Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Kehrseite

Manchmal ist es, als ob der Schauspielerberuf nur Kehrseiten hätte.

Es gehört der ganze grenzenlose, grundlose – wie ein alter Philosoph, Hieronymus Lorm, es nannte –, ruchlose Optimismus dieser wundervoll leichtfertigsten Menschen dazu, sie zu ertragen.

Und sie ertragen ihn, gern, passioniert, mit allen Kehrseiten. »Der eine Augenblick«, sagen sie einem mit leuchtenden Augen, »wenn ich abends draußen stehe und mich ganz geben kann, entschädigt mich für alles.«

Wenn er abends draußen steht. Aber bis er abends draußen steht.

Es gibt einige wenige, die den Dornenweg hinter sich haben; die es geschafft haben; die ganz oben stehen; die wählen, die diktieren können; denen nicht mehr viel geschehen kann. Nicht mehr viel? Und wenn morgen ihr Publikum nicht mehr will? Eine Rolle, die mißlingt, genügt. Und wenn das Publikum nie mehr will? So ist jede neue Aufgabe eine Versuchung des Schicksals. Und eine neue Möglichkeit, daß es aus ist für immer. Was dann? Und wenn einer seines Publikums noch so sicher ist, seiner selbst ist er nie ganz sicher. Je reifer er in seiner Kunst wird, um so weniger. Hinauf kommen ist schwer; oben bleiben ist schwerer. Und 211 es fängt mit jeder neuen Rolle der Kampf von vorne an, der Kampf mit sich, mit der eigenen Natur, mit dem Regisseur, mit der Kunst, mit der eigenen zur Gewohnheit erstarrenden Sicherheit, ihr Neues abzuringen, ein verbissener Kampf durch alle Stationen des Passionsweges von der Depression über Zweifel und Verzweiflung bis zu den Glücksekstasen des Gelingens, den ach! wie seltenen, ach! wie oft täuschenden. Und selbst nach dem Taumel des größten Erfolges der Katzenjammer, das Ermatten, das Nachlassen, nur dadurch aufzuhalten, daß jeden Abend das Errungene mit Anspannung aller Kräfte festzuhalten, zu verteidigen ist. Ja, das Los des Prominenten ist beklagenswert und die Liste seiner Leidensmöglichkeiten ohne Ende. Er leidet: an zuviel Arbeit; an zuwenig Arbeit; am Zweifel der andern; am eigenen (seltener); an einer schlechten Kritik mehr, als ihn neunundneunzig gute freuen können; an allzu guten Kritiken der andern mehr, als ihn jede ihm geltende gute freuen kann, weil der Erfolg jedes andern einen Mißerfolg für ihn bedeutet; an allen guten Rollen, die er schon gespielt hat, weil er sie nicht mehr spielen kann oder nicht auf sie festgelegt werden will; an allen schlechten Rollen, die er noch zu spielen hat; am Text jeder neuen Rolle, weil sie nicht gerade die Möglichkeiten hat, die er gerade jetzt braucht; an der Furcht, alt zu werden; an der Furcht, für veraltet zu gelten; an 212 einem kranken Magen; und, zum Überfluß, an der Liebe, manchmal sogar an einer unglücklichen und, öfter noch, an viel zuviel glücklicher.

Dann die nicht wenigen guten mittleren Schauspieler, die in guten und sicheren Engagements an guten Theatern sitzen, sich eines guten Ansehens erfreuen, anständige Rollen spielen und anständige Gagen beziehen. Schrecklich! wenn sich einer dieser Situation bewußt geworden ist und sich damit zufrieden gibt: Verfettung, Verkalkung, Resignation, Verbürgerlichung. Schrecklicher, wenn andere sie ihm zum Bewußtsein bringen! Wie kann einer so leben, wenn andere daneben die ganz großen Rollen spielen und die ganz großen Erfolge einstreichen! Wie könnte einer Schauspieler bleiben, wenn er zugäbe, daß es am Talent liegt und nicht an der Talentlosigkeit der Direktion, an ihrer oder meinetwegen an des Schicksals maßloser Ungerechtigkeit, die ihm die Gelegenheit vorenthält, mit der sie den andern verschwenderisch überschüttet! In der Kunst gilt nur das Einmalige, das Außerordentliche, nicht das Ordentliche. Fühlt sich denn nicht jeder einzelne Mensch als einmalig? Sagt nicht, wer »ich« sagt, damit, daß er sich als einmalig empfindet? Wie sollte der Schauspieler darauf verzichten? Nur daß der Einzelne niemanden braucht, der es ihm bestätigt. Der Schauspieler aber ist darauf angewiesen, daß er seine Einmaligkeit beweist und daß man sie ihm glaubt.

213 Nun erst die, deren Ehrgeiz bereits so geduckt ist, daß sie sich damit begnügen, die kleinen Rollen zu spielen; gar erst die, die glücklich sein müssen, wenn man ihnen gestattet, die kleinen, die kleinsten Rollen zu spielen. Nun erst die Zahl derer, die kleine, kurzfristige Engagements haben und nicht aus dem Zittern herauskommen, daß ihr Vertrag gekündigt und nicht erneuert wird; die Zahl derer, die für einzelne Rollen verpflichtet sind und, wenn das Stück abgespielt ist, wieder vor dem Nichts stehen werden. Nun gar erst die große Zahl der Engagementslosen, der Markenstempler, wie man sie jetzt nennt, derer, die herausgekommen sind, die den Anschluß verpaßt haben, die überhaupt kein Engagement oder kein Engagement mehr finden können. Die Zahllosen, die das Traurigste erleben, daß Schauspielerei aufgehört hat, für sie ein Problem der Kunst und des persönlichen Ehrgeizes zu sein, sondern nur noch ein Mittel zum Zweck geworden ist, ein Objekt des Existenzkampfes in seiner bittersten Form, ein Objekt des Kampfes ums tägliche Brot, ein Objekt ihrer Angst um die Zukunft, vor dem Morgen, vor dem Verhungern.

Es gibt wohl nichts Entmutigenderes, nichts Demütigenderes und Würdeloseres, als ein Engagement zu suchen, als dieses Sitzen und Warten in den Vorzimmern der Direktionsbüros und der Theateragenturen. Über jedem müßte das Motto stehen: Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate! Um 214 immer wieder dieselben Antworten zu bekommen: »Es gibt keine Vakanz.« (Während in den Zeitungen lange Notizreihen zahllose Neuengagements mitteilen.) »Wir leben leider in einer Zeit der Theaterkrise, in einer Periode des Übergangs!« (Ich kann mich keiner Zeit erinnern, die nicht die Zeit einer Theaterkrise und des Übergangs gewesen wäre.) »Es liegt augenblicklich nichts vor: wenn etwas vorliegen wird, werden wir Sie verständigen.« (Diese Verständigung erfolgt nie.) Und der Arme gibt seine Adresse ab, zum hundertstenmal, und glaubt und hofft und wartet immer wieder, und läuft unterdessen von Pontius zu Pilatus, um mit denselben Antworten abgespeist zu werden. Er wird auf Probesprechen vertröstet, die nicht stattfinden, und wenn er endlich zu einem gelangt, auf das er seine ganze Hoffnung gesetzt hat, findet es unter den widrigsten äußeren Umständen statt, stimmungsmörderischen, im Rahmen einer Massenabfertigung, und er wird mit einer nichtssagend-ermutigenden Ausrede nach Hause geschickt. Um weiter zu warten. Stundenlang treibt er sich in der weiß Gott! nicht wohltuenden Atmosphäre der Theateragenturvorzimmer herum, ob nicht vielleicht doch einmal zufällig ein Provinztheaterdirektor vorüberkommt. Wenn einer vorüberkommt, ist der Pechvogel natürlich gerade nicht anwesend. Eine Zeitlang wird er von den Agenten mit Versprechungen gestopft, bis auch diese der ewigen 215 Mahnung müde werden, und um sich den lästigen Besucher abzuwimmeln, ihn bescheiden: »Es liegt jetzt nichts vor. Wenn etwas vorliegt, werde ich Sie verständigen.« Er hat ihn noch nie verständigt.

Dabei handelt es sich nicht etwa bloß um alte abgetakelte Invaliden des Berufs, sondern auch um junge, hoffnungsvolle, starke Talente: nicht etwa um Frauen von ältlichem oder stiefmütterlich bedachtem Äußeren, sondern oft um junge, schöne, hochbegabte Mädchen, denen es nicht anders geht. Ich kenne gute Schauspielerinnen, die an ersten Bühnen in ersten Stellungen mit großen Erfolgen tätig waren, weithin aufs vorteilhafteste bekannte, vor denen sich, wie verhext, eine Zeitlang alle Türen verschließen. Es ist eine alte und merkwürdige Erfahrung des Theaters: innerhalb eines festen Engagements fliegen jedem die verführerischsten Angebote von allen Seiten zu; wie einer einmal herausgeraten ist, wird es ihm unmöglich, wieder zurückzufinden. Guter Eindruck, Talent, Geltung, Energie, Zähigkeit: nichts nützt. Es ist ein Pech. Außerhalb des Theaters mag es gelten, daß Pech eine Eigenschaft ist. Aber die armen Teufel von Schauspielern können meistens wirklich nichts dafür.

Gibt es noch einen andern Beruf, in dem ein Mensch gezwungen wird, die Herrschaft über sein Schicksal so völlig in die Hände anderer Menschen zu legen, als den des Schauspielers? Vertrauensvoll 216 in die Hände von Menschen, zu denen sie meistens kein Vertrauen, sondern tiefstes Mißtrauen haben? Gibt es noch einen Beruf, in dem die persönliche Selbstbestimmung so ganz ausgeschaltet wird? Mit der Schauspielschule beginnt es. Ein Prüfungskollegium entscheidet, ob einer auf genommen wird oder nicht. Von gewissen äußeren Unerläßlichkeiten abgesehen, wer kennt die sicheren Indizien der Begabung? Wo gibt es in der Welt eine Kompetenz, auf eine mühsam zu diesem Zweck ahnungslos eingepaukte Probe von einigen Worten hin, prophetisch zu entscheiden, ob ein junger Mensch, der noch nicht zu lernen angefangen hat, von dem man nichts weiß, als seine leidenschaftliche Liebe zu diesem Beruf, den man ohne diese Liebe nicht ergreift, auch die Berechtigung zu diesem Beruf hat oder nicht, Talent hat oder nicht? In der Schule wird, wenn auch nicht über sein künftiges Fach endgültig entschieden, so doch sein Talent durch den Unterricht in eine Richtung geleitet, die durch die Meinung des Lehrers, manchmal auch durch die Besetzungsbedürfnisse der Übungsvorstellungen bestimmt wird. Er kommt ins Engagement: in welches, befindet der Rat des Lehrers, nicht ohne Erwägung schulpolitischer Gesichtspunkte, die Agentur, der Zufall, das Bedürfnis eines Direktors nach billigen Arbeitskräften. Ob er im Engagement auch beschäftigt wird, wie, in welchen Rollen, entscheidet ein anderer; ein anderer, wie 217 er die Rolle anzulegen und zu spielen hat. Das einzige, was ihm überlassen bleibt, ist, mit der eigenen Haut für die Folgen einzustehen. Er kann am Abend nicht an den Souffleurkasten vortreten und sagen: »diese Betonung, diese Geste, dieser Ausdruck, diese Auffassung ist nicht von mir: sie ist vom Herrn Regisseur«. Was ihm andere eingebrockt haben, muß er auslöffeln. Und mit Überzeugung auslöffeln, wie wenn's von ihm wäre. Er hat ja die Folgen zu tragen. Folgen sind am Theater kein leeres Wort. Alles hat am Theater Folgen. Sogar der Erfolg. Wie erst der Mißerfolg! Und dabei muß er noch froh sein, die Gelegenheit gefunden zu haben, auf die hundert andere warten. Aussuchen kann er sich die Gelegenheit nicht. Die sucht ein anderer für ihn aus. Ebenso die Rolle. Die wählt ein anderer. Wählt? Erst ist die Rolle da, dann er. Die Rolle sucht ihn aus, nicht er die Rolle. Das Theater ist der einzige Ort, an dem das Problem der Willensfreiheit endgültig gelöst ist. Und negativ gelöst ist.

Und doch! »Der eine Augenblick, wenn ich abends draußen stehe und mich selbst geben kann, entschädigt mich für alles.« Dann vergißt er, daß Theater, Direktor, Regisseur, Gelegenheit, Stück, Rolle, Text, Mitspieler nicht seine Wahl waren, daß er sprechen und tun muß, was ein anderer für ihn ausgedacht, wie ein anderer es ihm befohlen hat, dann fühlt er nur sich und die Schönheit des 218 Augenblicks, dann schöpft er, selbstherrlich, nur aus der eigenen Natur, dann gibt er sich, und dann ist alles wieder gut. Die Kehrseite der Kehrseiten.

 


 << zurück weiter >>