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IX.

Der Abend dieses Tages fand Dr. Splittericht und den Maler Wolf Stark de Ruyter auf dem Wege nach der Hauptstadt. Sie saßen allein im Coupé erster Klasse und konnten so ungestört plaudern.

Der Kommissar hatte sich von seinem Begleiter, der Dr. Splitterichts Bitte, ihn bei der Aufklärung dieses schweren Verbrechens zu unterstützen, sofort entsprochen hatte, alles erzählen lassen, was Wolf Stark über den erschossenen Eduard Dittrich irgend zu sagen wußte. Aber die Person desjenigen, der den Kommissar recht eigentlich interessierte, blieb dabei doch im dunkeln.

Es war ja wohl anzunehmen, daß jener hüstelnde Mensch, den der Maler einmal bei Dittrich angetroffen hatte, mit dem Mörder identisch war; nur konnte Wolf Stark heute, nach so langen Jahren, beim besten Willen keine rechte Beschreibung des gefährlichen Menschen mehr geben. Er schilderte ihn als großen, ziemlich breitschultrigen, dabei mageren Mann von vielleicht dreißig Jahren mit einem starkknochigen Gesicht, das fahle Farben und einen unheimlichen Ausdruck hatte. Aber Wolf Stark war nicht einmal imstande zu sagen, ob jener helles oder dunkles Haar gehabt habe. Und er meinte selbst, daß alles, was er jetzt angäbe, wohl mehr ein Phantasiebild, aus den später erfahrenen Tatsachen kombiniert, sei als die Malerei realer Wirklichkeiten.

»Das einzige, was ich mit positiver Sicherheit sagen kann, Herr Kommissar: ich würde ihn auf der Stelle wiedererkennen!«

Das war's, was den Kommissar auf die Idee gebracht hatte, den jungen Maler an seinen Nachforschungen teilnehmen zu lassen.

Jetzt war eine Pause im Gespräch eingetreten. Die beiden saßen sich im Zwielicht gegenüber auf den Fensterplätzen des Abteils und jeder dachte an das, was ihn erfüllte.

Wolf Stark sah sich in Breitenberg, unten im Parterre der Villa, im kleinen Salon. Und neben ihm ein Mädchen im dunklen Seidenkleide mit feinem Goldschmuck um den schönen, offenen Hals. Sie hielten sich bei den Händen und sprachen leise miteinander.

Das Gefühl einer unendlichen Sehnsucht ergriff den Maler im tiefsten Herzen. Er dachte an Frauen und Mädchen, deren Hände er auch in den seinen gehalten, deren Lippen sein Mund dereinst geküßt hatte … War es sein starkes Temperament, was ihn heute wie damals in heißer Flamme glühen ließ? Hatte nur sein Künstlerauge sich an dem schönen Bilde Theklas so voll gesogen, daß sein Herz ganz erfüllt ward von ihrem Zauber?

Einen einzigen Tag, nein, nur Stunden hatte er sie gesehen und war ihr doch mit jeder Fiber verbunden!

Er mißtraute sich selbst, er wollte nicht ihr, die ihm so hoch über allem Schönen und Begehrenswerten zu stehen schien, mit einer Leidenschaft nahen, die die Stunde geboren und die nächste wieder in Asche sinken lassen würde! Ihm war, als müßte er lange von ferne stehen, dürfe nur schüchtern herüberschauen und dann erst sprechen von seiner Liebe, wenn ihre Augen selbst ihn darum bitten würden.

Er dachte auch, wie leicht er früher zu Frauen von seinen Gefühlen gesprochen hatte. Und heute kam ihm das wie ein Unrecht vor … Und doch lag alles so fern, so weit vergessen hinter ihm, als sei es gar nicht wirklich gewesen. Und wenn er sich tausendmal zur Vorsicht und zur Besonnenheit mahnte – ihm war dennoch, als sei Thekla de Ruyter die erste und die einzige, die er geliebt, als gäbe es kein Weib außer ihr auf der großen Erde, das er je lieben könne!

Sein stürmischer Geist lehnte sich gegen den Zwang, der ihn in diesem Augenblick immer weiter von ihr fortführte, aus! Er wollte nicht, nein er wollte nicht mit dem Kommissar nach Berlin fahren! … Zurück wollte er, mit dem nächsten Zuge, zurück zu ihr, nach der sein Herz schrie! … Wollte niederstürzen zu ihren Füßen und ihr sagen, daß sie seine Seele sei und die Erfüllung aller seiner Träume – und daß er das Leben ohne sie nicht ertragen könne!

Aber Wolf Stark de Ruyter stand nicht auf. Er sprach auch kein Wort zu dem stillsinnenden Mann auf der anderen Polsterbank. Er haderte eine Weile mit sich, daß er so wenig Mut habe; meinte, daß eine Leidenschaft, die nicht alle Hindernisse sofort über den Haufen würfe wohl wenig wert und würdig des einzigen, geliebten Gegenstandes wäre! Aber dann sah er ihr Bild wieder. Es stand wie in einem goldenen Rahmen in dem kleinen Parterresalon und sah mit großen Wunderaugen in sein brausendes Innere hinein. Und da war's ihm, als leuchtete es auch in den dunklen Augen auf, wie ein Erkennen … Das Bild sah ihn an, bis die seidigen Wimpern die schwarzen Sterne deckten und ein Lächeln um den geliebten Mund ging, das ihm einen tiefen Seufzer entlockte …

Wolf Stark riß sich zusammen. Er blickte verstohlen auf den Kommissar; der saß da mit einer so sonderlichen Starrheit, als wäre kein Leben mehr in ihm. Der Maler wußte ja nicht, daß die Seele des anderen auf dunklen Pfaden schweifte. Er konnte nicht ahnen, daß wirklich nur der Leib des Mannes ihm gegenüber war, dessen suchender Geist weit ab sich vorwärts tastete auf blutigen Spuren.

»Herr Kommissar«, sagte Wolf Stark.

Da erwachte der Doktor. Er blickte, wie irre, um sich. Und ein Seufzer, ähnlich dem, den Wolf Stark vorhin hören ließ, nur aus so ganz anderen Tiefen, kam von seinen Lippen.

»Ist Ihnen nicht gut, Herr Kommissar?«

Der strich sich mit der Hand übers Gesicht und hob langsam den Blick zu seinem Gegenüber. Jetzt sah und fühlte der Künstler, daß der andere aus stillen Traum- und Geisterlanden wiederkam auf die laute Erde.

»Mir ist manches eingefallen«, sagte der Kommissar, dessen Stimme noch den dumpfen, halblauten Klang hatte, als finde auch sie sich nur schwer und langsam zurück aus die Oberwelt, ins bewußte Leben … Er schwieg und sagte nach einer Weile erst:

»Ja, ich träume manchmal ein bißchen … es scheint wenigstens so. Meine Mutter hat mir das vererbt. Sie war stundenlang ganz entrückt … und sie hatte in ihren Wachträumen die merkwürdigsten Erscheinungen … Zwar meistens Dinge, die erst kommen sollten … Es soll auch manches eingetroffen sein davon … Aber Sie wissen, man muß solchen Familiengeschichten gegenüber vorsichtig sein. Der sogenannte »Okkultismus« lebt zum großen Teil davon … und das Mißtrauen, das man ihm entgegenbringt, ist deshalb nicht unberechtigt.«

Der Kommissar hatte noch immer mit einer schleppenden, wie müden Stimme gesprochen. Jetzt wurde er kräftiger und bewußter in seiner Rede. Die Energie, die den Körper verlassen hatte, um in die Finsternisse des Unerkannt-Rätselvollen einzudringen, kehrte ihm allmählich zurück.

»Bei mir ist das anders. Ich glaube, mich einigermaßen in der Gewalt zu haben …« Er lächelte. Oder es schien wenigstens eine Sekunde, als wolle er lächeln. »Ich bin eben keine Frau! Ich vertiefe mich absichtlich … und es ist mir, als sinke ich dann herunter auf den tiefen Grund des Unbewußten, wo all die tausend Seitengedanken, die unser gerades Wissenwollen durchkreuzen, wo die plötzlich aufhören. Manchmal hab' ich so Dinge gesehen, die ich nicht wissen konnte. Die sich nachher aber doch als Tatsache erwiesen … Ja, das ist eine seltsame, aber eine starke Hilfe für meinen Beruf … über den ich sonst nicht gern rede … aber Sie sind Künstler, Sie werden mich begreifen …«

Wolf Stark nickte eifrig. Wiewohl sein Glaube unsicher blieb. Gehört hatte er ja viel von Hellseherei, Telepathie und ähnlichem. Hatte auch Leute gesehen, die mit erstaunlicher Nervenfeinheit die eigenartigsten Experimente ausführten auf diesem Gebiet. Aber das geschah meist für Geld und eine letzte Kontrolle blieb unmöglich. Hier war's ein sehr ernster, wegen seiner Erfolge geschätzter Mensch, der selber alles tat, seine bedeutsame Gabe von jeder Mystik loszulösen. Es gab also doch derartiges? … Oder spielten auch hier der Selbsttäuschung bunte Lichter in die Welt der Tatsachen und Erinnerungen hinein? Waren's vielleicht doch nur Momente des Wiederauflebens von schon verlorenen Gedächtnisbildern, die der Losgelöste aus dem Bodenlosen aufsteigen sah, ohne zu wissen, daß sie nur in ihm und seiner Seele schliefen?

Da sagte der Kommissar, als sähe er in des Malers arbeitenden Schädel hinein:

»All das habe ich mich auch oft gefragt …«

»Wie? … Sie meinen, Herr Kommissar? …«

»Ja, die Einwände, die Ihr Geist jetzt erhebt, sind zu naheliegend, zu selbstverständlich und berechtigt. Dazu bedarf es keines telepathischen Verstehens. Sie können ja nichts anderes in solchem Moment denken als die Frage. Besitzt der Mann wirklich solch übersinnliche Gabe oder besteht sie nur in seiner Einbildung? Wie gesagt: die Frage habe ich mir tausendmal selber vorgelegt. Ich habe auch versucht, das auf dem Wege der Ideenassoziation zu erklären. Nach dem Vorbilde des Amateurdetektivs in der berühmten Novelle »Das Verbrechen in der Rue Montague« von Edgar Allan Poe. Dieses auf Ideenassoziation beruhende Ableiten der kompliziertesten Gedankengänge ist übrigens der Trick, den Connan Doyle in jeder seiner Geschichten anwendet und mit dem er Hunderttausende verdient hat, während Poe das Genie, wenn ich nicht irre, in Armut gestorben ist …«

Der Maler nickte.

»Ja, in Armut – und im Delirium. In Amerika hat man eine Stiftung für seine Nachkommen errichtet!«

»Ja,« sagte der Kommissar, »aber mit diesem Poeschen Zurückverfolgen der Gedankenfährten hat das, was ich denke oder vielleicht nur fühle, nichts zu tun. Natürlich haben wir Kriminalisten von jener Art des Sherlock Holmes etwas gelernt – und das ist Connan Doyles Verdienst … Das, was ich meine, läßt sich nicht lernen. Es ist wahrscheinlich nur Leuten eigen, die einen Gehirndefekt haben. Ich beispielsweise habe als Kind ziemlich stark an Fallsucht gelitten. Und es wird sich erst in der Folge zeigen, wie stark die Epilepsie, die ja bekanntlich in Gottweiß welchen äußeren Formen – zum Beispiel, als reine Gefühlsschwankung sichtbar werden kann, – wie stark die Epilepsie, sag' ich, das ganze Dasein des betroffenen Individuums angreifen und beeinflussen kann, das wird erst eine viel spätere Zeit begreifen lernen … Heute ist im Volkswissen, bei Gebildeten wie Ungebildeten, davon noch keine Spur vorhanden. Das zeigt die Behandlung der kriminellen Frage, wie sie noch in der ganzen Welt möglich ist. Nur ein kleiner Kreis von Wissenden arbeitet an der Materie; die endlichen Resultate werden die Welt einmal in beschämendes Erstaunen setzen … Also wie gesagt ich hab' auch was von dem trüben Geheimnis in mir. So erkläre ich mir meine Seelenwanderungen …«

Der Redende hielt inne. Der Maler bat ihn, weiterzusprechen.

»Sie könnten nun fragen, wo ich denn und bei welchem Anlaß ich den untrüglichen Beweis für diese sonderbare Fähigkeit bekommen habe. Ich könnte Ihnen darauf mit einer ganzen Reihe von Fällen dienen. Aber der Argwohn, daß es sich da immer wieder um eine nachträgliche Imagination handelt, ist berechtigt. Man kann den Zweifelnden nie davon überzeugen, daß man das, was später in die Erscheinung trat lange vorausgesehen hat. Und zwar vorausgesehen nicht im gewöhnlichen Sinne, sondern als leibhaftiges Bild, wie einen Filmstreifen, der sich abrollt und dem die letzte Erfinderkunst auch die Farbe, die Töne, mit einem Wort, all die tausend Nuancen des Lebens gegeben hat.

Vielleicht werden Sie sich in der Sache, die wir jetzt gemeinsam verfolgen wollen, selbst überzeugen können. Ich will, was ich sonst nie getan habe, Ihnen sagen, was ich sehe … so klar und deutlich sehe, daß ich jetzt, nach der Trance, noch alles vor mir habe, wie Sie selber da vor mir sitzen …

Ich sehe einen ziemlich großen, etwas gebeugt gehenden Mann, der einen gelben Lederkoffer trägt … jawohl … einen gelben Lederkoffer … Der Koffer scheint schwer zu sein … oder vielleicht liegt dieser Eindruck in der Haltung des Mannes überhaupt. Er stellt ihn ab, den Koffer … Er sieht sich dann, ausspeiend um, als suche er nach einer Sitzgelegenheit … Geht an den Straßengraben, steigt hinein und setzt sich trotz seines eleganten Anzuges auf den Grabenrand … Es ist sehr staubig … Der Wind wirbelt graue Wolken empor … und der Mann hustet …«

Der Kommissar, dessen Züge wieder jene Starrheit von vorhin angenommen hatten, schwieg. Seine Stimme war rauh, wie verebbend … Dann sagte er mit einer trägen Bewegung der Glieder, als kämpfe er mit dem Schlaf, der sich seiner zu bemächtigen drohte:

»… Nun wird es Dämmerung, wie im Film, wenn die Lichtbatterien plötzlich gestört sind … aber es kommt wieder … Da, jetzt scheint die Sonne … Eine Dorfstraße da geht er … grüßt Leute, die vor einem Gärtchen stehen … die bücken scheu zur Seite … und dann eine Tür eine grüngestrichene Tür mit von der Zeit blankgeputztem Eisengriff … Da hinein verschwindet er … Und im Türrahmen dreht er sich um … Ich seh' ihn ganz deutlich … Aber das Gesicht ist nichts weiter als ein blutiges Grinsen … nicht zu erkennen …«

Die Lippen des Kommissars blieben halb offen. Seine weitgeöffneten, starren Augen blickten in die dämmernde Helle, die aus einem letzten fahlgelben Streifen des Tageslichtes vom Horizont her in das Wagenfenster drang. Nun fuhr der Zug durch einen Einschnitt im Gelände, rechts und links dunkelte der Erdwall, da war es beinahe finster im Abteil …

Den Maler überlief's. Er sah sein Gegenüber nur noch in schattenhafter Kontur. Das Klingen und Rollen der Räder gab eine traumschwere Musik und das Schweigen im Coupé drückte lastend die Sinne.

Der Kommissar sprach wieder. Er murmelte erst, unverständlich.

Der Maler strengte sein Ohr an. Und als gehorche die Seele des Schauenden dem heischenden Willen des Künstlers, redete sie deutlicher:

»… Er geht durch das Dorf … und … der Mond scheint … Nachtigallen schlagen in einem Hain, der mit hohen Bäumen über dem« See bis in den hellen Himmel ragt … Es rauscht und plätschert … Eine Wassermühle … und dann um eine Wegbiegung, über die kleine Brücke … Das Dorf schläft … ein Hund bellt und reißt an der Kette … Da bleibt er stehen und bückt sich … Er nimmt, über den Zaun gelehnt, ein Paar Blumenstöcke … Es sind Rosen … er läuft … Jemand schreit hinter ihm her … Ein paar laufen … mehrere … Jetzt haben sie ihn … er wehrt sich … sie halten ihn und reißen ihn fort … es … wird … es wird … ganz dunkel …«

Der Zug ging wieder über ebenes Land. Noch ein letzter Tagesschimmer spielte ins offene Fenster.

Der Kommissar war ganz wach.

»Habe ich Sie erschreckt?« fragte er. »Solche Dinge werden von manchem schlecht ertragen.«

»Aber nein, durchaus nicht! Ich bin nur sehr überrascht. Danach könnte man sich ja fast ein ganz klares Bild von den Verhältnissen machen, in denen der Mörder lebt …«

»Ja. Nur – es gibt viele Dörfer … und Seen … und Landschaften. Ich habe in meinem ersten Wachtraum, vorhin, sogar noch mehr gesehen … Ich sah ihn, in einer Bauernstube stehen … ein ganz alter, schwerhöriger und wohl schon geistig stumpfer Mann, der sein Vater sein mochte, und ein Landmädchen, ein derbes, flachsblondes Geschöpf in Arbeitskleidung, die redeten aufgeregt und laut mit ihm. Das Gesicht des Mädchens war mir auch ganz klar, das des Alten schon weniger, und wenn sich auch alles in mir anstrengte, ihn selbst zu erkennen, da war immer nur die wie durch einen Blutschleier grinsende Fratze …«

»Vielleicht«, meinte der Maler, »ist das alles nur das Resultat einer bei Ihnen enorm gesteigerten Einbildungskraft und eines ins Fabelhafte erhöhten Kombinationsvermögens … Steht nicht in dem Brief, den Sie mir vorhin zeigten: »Ich sitze hier auf meinem Kaff und langweile mich.« Da ist am Ende der Drehpunkt … oder meinen Sie nicht?«

»Es kann sein. Jedenfalls habe ich schon Dinge gesehen, in anderen Fällen, die mich meinem Ziel näher gebracht haben. Mit dem, was Sie eben gehört haben, läßt sich wenig anfangen. Aber da ist schon Berlin. Sind Sie sehr schlafbedürftig?«

»O nein, mir macht's nichts aus, wenn ich auch mal gar nicht schlafe.«

»Das könnte heute zutreffen. Ich bin nämlich gern hinter einer Spur her, solange sie noch warm ist … Und ich glaube bestimmt, der Verbrecher hält sich vorläufig in Berlin auf.«

»Wieso?« fragte der Maler. »Meinen Sie, daß er in Berlin den Arzt konsultieren wird?«

Der Kommissar nickte lebhaft:

»Das einmal – und dann hoffe ich, daß er irgendwelche Bekannte da hat. Vielleicht auch einen Hehler, dem er die Steine zu verkaufen versuchen wird – oder – wenigstens einen Teil davon.«

»Glauben Sie das?«

»Ja, denn die Edelsteinsammlung ist für ihn ein stets drohender Verräter. Er kann sie in seinem Koffer verschließen. Er kann sie vergraben – nirgends wird sie ihm Ruhe lassen. Er müßte denn ausgerechnet ein Maniakale sein, der für solch blitzendes, funkelndes Zeug eine Leidenschaft hat.«

»Sie meinen wie der Goldschmied in ›Madame de Scudery‹ von E. T. A. Hoffmann?«

»Ja. Das gibt es häufiger, als man meist annimmt. Schließlich ist es auch nur die Leidenschaft für Kleinodien, die den reichen Mann dazu bringt, mit Riesenopfern solche Sammlung anzulegen!«

»Und dann verkauft der Mörder sie nicht, glauben Sie?«

»Später wohl auch. Die Steine sind für ihn, wie gesagt, zu gefährlich. Auch wird das mitgeraubte Geld ja mal alle! Solche Menschen gebärden sich wie sinnlos, wenn sie die Tasche voll haben. Dadurch verraten sie sich so oft!«

Der Zug fuhr jetzt langsamer. Ueberall erglommen und blitzten aus der Finsternis Lichter. Die Häuserblocks wuchsen schwarz und gigantisch ins lichte Firmament, an dem die Sterne erglänzten. Und der hohe Ton der ihre Arbeit beendenden Stadt schallte dem Zug weit entgegen.

Die Reisegefährten nahmen ihre Handtaschen aus dem Netz, traten aus dem Abteil auf den Gang und, aus dem Zuge steigend, versanken sie in dem grauen, brodelnden Strom der Menschen, der den Bahnhof füllte.


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