Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Phantasien über das Thema Theater

Es ist ein altes Thema. Es gibt kein Ding, über das mehr geredet und geschrieben wird.

Über die Liebe vielleicht. Aber die beiden gehören auch eng zusammen.

Es gibt Menschen, für die das Thema Theater ewig jung und immer neu bleibt. Es gibt Theatermenschen. Es gibt Menschen, die für das Theater geboren sind, die ohne das Theater nicht leben können. Ihr Verhältnis zum Theater ist ein anderes als das aller andern Menschen.

Sie können ohne das Theater nicht leben. Das Theater kann ohne sie nicht leben.

Es ist nicht einmal notwendig, daß sie am Theater oder fürs Theater wirken. Sie finden sich auch unter den Zuschauenden und Genießenden.

Sie haben die sich immer erneuernde Freude am Theater. Es ist ihnen, so genau sie es kennen, täglich eine neue Überraschung. Darum nehmen sie es 89 als ein Gegebenes. So kritisch sie auch manchmal tun, weil das Kritische zu den Haususancen, zur Tradition des Theaters gehört, stehen sie ihm eigentlich unkritisch gegenüber, wunschlos erfüllt und daher wunsch- und willenlos ihm preisgegeben, und sind im Grunde selten reformbegierig oder gar Reformatorennaturen. Der wahre Theatermensch lebt nicht in einem Theater, das kommen soll, sondern in dem Theater, wie es wirklich ist.

Aber da ihm das Theater ein sich immer Erneuerndes ist, hängt er auch an keinem bestimmten Stil, sondern ist täglich darauf gefaßt, einem neuen zu begegnen, und willig, sich dem neuen hinzugeben. Der Theatermensch ist konservativ, aber da der Stilwechsel zu den konservierten Traditionen des Theaters gehört, findet er sich gehorsam und immer wieder um Verständnis bemüht mit ihm ab.

Er begreift, daß jede Gegenwart ihren eigenen Stil hat und das Theater ein Recht auf den Stil seiner Gegenwart; er begreift, daß jeder Stil ein Recht auf das Theater seiner Zeit hat; er begreift, daß jeder dramatische Dichter und jedes dramatische Kunstwerk seinen eigenen Stil hat und das Recht, in seinem eingeborenen Stil begriffen und dargestellt zu werden. Er läßt sich auf keinen bestimmten Stil festlegen und legt das Theater auf keinen fest; und wenn die handfeste Realität plastischer Dekorationen, Möbel und Vorsatzstücke von gestern heute durch die stilisierende Einheit eines 90 unveränderten Rahmens, morgen durch die Farbenwirkung mystisch symbolisierender Vorhänge, übermorgen nur durch den Wechsel von Dunkel und Belichtung, überübermorgen durch die phantastische Unwirklichkeit kubistischer Träume und schiefer Unerklärlichkeiten abgelöst wird und nächste Woche in ein Wandeldiorama unablässig mit jeder Stimmung und Andeutung sich ändernder Wirkungstricks sich auflöst, so läßt er den Wechsel der Stile als berechtigten Anspruch der wechselnden Generationen, Meinungen, Geschmäcke, Dichter und Werke gelten, sich durch die Bühne auszudrücken.

Er rebelliert nicht einmal, wenn eine Epoche, als Übergangsepoche, gar keinen eigenen Stil zu finden vermag und zwischen allen Stilen herumtorkelt, in ihrer suchenden Ratlosigkeit und Experimentierwut von einem Stil in den andern gerät, einen mit dem andern erschlägt und schließlich in einer allgemeinen Stilverwirrung und -verwahrlosung zu ertrinken droht. Er ärgert sich nicht, sondern wundert sich bloß, läßt sich alles gefallen und versucht mitzugehen.

Nur manchmal gestattet er sich, in leisen Träumen und Wünschen von einem andern Stil zu phantasieren, von einem Stil, der einmal nicht von außen kommt und nicht aus der Zeit, sondern der aus dem Theater selbst kommt und das Wesen des Theaters so zeitlos ausdrückt, daß er sich in jede 91 Zeit und in jeden Dichter fügt und jedes Kunstwerk in ihn.

Er ist keine Reformatorennatur, er will das Theater nicht reformieren und nicht revolutionieren, und das Theater seiner Phantasie ist keine Reformbühne, sondern das gute, alte Theater, wie es immer war und voraussichtlich immer sein wird. Das Theater des Spiels und das Theater der Illusion.

Schimpft über Guckkastenbühne und Illusionstheater, soviel ihr wollt: der tiefste Sinn des Theaters wird immer holde Täuschung sein.

Das Theater ist nicht die Welt: es ist ein Gleichnis für die Welt. Das Theater ist nicht die ganze Welt: es ist eine gedrängte Taschenausgabe der Welt, ein kurzgefaßter Abriß ad usum der großen Kinder, die wir alle sind, es ist ein Exzerpt, ein Auszug aus der Welt. Das Theater ist nicht das Leben: es ist ein Abglanz des Lebens. Ein farbiger Abglanz des Lebens. Der Abglanz des farbigsten Lebens.

Auf dem Theater erscheint das Leben in einem Prospekt sozusagen. Dieser Natur des Theaters kommt keines seiner Mittel so entgegen wie der Prospekt.

Der Prospekt ist der theatergemäßeste Behelf der dekorativen Illusion. Er überläßt der arbeitenden Phantasie des Zuschauers nicht alles, wie die bloße Andeutung und mehr als die nie geglaubte 92 Vortäuschung einer vollständigen Realität. Er ist wirklichkeitsnäher als jene und theaterwahrer als diese. Auf den Puritanismus der Shakespearetafel können wir unsere reicher gewöhnte Einbildungskraft ebensowenig zurückschrauben wie auf die Primitivität gemalter Kulissen und Soffitten; die Perspektive unserer Bühnenoptik ist schärfer eingestellt. Die beiden beruhten wie stenographische Sigel einer geheimen Theatersprache auf einer stillschweigenden alten Konvention zwischen Publikum und Bühne und sind nur noch als Metierwitz, als archaisierende Stilparodien tragbar. Die massive Halbwirklichkeit plastischer Dekorationen dagegen mit ihren verdickten Wänden, Säulen und Bäumen ist für Wirklichkeit nicht wirklich genug, für den freien Flug der gern getäuschten Sinne zu wirklich und schwer: sie drückt auf jede Leichtigkeit des Spiels: ihr Naturalismus genügt zur Tapezierung von Innenräumen (da wird sie wohl nie zu entbehren sein), selten darüber hinaus; kaum zur Darstellung einer freien Landschaft. Und alle neueren Versuche, das Theater in den engen Rahmen eines bestimmten Stils zu fassen, pendeln irrig zwischen denselben beiden Extremen: sie sagen zu wenig oder zu viel; sind zu unbestimmt oder überbestimmt. Es fehlt ihnen die vieldeutige Allgemeingültigkeit des Theaters. Die hat allein der Prospekt. Im Prospekt verkörpert sich alle Romantik des Theaters. Vor Prospekten läßt sich träumen. Die 93 Bühne öffnet sich, wird weit, wird tief. Neue Perspektiven tun sich auf. Dort hinten liegt die Welt. Der Prospekt ist die Verlängerung der Bühne nach hinten ins Weltweite hinaus, er ist das Fenster des Theaters in die Welt, er ist ein Übergang von der Fläche zur Tiefe, eine neue geheimnisvolle Dimension. Er gibt dem malerischen Element Möglichkeit und Freiheit der Entfaltung, er taucht die Bühne in Farbe. Er ist Grenze und hebt sie auf, erinnert an Wirklichkeit und löst sie in Unwirklichkeit. Wie die Phantasie, die sich auch von dem festen Boden einer Wirklichkeit abstoßen muß, damit phantastische Unwirklichkeit wirke. Er lockt die Phantasie und reckt die Sehnsucht. Er ist Traum und Ferne und Wechsel. Er zaubert. Er ist Theater.

Das Theater hat ein wenig von seinem Traumcharakter eingebüßt. Es ist uns vielleicht ein wenig zu nah auf den Leib gerückt. Manchmal wünschte man sich, es möchte wieder Traumspiel werden. Man wünscht es sich weniger nah, weniger deutlich, weniger greifbar. Man möchte die Stimmen zarter und ferner hören, fast möchte man Bewegungen, Vorgänge, Leidenschaften wie hinter Schleiern mehr ahnen als sehen. Und vielleicht dadurch noch intensiver spüren. Der Prospekt hat etwas von der Zauberkraft, von der allzu wirklichen, allzu gemeinen Deutlichkeit der Dinge abzurücken, sie zu verschleiern, zu distanzieren, Menschen und Dinge zu typisieren.

94 Menschen auch. Gewiß, wir wollen nicht auf die großen und starken Individualitäten des Theaters verzichten. Sie sind sein Lebenselement, sein stärkster Reiz und sein stolzester Besitz. Aber das Theater ist allzu individuell, die schauspielerische Individualität überdeutlich geworden. Das Spiel hört auf, weil man sich auf die Vertrautheit des Publikums mit seinen Individualitäten verläßt. Auch hier ist eine Überbestimmtheit. Das Theater darf aber nicht seine Allgemeingültigkeit verlieren. Hamlet ist nicht mehr Hamlet, wenn sich nicht jeder in ihm spiegeln kann. Nicht einmal Hjalmar Ekdal darf so einmalig werden, daß nicht jeder unten so ausschaut wie er. Das uralte Privileg und Geheimnis des Theaters heißt Typisierung. Wie in der Arche Noah muß auf dem Theater, Spiegel, Ausschnitt und Wiederholung der Welt, jede Menschenart, Männlein und Weiblein, repräsentiert sein. Aber repräsentativ repräsentiert. Kein König darf königlicher, kein Prinz prinzlicher, jünger und verliebter, kein Fräulein schöner und süßer, keine Naive naiver, kein Dummkopf dümmer und kein Schurke schurkischer sein als sein Ebenbild auf der Bühne. Das Theater muß, wie in einer Musterkarte der Menschlichkeiten gewissermaßen und in anderm Sinne selbst ein Prospekt, um auf den Reichtum und die Schönheit des Lebens hinzuweisen, die beste Auslese aller Varietäten in sich vereinigen. Dieser typisierenden Tendenz des Theaters 95 entsprang, die Comedia dell'arte erweiternd und fortsetzend, das gute, alte, weise und echt theatergemäße System der Fächer und Fachbezeichnungen. Darum müssen neben der einsamen Größe der starken Persönlichkeiten und Ausnahmenaturen, die dem Theater ebensowenig fehlen dürfen, immer neue Menschen stehen, die nichts sind als sehr jung und sehr schön, sehr geschickt und sehr witzig, sehr tyrannisch und sehr komisch, und die nichts darstellen als das vollendete Exemplar ihrer Gattung, die ewigen Menschheitstypen oder die neuen Typen ihrer Zeit.

Stile wechseln. Aber es gibt eine Wirkung des Theaters, die nie versagt und neben der jedes Stilproblem unwesentlich wird: die Wirkung des rein Menschlichen. Ich persönlich habe die Meinung, daß auch sie durch die Einfachheit von Prospekten und die typisierende, eben das Allgemeinmenschliche betonende Art der Darstellung, wie ich sie träume, am stärksten gefördert wird. Und zur Menschlichkeit wird das Theater, wohin immer es abirre, immer wieder zurückfinden. Sie ist das Einzige, das uns allen gemeinsam ist und das uns alle angeht. Was uns am Theater lockt, was wir vom Theater verlangen, ist das Geheimnis des Menschlichen. Was wäre das Theater, wenn es nicht ein Gleichnis des Menschlichen wäre? An ihm hängt unser Lachen und unser Weinen, das Menschliche bewegt uns, erfreut uns, rührt uns. Ihm danken 96 wir unsere tiefsten Erschütterungen, und es gibt keine, die sie überbieten könnten. Je reiner sich aber Menschlichkeit darstellt, um so stärker erschüttert sie.

Über allen Zauber Liebe. Die menschlichste der Menschlichkeiten und die Seele des Theaters. Kann das Theater je aufhören, von der Liebe zu reden? Kann ein Theatermensch über das Theater phantasieren, ohne damit auch über die Liebe zu phantasieren? Hinter Schleiern, vor Prospekten, was verbirgt, was enthüllt sich anderes als das große, ewige, typische Gleichnis der Liebe? 97

 


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