Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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II. Schauspieler

Zur Typologie der Schauspielerin

Vor vielen, vielen Jahren gab es am Wiener Burgtheater eine wunderschöne, junge Schauspielerin, die hieß Josefine Wessely. Sie hatte mit ihrer schönen Stirn, der leichtgebogenen, feinen Nase, dem regelmäßigen Linienschnitt von Augen, Mund und Kinn, das edelste Profil, die reinsten Züge, das zarteste Inkarnat; dazu ein dunkler, sanfter Blick; eine schlanke und mädchenhafte Erscheinung von einer weichen, stillen Anmut in Haltung, Gang und Gebärden, und ein warmer, lieber, manchmal unsäglich süßer Ton. Sie war gewiß keine bedeutende Schauspielerin, gar nicht dämonisch und kaum das, was man interessant nennt: aber sie war eine reine und echte Natur, schön und wahr zugleich, erfreulich und rührend zugleich, von einer tiefen Innigkeit und Innerlichkeit des Gefühls. So spielte sie die Gretchen und Klärchen, Julia und Desdemona, Luise und Thekla, Emilia Galotti und Hero, und man kann sich diese Mädchengestalten kaum mädchenhafter, lieblicher und beseelter denken, als wie die Wessely sie spielte. Sie starb sehr jung; noch ehe der Versuch eines Überganges zu andern 160 Rollen, reiferen, frauenhafteren, komplizierteren, und zu andern Gefühlskomplexen sie über das Mädchenstadium ihrer schauspielerischen Entwicklung hinausführen konnte. Um so stärker verwuchs ihr Bild mit dem Bild ihrer Rollen. Noch viele Jahre lang suchte das Burgtheater nach einem Ersatz für sie. Und so schuf allmählich die Erinnerung an sie einen ganz bestimmten Typus: den fast zur Legende gewordenen Wessely-Typ; die Sentimentale. Eine Nachfolgerin hat sie nie gefunden.

Es ist, merkwürdigerweise, als ob dieser Typus, der einem als der selbstverständlichste erscheint, verlorengegangen wäre. Es gibt alle denkbaren Abschattierungen von Frauenmöglichkeiten auf der Bühne: nur die jugendliche Sentimentale nicht mehr. Dabei gibt es doch die Rollen noch immer. Und sie sind immer noch die schönsten, besten und dankbarsten.

Und wenn es den Typus noch gibt, will kein Direktor von ihm etwas wissen. »Zu bürgerlich«, sagt er, »zu einfach, nicht heutig, nicht rassig, nicht interessant genug.« Und läßt sie, wie die zarte Carola Toelle, die französischen Kokotten spielen.

Als wenn es etwas Uninteressanteres gäbe als das Interessante. Und Abgebrauchteres.

Die Sorma war, wenn sie auch zuerst manche Rollen des Faches spielte, nie das, was man eine Sentimentale nannte. Ihrer Art, zu sein, war zu viel herzhafte Festigkeit, zu viel Humor der 161 Schalkhaftigkeit, und aus diesem heraus zu viel weibliche Überlegenheit beigemischt, als daß sie bei dem Mädchen, das nur reines Gefühl ist, stehenbleiben konnte. Ihre Mädchengestalten trugen bereits den Umriß der jungen Frau, der jungen Mutter. So entzückend ihr Anfang gewesen sein muß, es war doch nur Anfang und Vorbereitung zu dem Eigentlichen, das erst kommen sollte und in dem sie sich ganz erfüllte: zur liebreizenden Frau und zur vollendeten Dame. Im Typus der Dame, in des Wortes edelstem Sinne, mit der letzten Noblesse der Haltung und des Herzens, mit dem instinktsicheren Takte weiblichen Verständnisses und hingebender Feinfühligkeit erreichte sie die künstlerische Reife und Höhe, um Vorbild und typenbildend zu werden. Im Bilde der Dame wird die Sorma in der Erinnerung weiterleben.

Die stärkste Umwandlung erfuhr die Sentimentale durch Lucie Höflich. Man kann wohl sagen, daß sie den Typus endgültig überwunden und gesprengt hat. So mädchenhaft, so märchenhaft sie mit ihrer glockensilbernen Stimme, mit dem weichzarten Ton und mit der hellen Sonne ihres Goldhaars wirkte, war ein solcher Unterton von Dämonie, eine solche Ahnung von verhaltener, mühsam gebändigter Leidenschaft, von Schicksal, Sünde und Hölle in der Art, mit der sie Luise und Gretchen, Emilia Galotti und Melisande spielte, daß an Stelle einer typischen gefühlvollen Opferseligkeit die 162 ganze Tragik des Geschlechts an diesen Mädchengestalten sichtbar wurde. Aber daneben war noch etwas in der Höflich, das vom Höflichtypus nicht zu trennen ist, heiter in der Franziska und in ihren Anzengruberrollen, tragisch und bis in die Passivität hinein gefährlich revolutionär in der Rose Bernd und in ihren Tolstoirollen: etwas Starkes, Saftiges, Volkstümliches, die Erbschaft der Else Lehmann. In dieser Richtung vollzieht sich ihre zu letzten Höhen tragischer Menschlichkeit führende Entwicklung.

Menschen, die, fast unbewußt, aus solchen Tiefen schöpfen wie die Höflich, wird ihre Kunst nicht leicht. Ein schwerer, sich stets erneuernder Kampf mit der eigenen Schwere, mit den Hemmungen der Schamhaftigkeit, von dem die Selbstverständlichkeit der gewordenen Leistung nichts ahnen läßt. Aber in dieser Schwere, in dieser Schamhaftigkeit liegt die Wurzel ihrer Kunst und ihrer tragischen Kraft.

In der Nachfolge der Lehmann steht neben der Höflich, ohne die tragische Dämonie der Höflich, aber auch sie ganz Natur, ganz Schlichtheit und Wahrheit, ganz Gefühl Käthe Dorsch, wie geschaffen, das Mädchen und das Weib aus dem Volke zu spielen. Wie von selbst, in unmittelbarer Ursprünglichkeit, quillt Güte, Herzlichkeit, Frische, Fröhlichkeit, Leid, das ganze weibliche Gefühl und Erlebnis, aus ihrem lieben, ungebrochenen und 163 unkomplizierten Wesen, so schöpferisch, daß es fast begreiflich wird, wenn sie ihr Talent meistens in der Freiheit des niedrigeren Genres verschenkt, statt sich durch die strengeren Gegebenheiten der großen Aufgaben ihres Faches binden zu lassen. (Was sie, nebenbei bemerkt, mit niemand geringerem als mit Mitterwurzer gemein hat.) So kann man heute schon von einem Typus Käthe Dorsch sprechen, wenn auch die Dorsch-Rollen erst kommen werden.

Apropos niedrigeres Genre: es gibt eine geniale Schauspielerin, die die kompliziertesten und pikantesten Damenrollen spielen könnte, aber in der Operette spielen muß, weil es keine Damenrollen gibt: Fritzi Massary.

Das Erbe mancher Sormarollen (Minna, Porzia) hat Else Heims angetreten, aber auch sie mit einem starken Schuß Else Lehmann im Blut, fest, volkstümlich, humorhaft und mit dem resoluten Mutterwitz gesunder Frauenhaftigkeit. Helene Fehdmer, einem deutschen Typ der Dame am nächsten, hat allzufrüh ins Mütterliche abgedankt, vielleicht auch sie deshalb, weil die Aufgaben ihrer Art aufhörten.

Und wie die Sentimentale verschwunden und an ihre Stelle das wissende Mädchen von heute getreten ist, an die Stelle des ahnungslosen Mädchens, das nur reines Gefühl war, das unter der Tragik seines Geschlechtes leidende, von Fleisch und Blut, 164 mit Nerven, in seinem Milieu, ob Dame oder Kind des Volkes, bestimmt, revolutioniert, individualisiert, so sind auch die Heroine und die Naive verschwunden. Es gibt die monumentalen Frauen nicht mehr, mit der großen klassischen Linie, mit der statuarischen Haltung, dem majestätischen Gange und dem großen Pathos der Leidenschaft in der Geste und im Orgelton der Stimme. Es gibt die Wolter, die Poppe, die Klara Ziegler nicht mehr, und Adele Sandrock holt mit derselben genialen Intuition, mit der sie früher die Heroinen spielte, aus dem tiefen Humor der Pathetik stärkste komische Wirkungen. Und es gibt die naiven kleinen dalbrigen Gänschen und Backfische nicht mehr, die früher in den Lustspielen herumtrippelten und kicherten und nicht wußten, wo Gott wohnte und was ein Leutnant ist.

Die Naive von heute ist ein kluges, vernünftiges, klares, besonnenes, sachliches und sicheres Geschöpf, das genau weiß, was es will, und mit Energie sich und sein Wesen durchsetzt. Dabei hat es nichts von seinem Scharm und seiner fröhlichen Mädchenhaftigkeit verloren. Mit einem Wort: Grete Mosheim.

Oder ist völlig ins Gegenteil von Naivität umgeschlagen: in den Typus, den man, höflichkeitshalber, noch Demivierge nennt. Die Funktionen, die früher mit den lustigen Verblüffungen durch holde Ahnungslosigkeit die Naive, die muntere 165 Liebhaberin, die Lustspielsoubrette ausgeübt haben, sind jetzt, mit umgekehrten Vorzeichen, auf das neue Fach des wissenden Kindes übergegangen, auf das frühreife, abgebrühte, aus Illusionslosigkeit und Neugier verwegen gemischte und manchmal auch ein wenig hysterische Weltstadtkind, dem nichts heilig und wenig Menschliches mehr fremd ist. Else Eckersberg, Erika von Thelmann, Roma Bahn, Blandine Ebinger vertreten, manchmal auch mit dem Mut zur Groteske, diesen heutigen Typ, in allen Varianten, von der Pikanterie der mädchenhaft unerfüllten jungen Frau über den burschikosen Flapper aus Amerika bis zur lasterhaften Proletariertochter. Sie kommen alle von der Lulu her, ob sie nun die Shawsche Kleopatra spielen oder die Wendla, das Lieschen in der »Wupper« oder die Girls in den amerikanischen Lustspielen. Und das volkstümliche Element, mit dem hysterischen gepaart, manifestiert sich in Franziska Kinz als bäurisch ursprüngliche Leidenschaftlichkeit.

Und nun gar die Heroinen! Medeen und Sapphos, Messalinen und Agrippinen gibt es längst nicht mehr; aber welcher Schauspielerin würde es heute noch einfallen, die Eboli und die Milford, Shakespeares Kleopatra und Lady Macbeth, die Penthesilea, die Judith oder die Iphigenie als Heroine aufzufassen! Als Tilla Durieux zum erstenmal ihre Milford und ihre Eboli spielte, ganz von der heroischen Schablone weg, schlank, mädchenhaft, mit 166 der Beauté du diable, fast als Salonschlange, und jedenfalls so der Wahrheit des Favoritinnentypus näher als jene massiven Damen von Anno dazumal, wirkte es fast wie eine Revolution. Die ihres Heroismus entkleidete Heroine rutschte von da ab in das seit Duse und Sarah Bernhardt, Réjane, Désprez und Odilon bei allen guten Schauspielerinnen beliebteste Fach der interessanten Rollen über.

Das Fach der interessanten Rollen hat es wohl immer gegeben. Aber ihr bestimmtes Orska-Parfüm haben sie erst in unserer Zeit bekommen. Wer mag entscheiden, was hier Produkt der Zeit und was Wirkung dieser suggestiven Schauspielerin war! Der Orska-Typ existiert nunmehr, in den Stücken und im Leben. Vom Heroischen freilich hat er nicht viel übrig behalten.

Für die Umwandlung der Heroinen und ihrer natürlichen Fortsetzung, der Heldenmütter, zeugt nicht zum mindesten die große Kunst der Bertens, sowohl nach der menschlich-mütterlichen wie nach der geistreich-konversationellen Seite hin, nach der damenhaft-mondänen Seite Hermine Körner, nach der elementaren und volkstümlichen (bis auf einige Seitensprünge) Agnes Straub, nach der rassigen Maria Fein und nach dem weiblichen Charakterfache die Koppenhöfer.

Das schließlich alles in sich begreifende Charakterfach hat auch die liebe, gute komische Alte verschlungen: die mütterliche Frieda Richard, die 167 Grüning, die Wangel, die Senders und die Werbezirk und die genial groteske Valetti reichen mit ihrer kühnen Phantastik und scharfen Charakterisierungsgabe weit über die Grenzen der altmodischen und konventionell verschwommenen Altfraulichkeit hinaus. Im Charakterfach landeten von der Liebhaberin her Elsa Wagner, von der Soubrette die Terwin und die Wüst.

Eine jüngere Generation fing gleich mit dem Charakterfach an. Gerda Müller spielte, leider nur kurze Zeit, ihre Liebhaberinnen bereits als Charakterrollen. Helene Weigel entwickelte, mit einer bei ihrer Jugend erstaunlichen Schärfe und Unerbittlichkeit der Charakteristik, eine Spezialbegabung in der Darstellung des proletarischen und des leidenden Weibes.

Es liegt in dem so reizvollen Wesen der weiblichen Schauspielkunst, die durch den Zusammenhang mit dem Leben stärker bedingt ist als durch den Zusammenhang mit der Literatur, daß ihre wertvollsten Persönlichkeiten die Typen des Lebens nicht bloß wiederholen, reiner, deutlicher und repräsentativ, sondern sie vorausahnen und bestimmen. Das starke Gattungsbewußtsein der Frau, ihre unbefangene und unmittelbare Abhängigkeit von Zeit und Mode, beides in der Schauspielerin vorbildlich wirksam, befördern die Typenbildung und schaffen einen differenzierenden Gegensatz zu den Frauen der Vergangenheit von besonderer Klarheit 168 und Übersichtlichkeit. So steht der früheren Fachbezeichnung, die sich aus den Gegebenheiten der dramatischen Literatur ableitet: Heroine, Sentimentale, Naive, komische Alte, eine neue elastischere Typologie gegenüber, die sich auf etwa vier Grundformen reduzieren läßt: die volkstümlich Robusten, die man als den Else Lehmann-Typ bezeichnen könnte, das Fach der interessanten Rollen, das Charakterfach und das junge Mädchen von heute mit allen Schikanen; von ausgezeichneten Schauspielerinnen geschaffen, vom Leben akzeptiert und bestätigt.

Natürlich gibt es keine festen Grenzen zwischen den Typen (welche talentierte Frau hat nicht das Talent zu jeder Art von Verwandlung!), und es ist bezeichnend, daß die Frau, die vielleicht die moderne Typenbildung zuerst und am stärksten beeinflußt hat, in ihren entscheidenden Schöpfungen eine Synthese fast aller dieser Typen und ihrer typischen Eigenschaften darstellt: Gertrud Eysoldt. Sie war die erste Lulu, die erste Salome, Nastja im »Nachtasyl«, Elektra, Puck, Selisette; eine kleine, aber charakteristische Welt voll interessanter Figuren, und ein kühner Entwurf zu Mädchen und Frau von heute.

Des seelischen Umwandlungsprozesses, der aus der Sentimentalen von einst das Mädchen von heute machte, wird man sich am stärksten an den beiden, übrigens fundamental verschiedenen 169 Schauspielerinnen inne, die dem Typus, wenigstens in ihrem Rollenfache, relativ noch am nächsten stehen.

Die eine ist Helene Thimig. Es ist manchmal ein schwebendes, fast singendes und wehes Zittern in ihrer Stimme, das an das Vibrato früherer Zeiten erinnern könnte. Aber jenes Vibrato ging auf sentimentale Wirkung aus; in dieser Frau ist nichts, was auf Wirkung ausgeht: sie spielt völlig in sich versunken, um jede Wirkung unbekümmert. Auch das Zittern ihrer Stimme ist nicht sentimental, sondern ihr unbewußt und ein inneres Muß. Diese Frau kann nur das, was sie muß. Sie ist in der Intensität ihres Erlebens von einer herben und strengen Wahrheit gegen sich selbst und darum auch in ihrer Kunst. Das ist das Zeitgemäße an ihr: denn dieser herbe Ernst, der sich nicht die kleinste schöne Lüge gestattet, ist wohl, mehr als alle äußerliche Aufgeregtheit und Hysterie, ein wesentlicher Zug im Antlitz der Gegenwart. Ihre andere künstlerische Eigenschaft: aus dieser ersten der unbedingten Wahrheit stammend und sie unterstützend, ist der Reichtum und die Hellsichtigkeit ihrer psychologischen Einfühlung, die bis in die zartesten Nuancen austönt. Ein solches psychologisches Ahnungsvermögen wäre vor unserer Zeit wohl kaum möglich gewesen.

Die andere ist Elisabeth Bergner. Die ist so sehr Kind dieser Zeit, als hätte die Zeit, schöpferisch geworden, sich selbst in ihr als Typus geschaffen. 170 Alle Ingredienzien der Zeit, wunderbar gemischt, sind in ihr: es fehlt aber auch nichts. Es ist nichts in der Zeit, was nicht in ihr, und nichts in ihr, was nicht aus der Zeit ist. Alle Gegensätze sind da: Elementares neben höchst Kultiviertem, das Hellste und das Dunkelste, der klarste Verstand und unkontrollierbares Geheimnis, Bewußtheit und Unbewußtheit, Wollen und Müssen, souveränstes Können und tausend unbegreifliche Hemmungen. Was Wunder, daß die Fülle den zarten Körper fast zu sprengen droht! Und nun ist sie ebenso, wie sie Kind der Zeit ist, Kind des Theaters: trotz allen ihren Hemmungen Schauspielerin durch und durch. Von jenem echten Schauspielertyp, der nicht bloß in der Kehle, sondern im Körper, im Blut, in der Seele erlebt, von jenem Schauspielertyp, dessen Leben die Improvisation ist, Improvisation des Körpers, des Blutes, der Seele. Und so ist es, als hätte auch das Theater sich in der Bergner sein Gleichnis und seinen Typ schaffen wollen. Trotz allen Hemmungen.

Um von unserm Reichtum an hervorragenden Schauspielerinnen nur die drei zu nennen: die Höflich, die Thimig, die Bergner – die Frau unserer Zeit braucht nicht unzufrieden zu sein, wenn sie sich in dieser Typologie widerzuspiegeln versucht. 171

 


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