Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Thekla de Ruyter hatte in der verwichenen Nacht wenig geschlafen. Obwohl Schwester Adelheid sie bat, sich niederzulegen und sie dieser Aufforderung auch folgte, konnte sie keine Ruhe finden. Erst gegen Morgen nahm ihre Jugend sich ihr Recht. Das schöne Mädchen fiel in einen tiefen, traumlosen Schlummer.
Erst nach zehn Uhr erwachte sie. Mit einem Laut des Erschreckens sprang sie vom Sofa empor, als sie auf ihre goldene Armbanduhr blickte, die sie in all der Hast und Aufregung gestern nicht einmal abgenommen hatte.
Aber Schwester Adelheid, die ihr frisch und mit einem Lächeln entgegentrat, beruhigte sie gleich: die Kranke habe eine vorzügliche Nacht gehabt. Sie fiebere fast nicht mehr und alles deute darauf hin, daß die Wunden gut und schnell heilen würden.
Thekla nahm die Hände der Blonden und dankte ihr von Herzen. Aber die wehrte ab: nur Gott allein habe hier geholfen und könne weiter helfen! …
Thekla nickte und lächelte verträumt. Sie war nicht eigentlich fromm, aber jetzt glaubte sie gern an die Hilfe des Allmächtigen, der ihr die liebe Frau wieder heilen würde, deren Verlust so ganz unausdenkbar für sie schien.
Sie hatte gebadet und gefrühstückt und stand im Boudoir am Fenster, auf den Geheimrat wartend, der heute ein wenig später kam, als sie einen jungen, schlanken Mann. im flotten, hellen Straßenanzug über den Marktplatz von der Bahnhofsallee herkommen sah, auf ihr Haus zu.
Sie betrachtete ihn voller Interesse und, wiewohl sie im blendenden Sonnenlicht das Gesicht unter dem weichen braunen Kavalierhut nicht recht zu erkennen vermochte, hatte sie doch das Empfinden, als nähere sich da jemand, der ihr gefallen könnte. Ihr Stolz wies diese Empfindung zwar gleich wieder zurück, aber sie fühlte doch, was ihr so leicht passierte, daß sie errötete. Sie war froh, daß die Schwester ihr Gesicht nicht sah.
Dann lächelte sie über sich selbst, drehte sich leise um und ging nach einem flüchtigen Blick in Tante Amaranths Toilettenspiegel ins Krankenzimmer zurück. Aber noch jemand anders war die elegante Erscheinung des jungen Mannes aufgefallen.
Das war der Direktor des Hotels »Waldfrieden«, der wie sein berühmter Namensvetter Matthias hieß und eben der prosaischen Beschäftigung oblag, beim Fischhändler Schimperle Hechte für den Abendtisch des Hotels einzuhandeln.
Matthias Claudius erkannte in dem eleganten Fremden sofort jenen jungen Mann wieder, der in der vorletzten Nacht bei ihm im Hotel gewohnt und den er selbst als »zweifellosen Amerikaner« erkannt hatte.
Da warf der Hoteldirektor, der eben den Verdächtigen im Hause der überfallenen Millionärin verschwinden sah, der dicken Frau Schimperle, mit der er noch im erbittertsten Handel um einen Ueberpreis von fünf Pfennig auf das Pfund Hechte begriffen war, das Geld hin und stürzte aus dem wie Fluß und Teich duftenden Laden hinaus auf die Straße, hinüber nach der im Schatten liegenden Seite des Marktes, wo dicht neben dem Küsterhause Herr v. Dose wohnte.
Er raste die Stiege hinauf, rannte das amtsvorsteherliche Dienstmädchen beinahe über den Haufen und stürzte hinein in das Arbeitszimmer des Gestrengen mit dem den Direktor eine gute Skatbrüderschaft verband. Aber als gleich darauf die Gnädigste eintrat (frühere Lieschen Schöller und Tochter des recht wohlhabenden Gemischtwarenhändlers am Markt), da kam Herr Claudius fast gar nicht dazu, die hübsche, rundliche, ringbeschmückte Hand zu küssen solch innerliche Unrast zerzauste ihn! Er war atemlos:
»Ich habe den Mörder gnädige Frau! Ich habe ihn! … Wo ist Ihr Gatte?«
Frau Lieschen war sehr erschrocken. Aber sie war doch eine zu kühle, rechnerische Natur und hatte bei ähnlichen wenn auch nicht so erschütternden Gelegenheiten Zweifel selbst in die Allmacht der Breitenberger Polizei setzen gelernt … Und nun gar dieser Hoteldirektor! …
»Wo haben Sie ihn denn, den Mörder?« meinte Frau Lieschen weit weniger erregt als ihr Gegenüber.
»Er ist in das Ruytersche Haus hineingegangen, liebe, gnädige Frau! … Um Gotteswillen! … wir dürfen ihn nicht entwischen lassen!«
»Na, wenn er selbst am hellerlichten Tage dahin geht! … Wissen Sie, Herr Direktor, das tun doch die Mörder sonst nicht!«
Aber Herr Claudius schlug jeden Einwand nieder, erzählte von der Nacht, wo jener Fremde so spät und ungewöhnlich noch eine Hummermayonnaise mit Sekt bei ihm verzehrt hatte.
»Das nutzt alles nichts,« sagte sie, »mein Mann ist nach Bornstedt zur Grenzbesichtigung … Sie wissen doch, der große Prozeß, den die Bornstedter Bauern …«
Matthias Claudius wußte, wollte aber nichts von den Bornstedter Bauern und ihren Prozessen jetzt hören. Seine Seele wandelte auf dem Rachepfade. Er sah sich schon im »Breitenberger Anzeiger« als Helden und fettgedruckten Mörderfänger.
»Dann muß der alte Mahnke oder Gendarm Tappert ihn so verhaften!« sagte er entschlossen.
»Das werden die beiden auch nicht tun! Die machen nichts ohne meinen Mann!«
»Aber meine Allergnädigste! Etwas muß doch geschehen, und zwar gleich! Eh' er uns wieder entwischt!«
»Na, aber lieber Herr Direktor, ich kann'n doch auch nicht verhaften!«
Matthias Claudius empfahl sich, höflich wie stets, aber etwas erkaltet dieser Dame gegenüber, deren Interesse am öffentlichen Wohl ihm nicht groß genug erschien. Er eilte zum Amtsdiener Mahnke und erfuhr von diesem, daß Wachtmeister Tappert über Land sei, in Begleitung des Herrn Amtsvorsteher Oberleutnants, und daß er selbst nicht für eine Million jemand verhaften würde, ohne Befehl!
»Denn, ja denn, mein lieber Herr, denn jerne! Davor sind wir ja de Obrigkeit! Wir verhaften jeden, det is uns janz ejal! Bloß nich ohne Vahaftsbefehl!«
Jetzt erinnerte sich Herr Claudius an den Professor Wildner, der ja zu der Angelegenheit und auch zu den Herren vom Gericht in naher Beziehung stand, und beschloß, den aufzusuchen. Der aber war auch nicht mehr daheim: ein eiliger Fall hatte ihn per Auto fortgerufen.
So blieb dem Hoteldirektor keine Wahl! Er hätte die Herren vom Gericht aufsuchen müssen, und das hätte er getan, längst getan! Aber diese Herrschaften hatten unerfindlicherweise im Hotel »Goldfasan« (allein schon der Name! …) Wohnung genommen. Und keine irgendwie geartete Veranlassung konnte es geben, die den Direktor vom »Waldfrieden« in die Tür des »Goldfasan« hineingebracht hätte! Auch Verpflichtungen gegen Staat und Allgemeinheit finden da eine Grenze, wo das eigene, brennendste Lebensinteresse in Frage kommt und wo Selbstachtung und tiefinnerliche Abscheu eine unübersteigliche Mauer bilden!
Ja, es blieb Herrn Matthias Claudius mithin nichts weiter übrig, als sich selbst vor dem de Ruyterschen Hause – mochte auch heute im »Waldfrieden« nicht ganz so pünktlich das Gong zum Diner ertönen! – als Polizeiposten aufzustellen, den Wiederaustritt des Verbrechers zu erwarten und ihm dann zu folgen, solange die Füße, an denen leider die Hühneraugen wie immer bei heißem Wetter dem Direktor Pein machten, ihn tragen wollten … Einmal mußte ja doch jemand kommen, der ihm helfen würde, diesen Schrecken Breitenbergs dingfest zu machen!
Der, auf den Herr Claudius in der ziemlich heiß brennenden Sonne fast fiebernd wartete, saß inzwischen in dem schönen, kühlen Salon im Parterre des Hauses Thekla de Ruyter gegenüber, die heute ein dunkles Kleid trug und wie das Bild eines alten Meisters wirkte.
Das mußte, der ihr gegenübersaß, um so mehr empfinden, als er selbst Künstler, Maler und sein gebildeter Geschmack doppelt empfänglich war für schöne Menschenbilder …
Aber vielleicht kam nicht nur sein guter Geschmack hier in Frage. Mehr als einmal schon hatte Thekla, wenn diese strahlendblauen Augen ihren dunklen Sternen begegneten, mit raschem Farbenwechsel vor sich niedergesehen.
Er umfing sie förmlich mit seinen Blicken und sagte einmal:
»Wie konnte ich nur so lange von euch fortbleiben!«
»Du wußtest ja so gut wie nichts von uns … und von mir schon gar nicht!« lachte Thekla.
»Ja,« sagte er, »wahrhaftig! Ich wollte auch nicht! … Wenn ich nicht durch einen Zufall erfahren hätte, daß dieser elende Mensch hier meinen Namen mißbraucht …«
Das schöne Mädchen betrachtete ihn aufmerksam.
»Du glaubst doch nicht an eine zweite Mystifikation?« lächelte er – Sie schüttelte den stolzen Kopf.
»Wie könnt ich denn? … Wenn man dich ansieht, das ist ja beinah, als stehen die Toten wieder auf … Sieh doch bloß!«
Sie ging rasch zur Fensterwand, wo in verschnörkelten goldenen Rahmen alte Familienphotographien hingen, und kam mit einem Bilde wieder, das sie ihm hinreichte. Er nahm es ein bißchen ungeschickt, ihre Hände berührten sich und von neuem errötend, mußte sie lachen, während er sie bewundernd ansah, um dann erst auf das Porträt zu blicken.
»Das ist mein Vater!« sagte er.
»Nein, das bist du!« Sie lachte wieder.
Er nickte:
»Ja, die Aehnlichkeit ist frappant! Wenn man sich auch so genau selber nicht kennt … ein Maler übrigens mehr, weil ja jeder von uns mal an sein Selbstbildnis herangeht, schon des Experimentes wegen … aber du hast recht; das legitimiert mich besser als alle Papiere!«
Und er sah sie wieder an und versank so in ihren Anblick, daß Thekla ihn bat, auch mal nach rechts und links zu gucken
Da sagte er ganz einfach und ehrlich:
»Du bist so schön, daß man dich immer ansehen muß! … Ich möchte dich malen!«
Glühend rot, doch ohne Verlegenheit erwiderte sie: »Das kannst du ja! … Du bleibst doch nun bei uns!«
»Ja,« sagte er aus tiefstem Herzen, »ja, ich geh' nicht wieder fort!«
Und da mußte sie abermals lachen, wußte nicht warum, und fragte schnell:
»Ist denn Onkel Jan Stark schon lange tot?«
»Wie Vater starb, war ich vierzehn Jahre, jetzt bin ich sechsundzwanzig.«
»Und deine Mutter?«
»Auf die kann ich mich kaum noch besinnen … Sie lebten ja nicht lange zusammen … Vater, der doch so ein goldstarkes Herz hatte, konnte es bei keiner Frau lange aushalten. Es war sonderbar. Gut, wie selten einer, aber von einem Freiheitsgefühl, das ihm jede, aber auch jede Abhängigkeit unerträglich machte!«
»Und bist du auch so?« fragte sie ernst.
»Ich … nein, ich glaube nicht!«
Er sah sie innig an und sie konnte nicht anders, als lächeln. Dann fragte sie rasch:
»Hattest du Geld als der Onkel starb?«
»So gut wie nichts! Ich verkaufte unsere paar Sachen und zeichnete, wie ich's schon von klein auf gemacht habe … Und als dann meine paar Dollar futsch waren, ging ich zu einem Stubenmaler, einem Deutschen – wir wohnten damals in New York – und wurde Anstreicher! … Ich sage dir, Mädchen, ich hab's den New Yorkern gründlich angestrichen!«
Sie vernahm nicht seinen Scherz, sie hörte nur das »Mädchen« und freute sich, ohne recht zu wissen, worüber.
Dann erzählte er weiter. Bei dem Meister Schwarz, der aus Dessau stammte, habe er drei Jahre gearbeitet und dort auch den Eduard Dittrich kennengelernt, der sich dann später hier bei den Verwandten für ihn selbst ausgegeben habe. Sie hätten jahrelang zusammen gearbeitet. Das und die Landsmannschaft, die im fremden Lande eine ganz andere Bedeutung hätte, erklärte ihr Zusammenhalten. Denn im Grunde habe er selbst an diesem eitlen, hysterischen Menschen, der übrigens aus einer Tagelöhnerfamilie vom Rhein stammte und von seinen Leuten bei der Durchreise in New York verloren oder absichtlich vergessen worden sei, kein großes Gefallen gefunden.
Dann, gerade an seinem siebzehnten Geburtstag, den 11. Mai – er werde den Tag nie vergessen – hätte er in der Villa eines reichen Herrn am Hudson, eines Newyorker Professors, die Decken geweißt. Und dabei hätte er – weil er doch schon immer nicht anders konnte, als die Wände vollschmieren! – (er lachte hellauf dabei, und sie lächelte mit ihm) da hätte er zwei ziehende Störche an die Decke gemalt. Als er sie gerade wieder überstreichen wollte, sei der Professor hinzugekommen.
Der wurde aufmerksam, sah sich die Dinger an und bat ihn dann, im Speisesaal über dem Holzfries hinzupinseln, was ihm gerade einfiel.
»Und da ließ ich ein paar Putten über eine Wiese tanzen!« sagte er, und schien jetzt noch froh über seine Arbeit. Thekla nickte ihm freudig zu:
»Ja … und da … was sagte der Herr?«
»Er ließ mich auf eine Malschule gehen und half mir weiter.«
»Wie gut … wie lieb war das!«
»Ach,« meinte der Blonde, eine glückliche Vergangenheit in seinen blauen Blicken, »wie schön es war, kannst du dir gar nicht denken! … Ich hatte ja keinen anderen Wunsch! … Diese Sehnsucht nach der Kunst! … Und nach dem Können! … Denn das fühlt man doch: alles in sich haben und es nicht herauszubringen verstehen, weil die Mittel fehlen, das ist … Und plötzlich ist man da, darf malen, braucht nicht mehr Tagelöhnerarbeit leisten, kann lernen und weiter kommen! … Das ist das Schönste im ganzen Leben! … Ich werd' es Mr. Trawler nie vergessen!«
»Ja, in Frisko … San Franzisko heißt das … Du mußt ihn kennenlernen! Wenn wir später mal rüberfahren.
»Wir?«
Sie fragte es zaghaft.
»Ja, du mußt auch Amerika kennenlernen … mit Tante zusammen natürlich!«
»Wenn sie nur erst wieder gesund ist.«
Ein Schatten fiel trotz des blendenden Sonnenscheins draußen ins Zimmer.
»Ich möchte mal nach ihr sehen«, sagte er ernst.
»Warte lieber! Geheimrat Wildner kommt bald. Er hat streng untersagt, daß außer mir und Schwester Adelheid jemand das Krankenzimmer betritt … Aber wie kam es nur, daß dieser Mensch, dieser Dittrich … Er hatte doch deine Papiere! Damit hat er sich hier legitimiert.«
»Die hat er mir gestohlen! – Das war damals eine merkwürdige Sache: Wir waren eigentlich schon lange auseinander, das heißt, nicht gerade böse, aber wir verkehrten nicht mehr. Ich war Künstler und er … er hatte, wie er mir sagte, das Handwerk ebenfalls aufgegeben. Er lebte von der Kunst … Schleppte mich auch mal in sein Atelier … Na, was ich da gesehen habe – … Der Kerl hatte keine Spur Talent, ein ganz unverschämter Dilettant war er! … Und heute glaube ich auch nicht mehr, daß er sich damit ernähren konnte. Er war wahrscheinlich schon damals ein Verbrecher. Ich habe da auch einen ewig hüstelnden Menschen bei ihm getroffen, eine Physiognomie, wie Galgen und Rad!«
»Aber wie kam es –«
»– daß er sich meinen Paß, meine ganzen Ausweise aneignen konnte, meinst du? Ach, das ist eine seltsame Geschichte … wie sie eben auch nur drüben möglich ist.
Ich hatte damals einen Freund, Dr. Schröter, auch einen Deutschen. Er war hier Student, dann Offizier und wer weiß, was sonst noch gewesen. Sicher hatte er zu allem Talent. Und er war der liebenswürdigste, reizendste Mensch, den du dir denken kannst! Die beste Kinderstube, ein wirklich umfassendes Wissen, witzig, interessant … ja, du lachst, Theklachen! … aber so war er wirklich! Er hatte nur einen Fehler und den auch bloß alle paar Wochen oder Monate. Dann ging er los und trank. Trank bis zur Bewußtlosigkeit! Was er in der Zwischenzeit erworben hatte, und das war manchmal gar nicht wenig, das ging dann drauf. Und dabei hatte er noch die schöne Angewohnheit, in seinem Jumm Einkäufe zu machen, die weit über seine Verhältnisse gingen. Er lebte mit einer Quadrone, einer Halbblutnegerin zusammen – ach, pardon! … So was durfte ich dir wohl gar nicht erzählen?«
Thekla lachte:
»Genier' dich nicht! Bei unserer Tante hab' ich gelernt, die Dinge so zu betrachten, wie sie sind, und natürlich die Menschen ebenfalls!«
»Na, Gott sei Dank!« sagte er aufrichtig. »Mir sind prüde junge Damen ein Greuel. Aber ich hätte mir schon denken können, daß du nicht so bist!«
Er sah sie wieder an; das Rot stieg in ihre Wangen. Sie merkte es und glaubte, sie müsse sich entschuldigen.
»Ach,« meinte er nachdenklich, »wenn ich manchmal an dich gedacht habe, habe ich mir dich, nein, dir mich, ach! … habe ich dich mir ganz anders vorgestellt … Weißt du, auch so blond, wie ich bin, und recht langweilig!«
»Du bist aber gar nicht so langweilig«, sagte sie schüchtern.
Nun war er ein bißchen verlegen, lachte und sagte:
»Das freut mich! … ja, wirklich! … sonst liegt mir ja nicht viel dran, aber dir, dir möchte ich gern gefallen!«
Er schwieg ein bißchen und erzählte dann weiter von jenem Bedauernswerten, dessen reiches Leben ein dummes Laster zerstört hatte.
»Einmal«, sagte Wolf Stark de Ruyter, »kaufte der arme Kerl ein ganzes Dutzend Zylinderhüte. Ich habe noch einen davon … aber meistens waren's Spirituosen, die er sich zuschicken ließ und die er dann flaschenweise, wie Wasser, austrank. Das Schlimmste aber war seine furchtbare Gereiztheit in dem Zustand. Ein Blick konnte ihn dann in Harnisch bringen und hundert Mal reichen nicht, daß er mich gefordert hat, wenn er betrunken war.«
Thekla blickte rasch zu dem Blonden auf:
»Und du? Was machtest du denn?«
»Na, ich nahm die Forderung an. 'ne Stunde später hatte er ja alles vergessen. Schwieriger war es nur, wenn er mit anderen in Konflikt geriet. Besonders mit unter ihm stehenden Menschen! Dann ging er drauf los wie 'n Eber! Und das hat ihm ja denn auch den Tod gebracht …«
»Wieso?« Thekla war ganz Ohr. Diese wilden Bilder aus einer fremden Welt hätten vielleicht nicht so sehr ihr Interesse gefunden, wenn der, den sie mit angingen, nicht eben der fesselnde, lebensprühende Mensch ihr gegenüber gewesen wäre.
»Wir waren«, berichtete Wolf Stark, »eines Tages wieder auf einer solchen Fahrt, die ich immer nur mitmachte, um Werner vor seinen tollsten Unklugheiten wenn möglich zu bewahren. Und dabei waren wir in das farbige Viertel geraten, die schlimmste Gegend von New York. In der Baxterstreet wollte er durchaus in einen Lunch-room zweifelhaftester Sorte hinein. Ich war dagegen, aber das half nichts. Wir nahmen einen Drink, wie das so Sitte ist, und der Barkeeper – das ist der Mann, der hinter dem Tisch steht und ausschänkt – das war ein Neger. Nun sind die Schwarzen drüben heute noch so verachtet wie vor hundert Jahren, zum Teil wohl mit Recht, denn die sogenannte Kultur hat sie wirklich nicht besser gemacht. Und ich weiß nun nicht, hat der Barman dem Doktor wirklich einen Vogel gezeigt oder bildete der sich's bloß ein, plötzlich forderte Werner den Schwarzen zum Boxkampf heraus. Alles lachte, denn mit einem Schwarzen macht man keinen »Gang«. Dem schlägt man nach dortigen Begriffen ins Gesicht, daß ihm Hören und Sehen vergeht … Aber durch das allgemeine Gelächter war mein Doktor, der schon stark geladen hatte, noch wütender geworden. Und der Schwarze, dem natürlich der Kamm schwoll, der verhöhnte den armen Werner auch noch und zog großpratschig einen Revolver unterm Tisch vor. Im nächsten Moment gab's einen Knall, alles war voll Dampf – Der Neger sank hinter der Tonbank um – Schröter hatte ihn, seine Waffe herausreißend, einfach über den Haufen geschossen!
Sofort packte ich den Doktor beim Arm und stürzte mit ihm aus der Bar. Aber wir waren noch nicht auf der Straße, da knallte es durch die Fenster nur so hinter uns her … Ach! ich seh's noch wie heute! Wir wollten quer über den Damm und rannten an einer weißgetünchten Mauer hin, an die klatschten die Kugeln nur so … Auf einmal sinkt der Doktor gegen mich, greift nach mir – und gerade noch im Hingleiten fasse ich ihn. Er starb. Die Kugel war ihm in den Hinterkopf gedrungen … Ja, da hockte ich nun und hatte ihn im Arm. Er röchelte und stöhnte, und dabei gab's aus der Kneipe egal Feuer! …«
Thekla hatte, ohne zu wissen, die Hand ihres Vetters gefaßt. Hastig rief sie: »Auf dich, Wolf?«
»Ja!«
Und dann sah er die Aufregung ihres Herzens, nahm selbst ihre beiden Hände, preßte seine warmen Lippen darauf, die das Blut in ihre Wangen jagten, und sagte fast lustig:
»Hätte ich ihn im Stich lassen sollen, den armen Kerl?«
Sie atmete tief:
»Nein … nein … das nicht …«
Dann lächelten sie sich an und blickten einander in die Augen.
Aber Thekla riß sich rasch los: er solle doch nicht so viele Pausen machen! … Daß er mit dem Leben davongekommen sei, das sähe sie ja! … Aber weshalb hätte er nun seine Papiere eingebüßt?
Weil er fortgemußt hätte aus New York, so schnell wie möglich …
»Denn sieh mal, der Neger, den Schröter erschossen hatte, war Wahlmann von ›Tammany‹ – das ist eine große politische Partei drüben, die mit allen Mitteln arbeitet – und sein Boss, der Wirt, hatte ziemlichen Einfluß. Wenn ich damals auch nur einen Tag länger in New York geblieben wäre, hätte ich schon im Gefängnis gesessen und wäre womöglich auf die ›Insel‹ gekommen! Das geht da verflucht rasch und besonders der Deutsche kann wenig ausrichten, wenn er zufällig vor einen Richter kommt, der zu der Gegenpartei gehört … Natürlich sind sie nicht alle so, aber das kann man vorher nicht wissen! … Na, ich riß jedenfalls aus! Ich hatte gerade einen Auftrag von dem Blatt, für das ich arbeitete, Bilder aus dem Leben der Cowboys zu zeichnen. Und ging nach Mexiko, auf eine Ranch, deren Besitzer ich kannte und der mich schon lange eingeladen hatte. Und da bin ich geblieben. Das freie Leben, die Jagd, die Natur – ich erzähl' dir davon später noch mehr! – alles war herrlich! … Das war … ja, warte mal: vier Jahre ist das her, nein … vierundeinhalb Jahr … Um die Zeit hatte ich euch ja auch geschrieben …«
Sie nickte:
»Bald danach kam der andere zu uns.«
»Ja, dem hatt' ich nämlich meine Sachen anvertraut. – Ich mußte ja Hals über Kopf fort – vor allem auch meine Papiere, an denen mir zu der Zeit nicht viel lag, weil ich ja nie die Absicht hatte, wieder hierher, ins alte Land, zu gehen.«
»Und dann, dann hörtest du von uns?«
»Ja, und zwar durch die Edelsteinsammlung! Ich las zufällig einen Artikel im ›New York Herald‹. Da war die Rede davon. Mit vollem Namen des Besitzers. Auch daß Onkel tot war, stand darin, und daß die Witwe die Sammlung weiterführe. Dadurch wurde ich aufmerksam und – ich weiß nicht, wie's kam – plötzlich kriegt' ich Heimweh! Nicht mal nach euch. Euch kannt' ich ja gar nicht, nein – es war das Land, das ich wiedersehen wollte!«
Er sah lächelnd vor sich hin.
»Und wußtest du da schon, daß dieser Dittrich …?«
»Das brachte ich durch das Konsulat in Erfahrung, in New York. Ich wollte meine Papiere wieder haben und bekam eine recht unangenehme Antwort: der rechtmäßige Inhaber meines Namens, also der gute Dittrich, der sei schon seit Jahren wieder in Deutschland und wohne bei seiner Tante, der Millionärin de Ruyter in Breitenberg.«
»Und darauf kamst du hierher?«
»Natürlich. Sofort! Leider einen Tag zu spät, um das Unglück zu verhüten! Denn ich war vorgestern nacht schon hier. Da hab' ich im Hotel gewohnt … wie hieß es doch gleich?«
»Hotel ›Waldfrieden‹. Aber warum bist du denn da nicht hergekommen?«
»Ach, ich hatte meine Brieftasche in Berlin im Hotel liegen lassen. Ich mußte einfach zurück!«
»Dem Direktor vom ›Waldfrieden‹, dem bist du ausgefallen. Er hielt dich sofort für einen Amerikaner …«
»Ach!«
»Ja und obenein auch für den Verbrecher selbst!«
Wolf Stark nickte sinnend.
»Ja, das stimmte ja auch alles gut zusammen! … Und nun hat sich dieser unglückselige Mensch, der Dittrich, erschossen?«
»Nein, er ist wahrscheinlich von seinem Komplicen erschossen worden … Denn das hab' ich gleich gesagt, wie der Kommissar mich fragte: mein Vetter – das heißt, das war er ja gar nicht – der kann die Tat nicht begangen haben!«
»Nein, dazu war er ein viel zu großer Hasenfuß! Aber gewußt darum und sie vorher mit dem anderen geplant, das hat er doch!«
»Ja, aber er dachte wohl mehr an einen Diebstahl. Er hat uns doch Opium in den Wein getan den Abend zuvor … nur daß Tante ihr Glas nicht trank, weil ein Schmetterling 'reinfiel …«
Wolf Stark schüttelte den Kopf:
»So ein Loafer Amerikanischer Ausdruck für Vagabund.! Na, aber der andere, das muß ein ganz gesiebter sein!«
Da sagte sie plötzlich, und das Wort kam wie aus ihrem tiefsten Innern:
»Wie gut, daß du gekommen bist, lieber Wolf!«
Und wurde verlegen und war von Herzen froh, daß es jetzt klopfte und Schwester Adelheid eintrat.
Die sagte, die Kranke schliefe noch immer; das sei recht gut, aber sie möchte doch gern Geheimrat Wildner hören. Ob man nicht bei ihm anläuten könne?
Thekla wollte es sofort tun. Aber er klärte sie auf und erzählte ihr mit froher Stimme und lachenden Augen, Wolf Stark vorstellend, daß nun der wirkliche Vetter gekommen sei, und daß so erst Licht in diese ganze rätselhafte Geschichte fiele.
»Da freuen Sie sich gewiß von Herzen«, sagte Schwester Adelheid und war ebenfalls überrascht von der Ähnlichkeit des Malers mit dem Bilde, das ihr Thekla zeigte.
Die wollte den Hörer von dem Fernsprecher nehmen, als man ein Auto heranrollen hörte. Thekla eilte ans Fenster:
»Ach, da kommt ja der Herr Geheimrat!«
Als er in den Salon trat und Thekla ihm Wolf Stark vorstellen wollte, sagte er, von seinem Berufsinteresse ganz in Anspruch genommen:
»Verzeihen Sie! Aber erst muß ich nach meiner Patientin sehen!«
Doch als sie den Namen Wolf Stark de Ruyter nannte, hielt er, schon im Hinausgehen, inne:
»Wer?«
»Mein wirklicher Vetter Wolf Stark!« lächelte Thekla.
Der Geheimrat schüttelte, den Maler mißtrauisch messend, den Kopf:
»Na aber …«
Da hielt ihm das Mädchen das Bild Jan Stark de Ruyters hin und, als er das verglich, glaubte er sofort.
Wolf und Thekla wollten mit zur Tante, aber der Professor wehrte ab.
»Bleiben Sie nur vorläufig beide! Es genügt, wenn Schwester Adelheid mich begleitet. Ich muß erst sehen …«
Er war kaum hinaus, da meldete der Diener den Amtsvorsteher und den Hoteldirektor. Auch ständen der Wachtmeister Tappert und Amtsdiener Mahnke vor dem Hause.
»Ich lasse bitten«, sagte Thekla ein wenig erschrocken.
Als der Diener hinaus war, meinte Wolf voller Humor:
»Aha! Jetzt will die hochlöbliche Polizei den Mörder fangen. Mich nämlich!«
Aber Thekla war ängstlich:
»Um Gottes willen! … was machen wir denn? … Hast du denn Papiere?«
»Nein, aber das Bild!«