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XV.

Und nun saß der Kommissar abermals im Eisenbahnwagen. Diesmal fuhr er durch die Obstgegenden Sachsens, wie durch einen schimmernden Blütengarten, nach der österreichischen Grenze. Draußen war es warm und goldig, wie jetzt alle Tage. In dem vollen Zug lachten und schwatzten die Leute in dem singenden Tonfall dieser Landschaft, weil ihnen bei all ihrer Mühe und Arbeit der Frühling mit seiner fast sommerlichen Wärme das Blut leicht und hurtig machte.

Auch der Doktor-Kommissar war mit sich und den Dingen zufrieden. Seine Kalkulation hatte bis jetzt hervorragend gestimmt.

Am Tage nach ihrem Zusammentreffen im Bahnabteil war er mit Herrn Wehnchen nach Zwickau gefahren und beide waren im »Oesterreichischen Hof« abgestiegen. Es war abgemacht, daß der Geschäftsmann den Doktor-Kommissar als guten Bekannten und Sachverständigen in Edelsteinen vorstellen sollte, ohne dessen Rat er nicht kaufen könne.

Im Hotel fragte Wehnchen den Kellner nach dem Baron v. Bartenfeld und sie wurden sogleich auf das Zimmer des Herrn geführt, der, wie der Kellner sagte, schon seit dem Vormittag auf sie wartete:

»Allerdings hat'r nur von eenen Härrn kesprochen!«

Der Befrackte hätte dem Doktor-Kommissar das Zimmer des »Herrn Baron« nicht zu zeigen brauchen, hohl und schrecklich klang der Husten des Lungenkranken durch die Tür.

Als Dr. Splittericht und Wehnchen nach kurzem Anklopfen eintraten, stand der drin an einem offenen Koffer, den er jetzt schnell zuklappte. Deutlich sah der Kommissar den raschen Griff nach der hinteren Beinkleidtasche – der Bursche war also bewaffnet!

Der Sachse schien davon gottlob nichts bemerkt zu haben. Er nahm sich recht unbefangen, stellte sich richtig und seinen Bekannten als Herrn Neuhäuser aus Berlin vor, der ihn beim Ankauf der Steine mit seiner Erfahrung und seinem Rat unterstützen wolle.

Dem Insassen des Zimmers mochte das plausibel scheinen. Das Mißtrauen verschwand von seinem zerfurchten und fahlgelbem Gesicht mit den roten Flecken, die beim Eintritt der beiden Herren auf den Backenknochen hell aufgebrannt waren.

Daß da ein Schwindsüchtiger stand, ein Mensch, dem nur noch eine kurze Zeitspanne auf Erden vergönnt war, das sah jeder. Und trotzdem war noch eine wilde, sprunghafte, gefährliche Energie in den unheimlichen Zügen zu lesen. Man konnte sich von diesem Todeskandidaten sicherlich die bösesten Dinge versehen, wenn man ihm zu Leibe ging.

Doch das war vorläufig nicht des Doktors Absicht. Er selbst hielt sich, seiner Rolle nach, in einer bescheidentlichen Reserve und gab seine Ansicht, wenn ihn der Meißner Herr befragte, vorsichtig und in einer Weise zu erkennen, als läge ihm alles daran, dem Verkäufer nicht wehe zu tun.

Der hatte, wie Dr. Splittericht richtig vorausgesehen, nur etwa ein Dutzend Brillanten mitgebracht, wertvolle, aber nicht eben kostbare Stücke, von denen die Sammlung doch genügend enthielt.

Nun fragte Herr Wehnchen, verabredungsgemäß, ob denn der Herr Baron nicht noch andere Steine hätte. Ihm läge weniger an Brillanten als an Rubinen und Smaragden. Auch schöne Saphire könne er gut verwenden.

»Sind Sie d'n Goldschmied?« fragte der andere mit offenbarem Mißtrauen.

»Nee,« sagte der Sachse gemütlich, der wenig Gefühl für die Spannung der Situation zu haben schien, sonst hätte er's wohl längst mit der Angst gekriegt, »nee, ich bin Sie nämlich bloß Händler uff den Kepiede … aber ich stähe mit sehr viel Koltschmiete in V'rbindung!«

Der vorgebliche Baron, ein durch seine Krankheit – wie konnte das anders sein! – sichtlich schwer nervöser Mensch, ließ sich durch die zutrauliche Art des Meißners täuschen. Er besäße in der Tat noch mehr Steine, auch Rubinen und Smaragden wären darunter, aber das seien ungemein wertvolle und besonders teure Stücke. Wenn die dem Herrn Wehnchen nur nicht zu kostspielig sein würden!

»Ei Chott bewahre! Da hamm'r schon chanz andere Sachen chekooft! … Uff'm Jelde, da gann's nie nich angommen! … Däs is da! … Und wenn wir's nich haben, dann hat's äben ä anderer! Aener hat's immer!«

Ueber diese unbestrittene Wahrheit mußte der Schwindsüchtige lachen, aber die kranke Lunge quittierte den Reiz sofort mit einem bösen Anfall, der den »Baron« zwang, sich niederzulassen.

»Sie ham woll'n Husden?« fragte Herr Wehnchen, und da mußte selbst der Doktor-Kommissar lächeln.

Der andere erholte sich. Er stöhnte beim Reden:

»Verdammt noch mal! Ja, der verfluchte Katarrh … immer, wenn's so heiß ist draußen! …«

Nun fragte der Händler nach der Legitimation des Verkäufers.

Dr. Splittericht war gespannt, wie sich der Verdächtige aus der Affäre ziehen würde. Jetzt wieder, wie schon früher stieg der Verdacht in ihm auf, daß jener vielleicht ein neues Verbrechen plane; daß er, wenn der Käufer ihm Schwierigkeiten machte, auch den um die Ecke bringen und berauben wolle. Und tatsächlich erwies es sich später, daß der Verbrecher über keinerlei auf den Namen eines Barons v. Bartenfeld lautende Ausweispapiere verfügte.

Wie die Inkarnation des Bösen stand der ziemlich große und breitschultrige Geselle mit der eingefallenen Brust, ein wenig vornüber sinkend am Tisch. Sein lauerndes Auge griff nach dem Händler. Er nahm seine Brieftasche aus der Tasche, tat so, als wolle er Papiere heraussuchen, klappte sie dann aber wieder zu und legte sie auf den Tisch neben sich:

»Das mit der Legitimation hat ja noch Zeit, wenn das Geschäft perfekt ist …«

Nun wurde über die Preise der einzelnen Diamanten gesprochen. Und da mußte Dr. Splittericht sich über die gute Fachkenntnis des Verbrechers wundern. Er selbst hatte sich aus beruflichem Interesse wie aus Liebhaberei vielfach mit diesen kostbarsten Produkten der Mutter Erde beschäftigt und wußte daher mit ihrem Wert Bescheid. Daß es sich bei den hier vorgelegten Juwelen um Stücke aus der Sammlung de Ruyter handelte, war für ihn erwiesen: es befand sich nämlich unter den Steinen eine sogenannte Dublette, ein Brillant, dessen oktaedrische Form aus zwei gleich geschliffenen Pyramiden, die mit der Grundfläche aneinandergekittet sind, gebildet wird. Eine Fälschung, durch die sich kein Kenner täuschen läßt, die aber den Wert der beiden ziemlich wertlosen »Rosen«, die zur »Dublette« benutzt werden, einem Unkundigen gegenüber erheblich steigert.

Dr. Splittericht, der nach Sachverständigenart die Brillanten einen nach dem anderen unter die Lupe brachte, stellte das sofort fest. Er sah auch die winzig kleine Fliege, die gewiß versehentlich mit eingekittet war, zwischen den beiden Rosen – ein Umstand, dem das an sich ziemlich wertlose Juwel wohl allein die Ehre verdankte, in einer so illustren Gesellschaft glänzen zu dürfen. Und dieses, mit dem bloßen Auge kaum sichtbare Insekt, das im Katalog der Sammlung erwähnt war, gab dem Kommissar die Sicherheit, daß er den Richtigen vor sich habe.

Was Herr Wehnchen an Preisen bot, war sehr wenig, und man sah, wie der »Baron« sofort wieder in eine cholerische Erregtheit geriet. Für Rubinen und Smaragden könne er mehr anlegen, meinte der Händler, Brillanten wären massenhaft am Markt und brächten absolut kein Geld!

Herr Wehnchen, der bei dieser Gesprächsdrehung zweifellos einem sicheren und gewohnten Instinkt folgte, hatte es so gar nicht schwer, natürlich zu erscheinen.

Wahrhaftig! Der Totenschädel mit seiner gelbgrauen Maske, in dem die Augen so tief und hohl verloderten, verhieß nichts Gutes für den Händler, wenn der sich jetzt allein mit ihm befunden hätte! So trennte man sich mit dem gegenseitigen Versprechen, am Ende der Woche von neuem hier zusammenzutreffen.

»Un dänne machen w'r uns'r Geschäft! Da genn' Se druff ab, Härr Paron! … Uff Wietersähn! Athjeh!«

Die Tür schloß sich hinter dem Privatier und dem Polizeimanne. Warnend legte Dr. Splittericht den Finger an die Lippen, sonst hätte der mehr als harmlose Sachse noch auf der Schwelle gerufen:

»Nu, was meenen Se, Herr Gommissar, is ersch?«

Auch unten beantwortete Dr. Splittericht die Frage nicht direkt. Er dankte Herrn Wehnchen für seine Hilfe und versprach ihm einen Teil der ausgesetzten Belohnung, wenn sein Verdacht sich bewahrheiten sollte. Die Zusammenkunft am Sonnabend im »Österreichischen Hof« hätte er auf keinen Fall mehr nötig wahrzunehmen. Dagegen möchte er die Güte haben und, wenigstens vorläufig, über die ganze Angelegenheit schweigen!

Herr Wehnchen versprach's. Ob er sein Versprechen halten würde, bezweifelte der Doktor-Kommissar. Ihm oder dem, was er jetzt vorhatte, konnte aber auch die Schwatzhaftigkeit des Meißner Herrn nicht mehr viel schaden! …

Und jetzt fuhr Dr. Splittericht in demselben Zuge, den der Mörder zur Heimreise benutzte.

Ein Abend voll milder, köstlich reiner Luft lag über dem sächsischen Frühlingsland …

Gellendes Pfeifen, und der Zug hielt.

Aber es war nicht Schönweida. Die Station hieß Silkorum und lag eine halbe Wegstunde von des Doktors Endziel entfernt. Da war es nötig, dem Mörder dicht auf den Hacken zu bleiben, sonst konnte er wohl noch im letzten Augenblick entwischen! Der Kommissar hätte ihn ja längst verhaften können! Aber wer weiß, er war am Ende wirklich jener »Packscher« mit dem weichen »P« aus dem Zuchthause Waldheim! Da war es nicht ausgeschlossen, daß er auch diesmal seinen wahren Namen verheimlicht hätte und daß man später nicht imstande war, diesen Namen und den eigentlichen Wohnort des Verbrechers festzustellen! Dann wären sein Schlupfwinkel und die Edelsteinsammlung unentdeckt geblieben, und die Aufgabe des Kommissars war nicht restlos gelöst. Nein, halbe Arbeit machen, das war nicht des Doktors Sache; selbst wenn sein persönliches Risiko sich dadurch vielleicht etwas verringerte.

Und so stieg auf der Station Silkorum hinter dem »Herrn Baron v. Bartenfeld« ein sächsischer Landbewohner, wenigstens ein Mann in blauer Leinenbluse und Drillichhose, die Kiepe auf dem Buckel und den grünen Lodenhut auf dem schmalen Kopf die Stufen der Bahntreppe hinab und pilgerte mit noch anderen Eingeborenen durch den hellen Schein der abendlichen Maisonne die Straße, die lange Straße hinauf, an der rechts und links die Pflaumenbäume gerade verblühten.

Als der »Herr Baron« in einem starken Hustenanfall stehenbleiben mußte, ging gesenkten Hauptes, die Arme über der Brust verschränkt der Kiepenträger an ihm vorüber, schritt schneller aus und erreichte die Krugwirtschaft am Eingang des Dorfes Schönweida, über deren Tor ein grüner Kranz schaukelte, weit eher als jener.

So konnte er denn, als der »Baron« unter dem Fenster vorbeiging, schon die Krügerin in gutem »Kaffeesächsisch« fragen:

»Nu sogen Se emol, wär is denn nur der feine Härr da? Där is Sie sogär ärschter Glasse chefahren!«

Da erfuhr Dr. Splittericht von der Wirtin beinahe alles, was ihm zu wissen nottat:

»Där? … Där Bumml'r? … Där is ärschter Glasse chefahren? Na, wo hot'r 'n dazu 's Jeld här? Där had doch nischte nich! … Chesessen hat'r in Waldheime, im Zuchthaus! Na jo! Un denn is 'r wech chewäsen, übers chroße Wasser, in Amerika! Nä, wissen Se, den gennt hier jädes Gind! Das is den alten Gesser sei Sohn!«

»Gesser?« fragte der mit der blauen Bluse.

»Nu ja! Gesser mit'n harten G! wär d'n sonst! Där hat schon chestohlen, wie är noch so ä chanz gleenes Berschchen war! … Denn hat'n sein Voder rausgeschmissen aus'n Hause und dann hat er nebenan einchebrochen, bei Heitmillern! Un do is'r 's ärschte Mol ins Gittchen chegommen! Und denn, wie er die Blumentöpfe chestohlen hat, 's zweete Mol!«

»Blumtäpfe hat'r ooch chestohlen?«

»Nu jo! … bei Chärtner Treppchen … un nu frog' ich Sie, wozu stiehlt err so was! Däs is doch die reene Bosheit! … Was will'r denn mit de Blumteppe?«

Der Doktor-Kommissar mußte an sein eigenes Schauen denken, unwillkürlich sagte er:

»Däs war nachts, niche? … Bei der Wassermiehle?«

Die Frau sah ihn groß an.

»Njo! Wohär wissen Sie denn das? Sind Sie d'n ooch aus unserer Chächend?«

»Nä, dös bin ich niche … aber ich hab mal so was von änen chehört!«

Hernach bestellte der Kommissar zu essen und zu trinken und legte sich bald schlafen. Er war nach den letzten vierzehn Tagen, da er wenig aus den Kleidern gekommen war, der Ruhe recht bedürftig.

Am nächsten Morgen war der Kommissar schon um vier Uhr auf den Beinen. Er ging schnell durch das Dorf und kam oben an der Wegbiegung, wo sich hinter dem Pastorenhaus auf steil ansteigendem Hügel die Kirche mit ihrem spitzen Turm ins Sonnenlicht hob, über die Mühlwehrbrücke. Links lag der Mühlteich und hinter dem, der Höhe zu, ragten prachtvolle alte Bergtannen im leuchtenden Schmuck ihrer Frühlingstriebe tiefdunkelgrün ins Blaue. Das war alles ganz jenem Bilde gleich, das der Doktor-Kommissar im wachen Traum geschaut hatte. Vielleicht auch nur ein Zufallstreffer zwischen der unendlichen Fülle von Erinnerungsbildern, die ein Mensch in vierzig Lebensjahren in sich speichert … vielleicht …

Rechts, wo der Steig wieder abwärts führte, wo an das lichte Stangenholz der Fichten sich Feld und Wiese schloß, mußte nach der Beschreibung der Krugwirtin der Bauer Heinrich Kesser wohnen. Es war, wie die Frau gesagt hatte, ein alter Mann, der außer diesem verlorenen Sohn nur noch eine Tochter besaß, an einen Mechaniker verheiratet, der auf der nahen Braunkohlengrube arbeitete. Der Alte hatte sein Besitztum verpachtet. Vom Kummer um seinen einzigen Sohn durch die Kette der Jahre ganz zermürbt, sei er fast stumpf geworden, halte sich fast immer im Hause und rede am liebsten mit keinem Menschen. Es sei einfach nicht zu erklären, wie der sein Lebenlang fleißige und brave Mann zu solchem Kinde komme.

Als der Kommissar in den Hof des kleinen Anwesens trat, ging die Tochter, ein stattliches, blondes Weib, das hochschwanger war, gerade mit dem Eimer in den Stall, um die Kuh zu melken.

Dr. Splittericht grüßte und fragte, ob sie Frau Sasse wäre – den Namen hatte er ebenfalls von der Krugwirtin.

Ueber das wohlgebildete frische Gesicht der vielleicht Dreißigjährigen glitt ein schwerer Schatten. Die blauen, guten Augen in voller Angst auf den Kommissar gerichtet sagte sie sofort:

»Däs is woll wäjen unsen Heinrich, daß Sie gommen?«

Mit einem Blick auf ihren gesegneten Leib bat sie der Kommissar, vor allen Dingen an sich selbst zu denken und Fassung und Ruhe zu bewahren. Was er sagen müsse, sei schlimm, doch wären sie und ihre Verwandten durch all das Geschehene wohl vorbereitet, auch auf das Allerschlimmste!

Sie weinte doch, aber sie versprach, sich zu beherrschen. Als sie dann hörte, daß jener Mensch, von dem sie selbst sagte, daß sie ihn längst nicht mehr als ihren Bruder betrachten könne – als sie hörte, er stehe unter dem Verdacht des Meuchelmordes, da schluchzte sie laut auf, sank auf eine kleine Holzbank am Stall zusammen und klagte immer wieder:

»Ach! 'ch hob's jo chewußt! 'ch hob jo chewußt, daß 's noch emol so gommen werd!«

»Wo ist er jetzt?« fragte der Kommissar, etwas unruhig, daß der Verbrecher nicht etwa aus einem Fenster die Szene mit ansähe und sich heimlich davonmachte.

»Chestern abend, wie er chekommen is, da hot er sich incheschlossen. Er is Sie nämlich schwär krank!«

»Ich weiß … aber wenn auch … Führen Sie mich bitte gleich in seine Kammer. Wo schläft er denn?«

»Do oben! … In der Chiebelstube! Aber die licht hinten naus. Von do gann 'r uns niche sähn! … Ach, Herr Gommissar, är is jo so krank, die chanze Zelt über chat er chelägen … un denn reißt'r wech vor zwee Wochen un wie'r wietergommt, da is'r chanz verstört chewesen und hat sich Dach un Nacht incheschlossen. Geener hat Se mähr rinderfen in seine Gammer, iche nämlich ooch nich! Mir hat'r ieberhaupt immer nach'n Läben chedrachtet. Er wollt' mir verchiften, sagt'r! … Un von klenn uffe! … Er war noch nich zwelf Johre, da hat'r unsen Vader sei Cheldspinde uffchemacht … un is nach Berlin chefohren. Un denn immer weiter, un wie er nachher in Waldheim chewäsen war, won wechen Raubanfall, da war er chanz verdorpen! Da hat er bloß immer noch von Mord un Blut chefaselt! … Un er würde de Welt noch zeichen, was er gennte …«

»Halten Sie eine Zeitung, Frau Sasse?«

»Eicha! … Sie wolln wissen, Härr Gommissar, ob'r drin cheläsen hat, der Heinrich? Jo, däs hat'r! Aber immer bloß heimlich, wenn n geener nich beobachten dat … un wie ich von den Mord cheläsen habe, Herr Gommissar … Ach, ich kannt'n ja doch! Ich kenn'n ja lange!«

Sie schluchzte laut auf. Der Kommissar beruhigte sie von neuem und bat sie, ihn hinaufzuführen.

Sie schüttelte den Kopf:

»Aer wird nich uffmachen!«

Dr. Splittericht kletterte hinter der Frau eine schmale Stiege hinauf. Die rechte Hand am Browning, der in der Jackettasche steckte, wartete er, als die Frau an der rohen Holztür rief:

»Heinrich! Heinrich! Du sollst uffemachen!«

Keine Antwort kam.

Der Kommissar dachte:

»Sollte er doch etwas gemerkt haben und fort sein?«

Er griff an der Frau vorüber an die Klinke, drückte den eisernen Griff nieder und drängte sich gleichzeitig an dem jungen Weibe vorbei, so mit seinem Körper die sich widerstandslos öffnende Tür verstellend.

Seine Ahnung, ein schlimmer Anblick wartete seiner, hatte ihn nicht betrogen: mitten in einer großen Blutlache lag der bis aufs Hemd entkleidete Verbrecher, regungslos. Er lag, ganz ähnlich jenem andern, den er als Werkzeug zu seiner Freveltat benutzt und dann umgebracht hatte, auf Brust und Bauch, die Beine unter dem Hemd ein wenig angezogen, daß er klein und unförmig erschien.

Aber dieser hier hatte nicht durch eigene Hand geendet. Die Würgerin Schwindsucht, die ihm doch noch Kraft gelassen zu so tückischer Bluttat, hatte ihn niedergerissen und zu den Toten geworfen, wiewohl er noch atmete.

Dr. Splittericht sah sich nach der Schwester des Hingestreckten um. Sie lehnte im Türrahmen, schlohweiß im Gesicht, mit dem hohen Busen tief Atem holend. Die Augen und Lippen weit offen, sah sie starr auf den armseligen Körper im weißen, schauerlich rotbemalten Gewande. Und dann faltete die Frau plötzlich ihre großen, arbeitsharten Hände und betete mit zitternden Lippen:

»Lieb'r Gott, habe Dank, daß es so chegommen is! … Und laß'n niche wied'r uffwachen!«

Erschüttert sagte der Kommissar:

»Sie müssen sofort einen Arzt rufen! Vielleicht ist noch Hilfe möglich …«

Die Frau schüttelte heftig den Kopf. Sie sagte aber nichts.

Indem kam's schlürfend die Stiege herauf. Ein alter, uralter Mann nach seinem gebeugten Gang, dem schlohweißen Greisenkopf und dem gefurchten Angesicht, das eine traurige Aehnlichkeit mit dem Mörder hatte, wankte in die Kammer.

Einen Augenblick stand er mit erhobenen Händen auf der Schwelle neben seiner Tochter … Dann sank er langsam hin und rutschte auf den Händen und Knien, rutschte zu dem Bewußtlosen hin, schleifte den gebrechlichen Leib durch das rote Lebensblut des Hingeschmetterten, der sein Kind war … der mit seinem Leben das des Vaters zerstört und vernichtet hatte und der doch sein Kind, sein einziger Sohn war …

Er drehte den Liegenden um, daß man das wächserne Gesicht mit den verfallenen Augen und dem vom Mundwinkel rinnenden Blutfaden sah, er nahm den Kopf mit dem schütteren, fahlblonden Haar in seine Arme und murmelte leise, unverständliche Worte …

Dem Kommissar kamen die Tränen. Er führte die blonde Frau weg von dieser Stätte des letzten Jammers und ging selbst, für einen Arzt zu sorgen.

Der kam ein paar Stunden später und schüttelte den Kopf:

»Das übersteht er nicht … er wird vielleicht noch einmal aufwachen, aber nur um von neuem Blut zu speien … Es ist ja nicht das erstemal … Bei dem vorigen Blutsturz, vor einem halben Jahr, hatte ich ihn schon aufgegeben. Leider, muß man heute sagen, hat er sich wieder erholt … ja, das war eine Natur von Eisen sonst! An einen Transport ins Gefängnis oder sonst wohin ist gar nicht zu denken!«

Dr. Splittericht ging aufs Telegraphenbureau und depeschierte an Dr. Losch, der noch denselben Abend kam. Aber zu spät. Gegen Sonnenuntergang war der Kranke zum Bewußtsein gekommen, hatte mit einem grausigen Aufheulen vom Bette herunter wollen und war tot zusammengebrochen.

Die Edelsteinsammlung fand sich in dem großen, gelben Lederkoffer – Dr. Splittericht nickte ihm zu, wie einem alten Bekannten –, ohne ein Manko. In den Briefschaften des toten Mörders hatte man die Beweise für seine Verbindung mit dem falschen de Ruyter, den Kesser seit seiner Rückkehr aus Amerika erpreßt und am Ende zum Verbrechen an der alten Dame gezwungen hatte.

Als sie die Dorfstraße zum Bahnhof hinabgingen, sagte der Staatsanwalt:

»Das haben Sie wirklich genial gemacht, uns vom Gericht bleibt da nichts zu tun übrig … und ich komme um meine Anklagerede.«

Der Doktor-Kommissar blickte schweigend vor sich nieder, dann hob er im Gehen den Blick, sah den Staatsanwalt aufmerksam an und sagte:

»Ich wünschte, Herr Staatsanwalt, das wäre das Ende aller derer, die man der Gerechtigkeit unter solchen Umständen ausliefern muß! Der menschlichen Gerechtigkeit, mein' ich … denn von der göttlichen Gerechtigkeit, däucht mir – wissen wir Menschen wenig …!«

 


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