Arthur Kahane
Theater
Arthur Kahane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Unzeitgemäßes Repertoire

Wenn ich König wäre, das heißt wenn ich nicht Dramaturg, sondern Theaterdirektor wäre, nicht an Händen und Füßen gebunden, sondern mein eigener Herr, niemand verantwortlich als mir selbst;

wenn in meinem Theater ich das entscheidende Wort hätte, nicht der Theaterkassierer;

wenn ich einen freien Kopf, freie Arme hätte und das nötige Geld, um auf die Welt pfeifen zu können, und noch genügend Lust und Energie, um mich dem angeblichen Zug der Zeit zur Amerikanisierung des Theaters und zur verdammten Serienspielerei mutig in den Weg zu stellen und wieder ein Repertoire aufzubauen nach großen Gesichtspunkten und nach meinem Herzen;

wenn die Zeiten anders wären;

wenn nicht alles unter der Not des Tages stöhnte, das verstimmte, verdrossene, verbitterte Gemüt in das Vergnügen des Feierabends trüge, um den 78 häuslichen oder geschäftlichen Ärger am unschuldigen Theater auszulassen, wenn man wieder Lust und Zeit hätte zu den Spielen des Geistes und mindestens denselben lebendigen Anteil an den großen Fragen der Kultur nähme wie an der Jagd nach dem Gelde, an Sport- und Tanzfexereien und andern animalischen Genüssen einer niedrigen Betäubungsunterhaltung;

wenn die fortschreitende Mechanisierung des Lebens und der Künste nicht alles Geistig-Persönliche im Genießenden, nicht alles Verständnis der Genießenden für das Persönliche in den Schaffenden fortschreitend dezimierte;

wenn die Verwahrlosung, Verwirrung, Ratlosigkeit in allen Dingen der Kunst, des Stils, des Geschmacks nicht eine so epidemienhaft allgemeine wäre;

wenn die Tatsache, daß es Revuen gibt und besucht werden, einen nicht an allen guten Geistern des Theaters verzweifeln ließe;

wenn das Publikum anders wäre;

wenn es statt Aktualität, Sensation und nackter Beine wieder große Kunst im Theater suchte und imstande wäre, ohne Hinter- und Nebengedanken das zwecklos Schöne um seiner selbst willen dankbar anzunehmen;

wenn die zunehmende Unbildung nicht so verbreitet, das durchschnittliche Niveau nicht ein so dürftiges wäre, daß alle Voraussetzungen und 79 Beziehungen fehlen, die ein Kunstwerk braucht, um lebensfähig zu werden, ja daß die wenigsten Anstrengung, Geduld, Neigung aufbringen, Gedankengängen im Theater zu folgen;

wenn das Publikum nicht die mangelnde Aufnahmefähigkeit durch verschärften Kritizismus, den mangelnden guten Willen durch apriorisch grausames Übelwollen ersetzte;

wenn die gleichgültige Frage nach der Nationalität der Autorschaft, das lächerliche, lästige Geschimpfe über Ausländerei endlich einmal verstummte;

wenn die Schauspieler anders wären;

wenn sich in ihnen starke Persönlichkeit und Stilgefühl, die schöne Geste und Wahrheit des Erlebens, Schwung, Musik und Kunst des Wortes und selbstverständliche Natürlichkeit häufiger und besser miteinander vertrügen;

wenn sie bescheidener und demütiger wären, willig, auch an unauffälliger Stelle Bestes zu geben;

wenn nicht jedem Wollen von allen Seiten Übelwollen entgegenhagelte;

wenn das alles wäre oder nicht wäre;

dann wüßte ich, was ich täte.

Auf die Gefahr hin, daß Lessing sich im Grabe umdrehe:

ich würde Corneille und Racine spielen. Ich würde die Todsünde gutzumachen suchen, die jahrhundertelang an zwei der Größten begangen wurde, sie 80 aus der von den Deutschen gebauten Weltliteratur auszuschließen, bloß weil Shakespeare noch größer war und uns noch näherstand. Für eine Ehrenpflicht halte ich es, ihr verzerrtes Bild, das die Oberlehrer der Jahrhunderte einer Generation nach der andern weitergaben, vom Staube überlieferter Vorurteile zu reinigen und die beiden Heroen der klassizistischen Tragödie an die Stelle zu setzen, die ihnen in der Weltliteratur, auf der Bühne aller Völker gebührt. Nie hätte der edle und volle Klang dieser beiden Stimmen, das Dur der einen und das Moll der andern, in der Symphonie unserer kosmopolitischen Theaterkunst fehlen dürfen. Wenn wir uns redlich um den Geist der Antike gemüht haben, unmittelbarer und lateinischer ist er in keinem je auferstanden als in dem großen und majestätischen Pathos Corneilles, in der durch die Schönheit der Diktion antik gebändigten, seelischen Leidenschaft Racines. Wenn des »großen« Corneille »Cid«, »Cinna«, »Die Horatier«, »Rodogune«, wenn Racines »Phädra« und »Athalie« heute gespielt würden, von großen Schauspielern, mit allem Mut zur großen Geste und zur Tirade, aber gefüllt mit Leben und Leidenschaft, ich glaube, ein Strom von Schönheit, Adel und Größe würde von der Bühne ausgehen, manche verstummte Sehnsucht würde in einer wiedererstandenen Welt die kaum gehoffte Erfüllung finden, kein Publikum wäre stumpf genug, sich nicht mit fortreißen zu lassen.

81 Ich würde Marivaux spielen, den Ahnherrn und Vorfahren aller französischen Lustspieldichter, in dem sich alle guten Elemente der leichteren französischen Kunst bereits vorfinden, anmutiger, naiver, unschuldiger als bei den Späteren, und der jenes unvergleichlich graziöse, wie hingewischt tändelnde Gespräch erfunden hat, das die Franzosen seither nicht mehr verloren haben, und das sie nach ihm dankbar »Marivaudage« nennen. Goldenes Zeitalter, in dem man noch tändeln konnte um des Tändelns willen und plaudern ohne Zweck und Problemthesen! Ich würde von ihm »Das Spiel der Liebe und des Zufalls« wählen, und wenn einer »verstaubt« sagte, mag er sich den Staub mit dem Geiste der Zeit in den Dirnengassen und Bars der modernen Stücke wegspülen.

Ich würde Victor Hugo spielen. Es wäre grotesk, wenn dieses ungeheure Talent, bei dem die dekorative Vision, das große Wort und die stoffliche Imagination gleich stark waren, dieser in allen Dimensionen titanische Poet, dessen Phantasien vom Skurrilen bis zum Grandiosen reichten, dieser Theatraliker par excellence, der stärkste Handlungen zu sich übergipfelnden Steigerungen zu treiben vermochte, auf die Dauer von der Bühne verbannt bliebe. Welche Zeiten stiegen in prunkvollen und bewegten Bildern, in leidenschaftlichen und stolzen Menschen neu vor uns auf, wenn man den »Hernani« spielte oder den prachtvollen »Ruy Blas«, 82 »Der König amüsiert sich« oder »Marion Delorme« (König Ludwigs II. von Bayern Lieblingsstück, das ihm Joseph Kainz immer wieder vorspielen mußte, weil er in Didier und Saverny, den beiden Helden der Dichtung, sich und den befreundeten Schauspieler wiederzuerkennen glaubte) und die »Burggrafen«, dieses seltsam mittelalterliche Gebilde, zu dem sich Rheingotik und Einfluß deutscher Romantik in der echtesten Franzosenphantasie kristallisiert haben! Welche Bereicherungen an Wirkung, welche ergiebigen, neuen Möglichkeiten für Schauspieler, Regisseure und Bühnenbildner, die Arme zu recken und sich auszutoben!

Und ich würde am liebsten Musset spielen. Er müßte so gespielt werden, wie Reinhardt einmal »Wie es euch gefällt« inszeniert hat: ganz unwirklich, ganz schwebend, ganz hauchzart, ganz mozarten. Oh, was wären das für reizende Abende, für selige Stunden eines flüchtigen Glückes, flüchtig und leichtfüßig wie ein Traum mit dem leisen Duft der Erinnerung auf kaum berührten Sinnen, in Anmut und Grazie getaucht, diese zierlichen, zärtlichen kleinen Stücke, Spiele einer sehr verliebten Phantasie, mit ihrer leise ironisch tändelnden Wehmut, ihrer fast schmerzlichen Heiterkeit, die wie die Küsse sind hinter den schwarzen Vorhängen nächtlich gleitender Gondeln. So müßte man sie alle spielen lassen, die kleinen Proverbes, glitzernde Edelsteine des Geistes, aber auch 83 köstliches Geschmeide: »Fantasio«, »Eine venezianische Nacht«, »Man spielt nicht mit der Liebe«, »Man soll nichts verschwören«, aber auch den schwereren »Lorenzaccio«, diesen Hamlet in lateinischer Fassung, Mussetschen Gepräges. Perle um Perle, mit dem edlen, leichten, leise verblassenden Glanz einer vergangenen Schönheit, die uns nicht ganz verlorengehen kann, weil ihr unsere beste Sehnsucht gehört.

Ja, ich möchte auf der Bühne Zeiten zu neuem Leben erwecken, die vergangen sind und die größer, schöner, bunter waren als die unsere, ich will nicht Stücke ausgraben, die unsere Not, unser Elend, die Eintönigkeit unseres Lebens vorwegnehmen; unsere Zeit hat Spiegelbilder genug und braucht sich nicht in den Stücken der Vergangenheit zu spiegeln, auch wenn sie so gut sind wie die bürgerlichen Familienmiseren Diderots, die unerbittlichen Wahrheiten Flauberts, die genialen Schiebersatiren Balzacs. Wir haben zur Zeit an den eigenen Familienmiseren, Wahrheitsfanatismen und Schieberschicksalen genug, mir genügte es nicht, entdeckungsfreudig zu rufen: Oh, wie modern schon damals! nein, je verschiedener von uns, um so beglückter wäre ich; wir müssen, und wenn's auch nur auf ein paar flüchtige Stunden ist, unserer Zeit durch das Theater entrinnen können; was uns not tut, ist Schönheit, Größe und Glanz!

Darum würde ich mein Theater eröffnen mit 84 dem schönsten, tiefsten und tiefsinnigsten Werke, das neben Shakespeare, neben »Tasso« und »Iphigenie« die dramatische Dichtung der Nachantike geschaffen hat, mit Calderons »Leben ein Traum«. Ich würde nicht warten, bis es neu übersetzt und bearbeitet wird, sondern würde es in der guten, alten, rechten und schlechten Übersetzung von Schreyvogel-West spielen, mit den kurzen, kunstreich gereimten spanischen Trochäen, deren Musik ich nicht vermissen und nicht durch irgendeine neue Erfindung ersetzt haben möchte, just so, wie sie in der Zeit der Romantik entstanden ist, die eben doch am besten zu übersetzen verstand. In meiner Jugend wurde das Werk noch hier und da aufgeführt, ich habe es gesehen und erinnere mich heute noch des Eindrucks und glaube, selten durch das Theater das Glück einer so rauschhaften Entrückung erlebt zu haben. Der Prinz Sigismund war damals die Lieblingsrolle der jugendlichen Helden. Nun ist es seit langem von der Bühne verschwunden; doch gibt es keine zweite Dichtung, in der aller Zauber der Romantik so stark wird, und keine, die in einem so endgültigen Gleichnis, in einer so wundervollen Vermischung und Verwischung von Schein und Wirklichkeit den tiefen Sinn des Lebens und damit zugleich das Wesen des Theaters ausspricht wie diese.

Ich möchte manche von Shakespeares Zeitgenossen spielen. Nicht eben nur, und den am wenigsten, 85 den genialen, genial-monomanen Marlowe, der – es klingt paradox – nichts hatte als ein bißchen Genie, das in einem eruptiven Temperament bestand, einem Vulkan, der, ungeheueren Atems, nur spie und verschüttete. Seine Werke wirken neben denen Shakespeares wie kolossale Torsi, unbehauene Marmorblöcke, wie ungestalte Rohentwürfe (roh in jedem Sinne des Wortes) zu Shakespeares Dramen. Und ehe ich diese zweite primitivere Ausgabe von Shakespeare, aber ohne dessen Menschlichkeit, künstlerische Vielfältigkeit und Problematik spiele, spiele ich lieber Shakespeare selbst, der eben doch noch hundertmal genialer war. Gerade die möchte ich vorziehen, die dem Unvergleichlichen am unähnlichsten sind, den grimmigen und witzigen Ben Jonson, Massinger mit seinem »Herzog von Mailand«, den höchstkultivierten Chapman, die unzertrennlichen Fletcher und Beaumont, und vor allen den begabtesten, John Ford, den englischen Racine, dessen »Zerbrochenes Herz«, »Giovanni und Annabella« (von Maeterlink allzusehr latinisiert und entsäftet) und »Perkin Warbeck« Leidenschaftsdramen von hoher Vollendung darstellen. Und gar erst die Dramatiker der Stuart-Periode, in der, acht Jahrzehnte nach Shakespeares Tode, das englische Theater eine überraschend reiche neue Blüte entfaltete. Es wimmelte in jener gesegneten Zeit von starken Talenten und ausgeprägten Physiognomien, und alle die Otway, die Wycherley und Congreve, 86 die Vanbrugh und Farquhar müssen ganz famose Bursche gewesen sein, bißchen liederlich, aber mit Haar auf den Zähnen und einer barocken Lebensgier und -kraft in der Brust, und alle strebten sie zum Theater, das zum Zentrum und Fokus aller Lebensfreude und Lebenskunst wurde. Es entstand ein richtiges Gesellschaftslustspiel, amüsant und frech in der Erfindung, von scharfem Geist und Witz im Dialog. Bis dann der kulturmörderische Puritanismus des Cromwell-Terrors kam, der aller Lebensfreude auf lange ein graues Ende machte. Das Repertoire aber, das jene geschaffen haben, wäre auch heute noch lebens- und wirkungsfähig. Eine wahre Schatzkammer und Fundgrube für findige Dramaturgen! Sie ist auch reichlich geplündert worden, auch von den Deutschen, und hat namentlich zur Schröder-Zeit, um die Wende des 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, den lustspielarmen Stückevorrat der deutschen Bühne wesentlich mit auffüllen geholfen.

Warum wird Byron nie aufgeführt? Warum versagt die so vielem Kleinen offene und willige Allerweltsdame Theater sich einem der größten und leidenschaftlichsten Temperamente, die je die Welt hervorgebracht hat? »Manfred« wird hier und da rezitiert, gespielt fast nie; aber warum wird »Kain«, wird »Werner«, wird vor allem der (von Kainz bearbeitete) »Sardanapal« übergangen? warum nie 87 ein kühnes Experiment mit dem »Verwandelten Mißgestalteten« gewagt?

Das alles würde ich spielen. Ich würde auch Robert Brownings unbeschreiblich schönes Gedicht »Und Pippa geht vorüber« auf die Bühne bringen. Mir ist die Pippa, die vorübergeht, viel reizvoller als die Pippa, wenn sie tanzt.

Ich würde auch die beiden großen polnischen Romantiker Slowacki und Krasinski spielen: von Slowacki den von edelster Lyrik erfüllten »Mazeppa«, von Krasinski die »Ungöttliche Komödie«, die als Menschheitsdichtung zu »Faust« und »Manfred« gehört. Es kann gar nicht genug Romantik auf die Bühne. Ich würde auch aus der deutschen Romantik alles heraufholen, was sie an ungehobenen Schätzen überreich birgt: die romantischste Jugenddichtung Kleists, »Die Familie Schroffenstein«, als Gegenstück deutscher Gotik zur französischen in Victor Hugos Burggrafendichtung, und Tiecks köstlichen »Blaubart« und Brentanos »Ponce de Leon«, und vor allem eine der stärksten dramatischen Begabungen der deutschen Dichtung, den mit strafwürdigem Unrecht vergessenen Immermann, mit dem (einmal versuchten) »Merlin«, mit »Cardenio und Celinde«, mit seiner »Bojaren-Trilogie«, deren Aufführung eine Tat und einen Einschnitt bedeuten würde. Den Büchner hat man mir allerdings vorweggenommen.

Von den heutigen Dichtern würde ich alles 88 Nichtgespielte von Hofmannsthal spielen: auch das Jugendwerk »Gestern«, den »Weißen Fächer«, das Fragment vom »Tode des Tizian«. Da von Wedekind das ganze Werk bereits gespielt ist und wird, wüßte ich niemand, den ich sonst in die Nachbarschaft meiner unerfüllten Lieblingswünsche rücken wollte. – – Wenn ich König wäre! . . .

 


 << zurück weiter >>