Notwendigkeit und das Ohr für den Rhythmus und die dramatische Dynamik dieses Kampfes machen den tragischen Dichter. Wem dramatisches Lebenstempo nicht eingeboren, tragische Weltanschauung nicht inneres Erlebnis ist, der ist kein Dramatiker. Und Dramatiker wird man nicht, als Dramatiker ist man geboren.

Beim Komödiendichter ist's ungefähr dasselbe, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Er liebt das Ich nicht, sondern er verspottet es. Seine Ewigkeit verwandelt er in Unverbesserlichkeit. Seine Freiheit zerbricht er nicht durch die stärkere Welt, sondern an den eigenen Schwächen. Er glaubt nicht an die Notwendigkeit des Geschickes, sondern an das blinde Ungefähr, an den sinnlosen Zufall. Und sein Tempo wiederholt nicht den gesetzmäßigen Rhythmus alles Geschehens, sondern die tolle Flucht sich überpurzelnder Überraschungen. Zum wirklichen Komödiendichter wird man nicht geboren, sondern durch das Leben vermiest.

12 Von alledem ist natürlich etwas auch in den Stücken, die auf dem Theater zu sehen sind. Es gibt auch unter den Theaterdichtern, die gespielt werden, solche, die geboren, und solche, die vermiest sind. Aber, und das ist das Entscheidende: es kommt darauf nicht an. Es kommt beim Theater auf ganz anderes an. Natürlich bringen auch die Theaterdichter ihre tragische Weltanschauung mit, die teils gestrichen, teils überhört wird. Denn wer geht ins Theater, um sich Weltanschauungen anzuhören. »Eigenartig!« sagen die Leute, wenn es ihnen ganz gegen den Strich geht und sie nun schon gar nichts damit anzufangen wissen. »Das ist interessant!« sagen sie, wenn sie sich zu Tode gelangweilt haben. Und »das ist etwas zum Weiterdenken!« Aber es hat noch keiner einen zu Hause weiterdenken gesehen. Damit ist der weltanschauliche Teil der dramatischen Wirkung auch schon erledigt.

Und du bist zum Theater gegangen, um es aus der nächsten Nähe, ratend, helfend, demiurgisch, dramaturgisch, zu erleben, wie sich tragische Weltanschauung, die dir als die höchste galt, als die einzige legitime Erbin der antiken Kultur, in Gestalt, Leben, Wirklichkeit und Wirkung umsetzt! Prost die Mahlzeit! Du kannst lange warten. Wenn du Glück hast, fünfundzwanzig Jahre.

Nämlich, wenn du so verbohrt bist, an deiner Theorie festzuhalten! Und, zu alt, zu verkalkt, dich 13 nicht entschließen kannst, umzulernen! Und nicht den Mut hast, ein Großes, Köstliches wegzuwerfen, um ein anderes Köstliches dafür einzutauschen!

Nämlich: statt Weltanschauung Weltschau. Statt tragischer Weltanschauung heiterste Weltschau!

Und wenn ihr es noch so metaphysisch anpackt: das Theater ist zum Schauen da. Nach dem Schauen nennt es sich, es bleibt immer die Schau-bühne, was es spielt, sind Schau-spiele. Durch sein bloßes Da-Sein wirkt es als Protest der robusten Wirklichkeit gegen die Blässe des Gedankens, als Widerlegung der Theorie und des bloß Gedachten durch die Wirklichkeit, wirkt es als Repräsentant des strotzenden Lebens, das alle Philosophie durch seine farbige Buntheit beschämen möchte. Immerfort scheint es zu sagen, nein zu singen, zu schreien, zu jauchzen: Denken ist Torheit. Schauen macht weise.

Gott hat die Welt gebaut. Das Drama baut eine zweite, richtiger und gerechter als die erste, und legt ihren Sinn und ihr Gesetz bloß, das Theater stellt die Welt des Dramas auf den Kopf, so daß sie wieder genau so mannigfaltig, töricht und wunderschön gesetzlos wird wie Gottes ursprüngliche. Das Drama zeigt den Kausalnexus und die logischen Zusammenhänge alles Geschehens: das Theater schert sich den Teufel um den Kausalnexus, und seine stärksten Wirkungen blühen dort auf, wo die Logik ein Loch hat. Das Drama ist puritanisch streng und ernst wie alle Kunst: das 14 Theater ist, so paradox es klingt, wie ein Stück Natur, hat die leichtfertige Verschwendung der Natur, hat etwas vom wilden Wuchs alles organischen Lebens, und die Gesetze, denen es folgt, sind locker und unerratbar wie die Gesetze, nach denen Natur organisches Leben wachsen läßt.

Und das Wort? werft ihr ein; die ungeheure Bedeutung des Wortes im Theater? Das ist ein Irrtum. Das Wort an sich gilt nichts am Theater. Es fängt an zu wirken, wenn es sich in Musik verwandelt, in Sinnenreiz der Stimme, und wird erst dann verstanden, wenn es sinnenfällig wird, wenn es in der Situation gestaltet, in Geste, Mimik, Pantomime wiederholt wird, also wenn es sich in Bild verwandelt, in Sinnenreiz der Augen.

Dem Theater gelten die Sinne mehr als der Sinn. Das Leben der Sinne mehr als der Sinn des Lebens. Soll sich das Theater nicht offen und fröhlich dazu bekennen? Braucht die Welt, die gekreuzigte, gemarterte, zerrissene, zerdachte Welt nicht dieses eine Paradies ihrer natürlichsten Triebe, diese letzte Oase und Spielstatt heiterer Sinnlichkeit?

Darum sprechen auch bei der Auslese und Zuchtwahl der Menschen, die das Theater braucht, die Sinne das entscheidende Wort. Es wählt nicht immer die Klügsten, die Weisesten, die Stärksten, die Edelsten. Aber es wählt die Schönsten, die Graziösesten, die Liebenswürdigsten, die Heitersten und Leichtesten, die Deutlichsten und die 15 Drolligsten, die Spielerischesten, die in ihrer Stimme Verführung und den einschmeichelnden Reiz haben, dem man Gefühl glaubt, sogar wenn es vorhanden ist; die mit Körper und Geist gleich tänzerisch Geschickten, und Frauen, die neben und über ihrer Rolle den Zauber ihrer eigenen Weiblichkeit repräsentativ zu spielen vermögen.

Fest und Festspiel aller Sinne zu sein ist die eigentliche Mission des Theaters, die vom tragischen Kampfe des Ich mit der Welt und seiner dramatischen Dynamik weltweit abliegt.

Wenn trotz alledem Drama und Theater unlösbar miteinander verbunden sind, so liegt dies vielleicht daran, daß sie in ihrer Gegensätzlichkeit eins des andern nicht entraten können: weil das Theater wie alles Helle den tragisch dunklen Hintergrund braucht, sich von ihm abzuheben, und weil es andererseits in seines dionysischen Wesens eigentlichem Kern die zum Tragischen gehörende und ihm unerläßliche Auflösung und Überwindung des tragischen Schicksals durch das Spiel bedeutet; Auflösung in ein buntes Nichts durch Spiel und Täuschung der Sinne. Sonst wäre Tragik untragbar; und wie auch die Welt läuft, der Mensch kann ohne das Gefühl nicht leben, daß zum allerletzten Schlusse alles gut ausgeht. Diese tröstliche Gewißheit gibt ihm das Theater. Und so ist eigentlich das Theater die Negation des Dramas. 16

 


 << zurück weiter >>