Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

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Spannung

Auf allen Plakatsäulen steht ein ungeheures Fragezeichen. Das genügt. Eine ganze Weltstadt gerät in Spannung.

Ein Fragezeichen, sonst nichts. Kein Wort des Textes.

Rätselhaft.

Was verbirgt sich dahinter? Mord, Ehebruch, Schuld, Verbrechen, Mystifikation? Geheimnis.

Ein ungeheures Vielleicht. Vielleicht taucht morgen schon, auf neuen Plakaten, ein erstes schüchternes Zeichen der Andeutung auf. Aus dem – vielleicht – sich raten, sich folgern, sich schließen lassen wird . . .

71 Erst morgen werden wir vielleicht wissen, ob es einem verlorenen Hund, einem verlorenen Sohn, einer durchgebrannten Frau, einem neuen Film, einem Schuhputzmittel oder dem Detektivroman einer illustrierten Zeitung gilt.

Unter den Tausenden, die aufgeregt sind, ist nicht einer, der die Familie kennt, um deren private Angelegenheiten es sich handelt, der Film wird genau so sein wie hundert andere Filme, das Schuhputzmittel taugt wahrscheinlich nichts und der Detektivroman bestimmt noch weniger. Und doch wartet eine Weltstadt in gespanntester Erregung.

Was bedeutet das Fragezeichen? Was kann es bedeuten? Nichts. Wer, der etwas zu sagen hat, könnte auf die Idee kommen, ein bloßes Fragezeichen auf die Straße zu malen!

Ein ungeheurer Bluff. Ein Reklametrick.

Ein Fragezeichen ohne Frage, eine Frage ohne Inhalt, die Attrappe eines weitaufgerissenen Mauls, aus dem kein Laut dringt – und das genügt, daß der sorgenvolle Kaufmann, der zerstreute Gelehrte, der eilende Arbeiter, das verspätete Ladenmädchen, der geschäftige Flaneur, die Dame den Schritt anhält, stehenbleibt, den Kopf schüttelt, fragend den Nächsten anblickt und beklommen, im Innersten gestört, weitergeht, eine Menge sich staut, Schutzleute in Aktion treten, ein Netz der Spannung, ein gespanntes Netz der Spannung sich über die Stadt breitet. Läßt sich mit einem Nichts, mit 72 einem Weniger als ein Nichts stärkere Wirkung erzielen?

Der Mann, der als erster dieses Fragezeichen erfunden hat, muß ein gerissener Bursch gewesen sein, der auf der Volkspsyche, dort, wo sie schon mehr Psychose ist, virtuos zu spielen verstand und in den gemeineren Instinkten der Menschen – Neugier, Klatschsucht, Sensationsbedürfnis, Lust am Bösen, am Grauslichen und am Gruseln, mit einem Wort: Spannung – verdammt gut Bescheid wußte.

Die bloße Frage an sich, die Geste der Frage, scheint für die Massenmenschen etwas Aufregendes zu haben, das von alledem in sich schließt.

Aus ähnlichen trüben Quellen schießt die Erregung, die ganze Völkermassen bei jedem Wettkampf überkommt: sie haben nie ein Wettrennen gesehen, sie kennen die Pferde nicht, deren Namen sie kaum aussprechen können, sie verstehen nichts vom Boxen, vom Fußball, vom Tennissport, sie haben keine Ahnung vom Schachspiel, aber sie verfolgen mit einer fieberhaften Erregung über alle Grenzen der Länder, über Tausende von Meilen weg die Berichte über den Ausgang und können es nicht erwarten, die Namen der Sieger, die ihnen nichts besagen, von denen sie nie eine Vorstellung gehabt haben und haben werden, aufgezogen zu sehen. Es ist, als ob es sie bereits in Aufregung versetzte, daß irgendeine Frage gestellt scheint, auf die irgendeine Antwort zu erwarten ist.

73 Ein gerissener Bursche, der Ausnützer dieser Dispositionen, als Reklamechef für jedes Filmunternehmen und jeden Autokonzern dringend zu empfehlen. Aber wenn diese Gerissenheit auch auf die Kunst, wenigstens auf die Grenzgebiete der Kunst übertragen werden soll, scheint dies nicht ganz in Ordnung und dem Begriffe vom Wesen der Kunst entsprechend zu sein. Da wird zwischen Künstlern und den Spekulanten auf die Reizbarkeit der Nerven sauber unterschieden werden müssen.

Das neue ästhetische Postulat, Kunst müsse Spannung erzeugen, ist wohl mehr aus Sportgesinnung als aus Kunstgesinnung entstanden.

So sind Jonglierkünste, im Varieté zauberhaft, für die Dramenbühne unzulässig. Auch mit Worten und Begriffen. Wenn die Advokaten der Spannung es immer wieder versuchen, die Begriffe: spannend und gespannt durcheinanderzuwerfen und mit ihnen Fangball zu spielen, muß man den allzu Gerissenen das Taschenspielerhandwerk legen und die Begriffe fein säuberlich auseinanderhalten. Der Trapezakt ist spannend, der Dramenakt ist gespannt; es kommt nicht darauf an, daß die Handlung eines Dramas spannend sei, sondern es kommt darauf an, daß sie gespannt sei, gespannt von tragischer Leidenschaft, von dramatischem Willen und Entschluß; und es kommt nicht darauf an, daß ein Publikum gespannt sei, gespannt auf den Ausgang; die notwendige Spannung 74 der Handlung führt zur Entladung, zur Reinigung der tragischen Atmosphäre durch die erlösende und befreiende Katastrophe, die gleichgültige Spannung des Publikums zur Befriedigung seiner stofflichen Neugier, aber nicht zur Befreiung vom tragischen Alpdruck. Wie soll sich Miterleben eines großen Schicksals mit den kleinlichen und niedrigen Reizungen der stofflichen Neugier in einer Seele gleichzeitig vereinigen lassen!

Nein, es ist nicht Sache des Künstlers, Spannung zu erzeugen, sondern Spannung zu erleben, und die Spannung des Kunstwerks ist ein völlig wesensanderer Begriff als die Spannung des Publikums.

Ein spannendes Stück, was heißt das? Künstlich die Beantwortung von Fragen hinausschieben, die sich jeder schon selbst beantwortet hat. Wird der Hans die Grete kriegen? Natürlich. Hat sie ihn betrogen? Was denn sonst! Wird er ihr verzeihen? Es bleibt ihm nichts anderes übrig. Lieben die zwei einander, die einander zu hassen vorgeben? Ohne Zweifel, da es doch die beiden besten Schauspieler des Theaterzettels sind. Hat er den Mord begangen? Ja, denn es kommt sonst niemand ernstlich in Betracht. Aber da die Leute auf der Bühne die richtigen und entscheidenden Dinge prinzipiell nie vor dem Schlusse zu sagen pflegen, und da jedesmal, wenn etwas Entscheidendes gesagt werden könnte, man rasch vorher den Vorhang fallen läßt, auf welche Weise sich die listige Kunst des sogenannten 75 guten Aktschlusses betätigt, dauert die dumme Fragerei den ganzen Abend, was eben mit Spannung bezeichnet wird.

Es liegt nicht an den Stoffen. In jedem Stoffe steckt menschlicher Gehalt, der einer künstlerischen Behandlung würdig wäre. Nur kommt es auf die künstlerische Behandlung an. Aber es fragt keiner nach dem Wie. Sie fragen nur nach dem Was. Was ist geschehen? Was kommt heraus?

Das künstlerische Interesse wird verdrängt durch die Spannungen der stofflichen Neugier und Indiskretion, und es ist, als ob sich das Publikum in eine freiwillige Gesellschaft unbezahlter Privatdetektivs verwandelt hätte.

O über den menschlichen Wissenstrieb! Wie herrlich, wenn er den Wissenschaften zugute käme! Steht nicht am Anfang aller großer Entdeckungsfahrten ins Reich des Geistigen auch ein großes Fragezeichen? Das Staunen, das nichts anderes ist als der Menschentrieb zu fragen und Probleme aufzuwerfen.

Ach, es ist ein anderes Fragezeichen als das der Spannungsgierigen, die nicht um der Antwort, sondern um der Frage willen fragen, weil ihnen fragen den Anlaß bedeutet, ihre neugierig schnuppernde Nase in Klatsch und anderer Leute Unrat zu stecken, und die Erwartung übler Düfte bedeutet, die ihre Nerven reizen. Das ist ihre Wissenschaft vom Leben, und was sie von der Kunst 76 verlangen, ist Fortsetzung der Sensationen, die ihnen die Gerichtssaalrubrik der Zeitungen bereitet.

Wo gibt es eine spannendere Spannung, als Menschen auf die Folter gespannt zu sehen?

Der Begriff Kultur hat Spannweite genug, um selbst diese Tiefspannung in sich zu begreifen.

Auch die hohe Kultur des Griechendramas ging kriminellen Vorgängen nicht schüchtern aus dem Wege. Die Mythologie nimmt es, was Verbrechen anlangt, mit dem Pitaval auf: Vatermord, Muttermord, Geschwistermord, Ehebruch, Inzucht gehören zum Bilde des Familienlebens. Aber der Grieche kannte seinen Mythos: wenn er sich denselben Stoff hintereinander von seinem Sophokles und seinem Euripides vorspielen ließ, dann achtete er nicht auf den Vorgang, der ihm vertraut war, und wartete er nicht gespannt auf den Ausgang, den wußte er bereits, sondern was ihn ergriff, war die Art, mit der jeder seiner Dichter den Stoff packte, ihre Verschiedenheit in der geistigen Auffassung, im dramatischen Aufbau, in der Motivierung und Führung der Vorgänge, in der Darstellung der Leidenschaften, in der dichterischen Diktion des Dialogs und der Chöre.

Ob eine alte Gräfin einmal und mit wem sie durchgebrannt ist, ob sie mit ihrem Chauffeur durchgebrannt ist, ob der Chauffeur sie nachher sitzen ließ, ob sie schließlich zurückkommen wird oder nicht, das war den alten Griechen ebenso egal 77 wie mir und jedem anständigen und nicht indiskreten Menschen. Wir sind nicht taktlos genug, uns in persönliche Details zu mischen. Was gehen uns diese privaten Angelegenheiten an! Wir sind nicht neugierig und können's abwarten. Für uns braucht die Fortsetzung nicht zu folgen.

 


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