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I.

Als Thekla de Ruyter vom lauten Pochen an der Tür erwachte, hatte sie das Empfinden, sie sei noch immer in dem großen Maschinenhause, das der Traum ihr vorgespiegelt, wo Riesenmaschinen unter Brausen und Sausen ihre Räder schwangen und wo Menschen, die man als Schatten sah, laut schreiend umherliefen.

Dann wurde dem jungen Mädchen, das mit dunklen, traumesschweren Augen in die gelbe Dämmerung ihres Schlafgemaches sah, allmählich die Situation deutlich: sie erkannte die Stimme der Zofe Lilli, die draußen vor dem Korridor vor ihrer Tür stand und laut rief:

»Gnädiges Fräulein! Gnädiges Fräulein, wachen Sie auf! bitte, wachen Sie doch auf!!«

Wiewohl sie sich noch immer von einer bei ihr sonst ungewöhnlichen Schlaftrunkenheit gefesselt fühlte, kam Thekla die Stimme des Mädchens doch seltsam ängstlich vor, daß ihr selbst etwas wie Furcht und Schreck an die Seele sprang. Aber mutig und entschlossen von Natur, überwand sie das sofort, war mit einem Schwung aus ihrem Bett und hatte, indem sie an die verschlossene Tür lief, ihr Morgenkleid aus heller Steppseide übergeworfen.

Dann öffnete sie.

Draußen, im hellen Licht, das aus der geöffneten Salontür auf den Korridor fiel, stand Lilli, ein feines Persönchen, mit der Zofenrüsche auf dem blonden Scheitel, in blendend weißer, getollter Schürze, die sie ganz umfing, und sah ihre junge Herrin angstvoll an.

»Die gnädige Frau sind immer noch nicht aufgestanden,« sagte sie und ihre Stimme klang fahl und farblos, »ich habe auch schon 'n paarmal angeklopft, aber gnädige Frau machen nicht auf …«

Thekla de Ruyter, deren schlanker Wuchs auch das lose Morgenkleid nicht verbarg, sah die Zofe aufmerksam an. Sie sah die Angst in diesem niedlichen Gesicht, das sonst hell und unbekümmert ins Leben lachte, und der Schreck kam wieder und machte, daß das große schöne Mädchen, dessen schwarze Haare, zu langen Zöpfen geflochten, über die Schultern hingen, äußerlich nur immer ruhiger wurde.

Ihr war's wie damals, wo ihr seit Jahren gemütskranker Vater in der Nacht, dieser furchtbaren Nacht, die ewig in Theklas Gedächtnis lebte, sich in seinem Zimmer, nachdem er eben noch der Mutter und ihr gute Nacht gesagt hatte, an der Türklinke erhängte. Thekla war damals erst acht Jahre alt, aber die gräßliche Begebenheit stand der heute Achtzehnjährigen noch ebenso lebhaft vor Augen wie dem Kinde, dessen mutiger Wille die ganz zerbrochene Mutter über die erste, wildeste Verzweiflung hinweghob.

»Sie hätten mich schon früher wecken sollen, Lilli!«

Mit diesen ernst beherrschten Worten trat Thekla an der Zofe vorbei auf den Korridor hinaus, ging an der Tür von Frau de Ruyters Boudoir vorüber und klopfte an das weißlackierte Holz der Schlafzimmertür.

Thekla klopfte wieder und noch einmal, aber nichts rührte sich drinnen.

In diesem Augenblick sah das große, dunkeläugige Mädchen, dessen Hautton einer ganz hellen, matten, warmgetönten Bronze glich, seine nun auch längst verstorbene Mutter vor sich, mit irren Augen, die Hände ins Haar gekrallt, aus dem Zimmer des Vaters herausstürzen und hörte ihr gellendes Schreien: »Er ist tot!, er ist tot!, er hat sich tot gemacht!«

Theklas Herz klopfte so laut, daß sie seinen Schlag zu hören meinte, aber äußerlich bewahrte sie eine vollkommene Ruhe. Sie sah ja, wie Lillis Gesicht stets blasser, der Mund des Mädchens immer schlaffer und haltloser wurde. Sollte sie um die Wette mit der Zofe zittern?

»Ist mein Vetter schon aufgestanden?«

In das Gesicht der Zofe kam etwas Abwehrendes:

»Herr de Ruyter … nein … ach ja, der Diener sagte heute früh: Herr de Ruyter wäre gestern abend mit dem Zehn-Uhr-Zug nach Berlin gefahren …«

Thekla hatte noch einmal stark an die Tür gepocht und den Namen ihrer Tante laut gerufen:

»Tante Amaranth! Tantchen! … wach' doch auf!«

Dann sagte sie:

»Sie müssen sofort telephonisch einen Schlosser bestellen, meiner Tante muß irgend etwas zugestoßen sein … ja, aber gehen Sie doch, Lilli, schnell! … gehen Sie!«

Die Zofe, in deren blauen Kinderaugen – sie war ja kaum siebzehnjährig – das helle Wasser stand, eilte den Korridor entlang und Thekla hörte sie auf der Diele den Hörer vom Fernsprechapparat abheben und hineinsprechen.

Das junge Mädchen selbst war von einem quälenden Gedanken erfaßt, der mit ihrer Herzensnot um die geliebte Frau rang, die dortdrin hinter der weißen Tür vielleicht vom Schlage getroffen, am Gebrauch ihrer Glieder, ihrer Stimme verhindert, ach vielleicht … nein, nein, das durfte, das konnte nicht sein! Das würde der liebe Gott nicht wollen! … Nun sie allein war, entfloh auch Theklas äußere Gelassenheit … Wenn die Tante von ihr ging, ihre liebste, beste Freundin, der einzige Mensch, den sie liebte, dann hatte sie ja niemand mehr! … Zwei große, glänzende Tropfen flossen dem stolzen Mädchen von der dunklen Wimper über die Wangen … Und mitten in dem großen Schmerz, den sie nahen fühlte, kam ihr wieder der Gedanke an den Vetter, bei dem sie auch im herbsten Weh weder Trost suchen noch finden würde.

Die Zofe kam wieder.

»Der Schlosser kommt sofort, gnädiges Fräulein … aber der Martin« – das war der Diener – »der hat einen Dietrich, vielleicht könnten wir den mal probieren?«

Thekla nickte hastig halb abgewendet, weil sie ihr Weinen nicht sehen lassen wollte, und die Zofe rief den Diener, der schon am Ende des Ganges stand.

Der glattgescheitelte, noch junge Mensch, der erst kürzlich vom Militär entlassen war, stand einen Moment in strammer Haltung vor dem Fräulein, ehe er sich an das Türschloß machte.

Dann sah Thekla und sie wunderte sich, daß sie das so genau beobachtete, als er vor der Tür niederkniete, wie sich die weißblaue feingestreifte Drelljacke über seinem breiten Rücken bei der Arbeit straffte; und sie horchte gespannt, als hätte ihr das Aufschluß geben können über ein dunkles Schicksal, auf das Klirren und Klappern am Schloß, das sich nicht öffnen wollte.

»Der Schlüssel steckt von innen,« sagte der Diener, sich mit von der Anstrengung geröteter Stirn im Knien umdrehend.

Indem klingelte das Telephon.

Thekla winkte der Zofe, sie solle hingehn.

Und die kleine Blonde flog davon, als könne sie nicht schnell genug fortkommen von dem, was sich hier grausend auftun sollte.

Sie kam wieder und sagte völlig mutlos, »der Schlosser kann erst in einer halben Stunde kommen, gnädiges Fräulein …«

Auch Thekla war's, als hole jemand von neuem zum Schlage gegen sie aus. Sie wollte eben dem Mädchen den Befehl geben, nach einem anderen Handwerker zu telephonieren, als der Diener meinte:

»Aber das Schlafzimmer der gnädigen Frau hat doch noch einen Eingang vom Boudoir aus, gnädiges Fräulein!« – »Ja …«

Thekla stand, wie beschämt … Was nutzte alle Selbstbeherrschung, wenn einem doch beim ersten Schreck die einfachste Ueberlegung verloren ging! … War denn bei den Männern die Seele wirklich so viel stärker und gefaßter oder war's nur, weil der Diener dem allen ferner stand, weil Schmerz und Angst ihn nicht ergriffen?

Sie stand schon vor der Tür zum Nebenzimmer, die auch verschlossen war.

Der Diener sah durchs Schlüsselloch, das war licht, der Schlüssel fehlte. Nun bekam er dies Schloß mit seinem Dietrich auch auf.

Die Knie bebten der schlanken Schwarzhaarigen, die noch immer in dem faltigen Morgenrock aus leichtgetönter Steppseide war, als sie jetzt die drei Schritt bis zur Portiere durchmaß, die das Boudoir vom Schlafzimmer trennte.

Die Portiere, die, sonst über der offenen Schiebetür gerafft, den Durchblick ließ von einem Raum in den andern, war herabgenommen und verschloß die Türöffnung gänzlich.

Aber Thekla däuchte es, als höre sie einen Laut aus Menschenmund, ein Seufzen, Aechzen dadrin …

Da riß sie den schweren Damast voneinander und stürzte fast hinein in das Schlafzimmer.

Doch an der Tür prallte sie zurück, wie von einem Stoß vor die Brust getroffen. Und hörte hinter sich einen lauten, jammernden Schrei …

Thekla sah sich nicht um. Sie reckte die Arme schwach nach beiden Seiten, mit zitternd offenen Händen, als wolle sie in die Luft greifen und dann sank sie langsam in die Knie auf den Teppich nieder.

»Tante« sagte sie schluchzend, »Tante! …«

Auf dem hellen Perserteppich, vor der prächtig geschnitzten Bettstelle und dem von Amoretten getragenen purpurnen Baldachin – die gelblichweiße Farbe des Persergewebes hatte jetzt überall fürchterliche, rote Flecken – saß eine Frau im Hemd mit einer zerrissenen, spitzenbesetzten Nachtjacke auf den Schultern und mit ungewöhnlich starken, fast ganz weißen Flechten, die nun von Blut durchtränkt, eine grausenerweckende Farbe hatten.

Die Frau mußte von einem Mordbuben in ihrem Bett überfallen sein, denn die Kissen waren über und über blutig! Dann war sie wohl herausgesprungen und niedergeschlagen worden. Später war sie wohl wieder, nachdem sie der Schändliche für tot liegen gelassen hatte, zum Bewußtsein erwacht, hatte sich aufgerichtet und saß nun, murmelnd und stöhnend, mit den schönen weißen Händen, deren Finger rot waren, über den Teppich durch das eigene Blut fahrend, aufrecht da … Sie hatte, das fühlte ihre Nichte gleich, unter den Streichen des Mörders den Verstand verloren.

»Liebe … Tante! …« sagte Thekla noch einmal und ihre Lippen konnten vor Zittern kaum die Worte formen.

Auf einmal vernahm sie das schreiende Wimmern der Zofe und einen Schreckensruf aus rauherem Munde. Die alte Köchin, die seit 30 Jahren dem Hause diente, ein echtes Mannweib, aber von einer goldenen Treue, war herzugekommen. Und da bekam Thekla auch ihre Besinnung wieder.

»Einen Arzt!« sie sagte es fast flehend, »sofort einen Arzt holen, Martin!«

Der Diener lief schon, als draußen die Türglocke ging.

Thekla war es wie eine Erlösung, als der Diener so schnell zurück kam und den alten Geheimrat Wildner, der ein Chirurg von Ruf war, hereintreten ließ.

Der Geheimrat war Hausarzt bei Frau de Ruyter. Er war gerade im Begriff, ihr einen Besuch zu machen und fand seine alte Patientin nun zu Tode getroffen, in ihrem Blute schwimmend.

Sein gutmütiges Gesicht mit dem ergrauten Schnurrbart, der den ganzen Mund verdeckte, war sehr bestürzt. Aber er hatte zu viel im Leben schon gesehen, um trotz des furchtbaren Anblicks nicht doch seine Fassung zu verlieren.

»Aufheben! … aufs Bett legen, die alte Dame!« sagte er.

Das taten der Diener und die Köchin Minna; Thekla hielt die armen blutigen Hände der so schwer Getroffenen, die in der Luft umherfuhren, als gehörten sie gar nicht zu dem schauerlich mißhandelten Körper.

Dann eilte der Diener wieder fort. Der Geheimrat hatte ihm eine Weisung an seine Klinik gegeben, die hier in dem schönen Luftkurort viel Zuspruch fand. Er sollte den jungen Assistenten herüberbitten und die Instrumente, die zu einer schwierigen Operation nötig waren, mitbringen.

»Ich darf Ihnen nicht viel Hoffnung machen, mein liebes, gnädiges Fräulein,« hatte der Professor zu der stillweinenden Thekla gesagt, »denn auch ohne die Sonde eingeführt zu haben, sehe ich an dem Benehmen der merkwürdigerweise wachen Patientin, daß es sich um eine komplizierte Fraktur des oberen Schädels handelt. Die Schädeldecke ist arg zertrümmert, soweit ich bisher erkennen kann, mit einem scharfen Instrument. Mit solchen Verletzungen ist das Eindringen von Knochensplittern in die Gehirnmasse notwendig verbunden – darin liegt die größte Gefahr …«

»Aber sie lebt … sie lebt doch!« meinte Thekla verzweifelt.

»Wo ist denn Ihr Herr Vetter?« fragte der Geheimrat statt der Antwort.

Thekla fiel das Sprechen schwer, doch sie zwang sich:

»Mein Vetter … der ist … er ist nicht hier. Ach!« sie legte die Hände an ihr Gesicht und man sah, wie ihre Kinnbacken sich krampfig bewegten. »Nun hab' ich keinen Menschen mehr auf der Welt!«

»Armes Kind!« sagte der Professor einfach. Die Verletzte, die sich heftiger bewegte, zog seine Aufmerksamkeit auf sich; sie fing wieder an, irre zu reden. Und seltsamerweise sprach sie französisch.

Thekla klärte das auf.

»Mein Onkel und meine Tante haben viele Jahre in Paris gelebt. Sie wissen ja, der Edelsteinsammlung wegen!«

»Die Edelsteinsammlung … ja. Wo ist die eigentlich? Herr Gott, wir hätten ja schon längst die Polizei benachrichtigen müssen!« Der Geheimrat klopfte sich an die Stirn. »Da ist jede Minute wertvoll … Das müssen Sie tun, liebes Fräulein! … Das heißt, Sie werden sich wohl erst ein bißchen fertig machen müssen, meine Liebe!« Und der alte Herr schielte mit einem leichten Lächeln nach dem Kleid des Fräuleins, das sich an der Brust ein wenig verschoben hatte und den Ansatz eines reizenden Busens frei werden ließ. Thekla zog gleichmütig die flauschige Seide zurecht.

»Kann ich denn die Tante allein lassen, Herr Geheimrat?« fragte sie

Der Professor beruhigte Thekla wegen der Verletzten und setzte hinzu:

»Mein Assistent wird gleich hier sein …«

Da erst ging Thekla in ihr Schlafzimmer. Dort ließ sie das Telephon umstellen und klingelte die Polizeiverwaltung an, die hier aus dem Amtsvorsteher, einem Sekretär und dem Amtsdiener bestand.

»Ich werde sofort bei Ihnen sein, gnädiges Fräulein,« rief der Amtsvorsteher, ein invalider Oberleutnant. Man hörte seinem Tone an, wie sehr ihn dieses in seinem Bezirk begangene Verbrechen erregte. »Das ist ja schrecklich! … Jedenfalls gestatten Sie mir, mein gnädiges Fräulein, Ihnen schon jetzt mein herzlichstes Mitgefühl auszusprechen!«

Thekla bedankte sich und, als sie dann ihr Kleid anzog, ein lichtblaues aus feiner Leinewand mit mattierter Silberbordüre, da fühlte sie plötzlich eine so große, wehevolle Mattigkeit in den Gliedern, eine so schreckliche Mutlosigkeit, daß sie sich auf den kleinen, armlosen Stuhl vor der Spiegeltoilette niederließ und in haltloses Schluchzen ausbrach.

Es klingelte draußen – sicherlich der Assistent des Geheimrats. Das gab Thekla ihre Fassung wieder.

Sie trat in das vom Blut der lieben Frau gerötete Gemach, als eben der Geheimrat hatte Wasser bringen lassen, heißes Wasser in einer großen Wanne, und selbst hinausging, um eigenhändig seine Instrumente auszukochen

»Sie können inzwischen die Patientin vorsichtig bis zur Hüfte entkleiden mit Hilfe des Fräuleins, lieber Höffner! … Und Sie beide da,« der Professor wendete sich an die in Tränen gebadete Zofe und an die alte Köchin, die ihren Schmerz zwar tapfer bekämpfte, aber auch in ihrer Kraft wie gelähmt war, Sie gehen ruhig an ihre Arbeit!«

Die beiden schlichen hinaus, der Professor schloß hinter ihnen die Tür.

Und der junge Arzt, der sich mit einem kurzen, trockenen: »Dr. Höffner« und einer abgehackten Verbeugung Thekla vorgestellt hatte, schritt vorauf an das Bett, das mit der schmalen Kopfseite zur Fensterwand stand und dadurch guten Raum gab, um sich zu beiden Seiten zu betätigen.

Es erwies sich aber unmöglich, der noch immer in wirrem Gemurmel vor sich Hinlallenden die Spitzenjacke und das Hemd auszuziehen, um so mehr, als Dr. Höffner jedes Anheben des Körpers der ziemlich korpulenten Frau vermeiden wollte. Da holte Thekla rasch eine Schere und schnitt der Tante die Wäsche vom Leibe.

»Von Ihnen kann man sich helfen lassen«, sagte der Arzt in rauher Anerkennung. Und Thekla, deren Stolz wenig auf Fremder Lob und Tadel gab, wurde rot und, weil sie es selbst merkte, noch verlegener.

Da kam der Professor zurück. Er nahm an der Tür der Köchin die dampfende Wanne mit den Instrumenten ab und gab sie dem herzueilenden Assistenten, die alte Minna wiederum aussperrend.

»Und nun, mein liebes Fräulein, möchte ich Sie bitten, uns ebenfalls zu verlassen … Was wir jetzt zu tun haben das ist nichts für Frauennerven!«

Thekla ging, schweren Herzens. Sie fühlte selbst, daß sie dem Anblick dessen, was geschehen mußte, nicht gewachsen war.

Im Boudoir der Tante stand sie lange still. Irgendwer hatte die Fenster geöffnet, draußen lachte die goldene Sonne, ein junger Maientag und Amselruf, wie die Verkündigung einer jubelnden Frühlingsfreude drang zu ihr hinein.

Seit jenem ersten, schweren Erleben im Elternhause, seit dem jähen Tode des Vaters, dem die Mutter gebrochenen Herzens so bald folgte, hatte Theklas Leben einem ruhigen Strom geglichen, der in friedevoller Landschaft, zwischen sanften Gefilden und durch bunte Städte dahinfließt. Der Reichtum ihrer Verwandten hatte sie umhegt und von allem Trüben ferngehalten, hatte ihr die schönsten Gaben des Daseins, wie ein Sklave seiner Königin, vor die Füße gebreitet … War sie glücklich gewesen? …

Zufrieden wohl, aber auch glücklich? …

Sie liebte die Frau, um deren Leben ihr Herz jetzt zitterte, wie ihre Mutter: vielleicht noch mehr, denn mit dem Andenken an die Heimgegangene verbanden sich immer die düsteren Bilder, die ihre Kindheit überschattet hatten …

Ach, vielleicht waren es auch diese leidvollen Erinnerungen, die heute an diesem Schreckensmorgen ihre Seele so ganz daniederrangen …

Thekla hörte das gedämpfte Sprechen der Aerzte nebenan, sie vernahm das Klirren der stählernen Instrumente, die über ein teures Leben entschieden, und noch unter der Schwelle des Bewußtseins wehrte sich ihr Geist gegen eine Vorstellung, die doch näher und immer näher in ihr Erkennen rücken wollte.

Da ging draußen die Glocke abermals und die Zofe mit ihren vom Weinen geröteten Augen meldete den Herrn Amtsvorsteher v. Dose (der sich weit lieber »Herr Oberleutnant« nennen hörte) und der der Meldung auf dem Fuße folgte.

»Ich muß tausendmal um Entschuldigung bitten, mein gnädigstes Fräulein, meiner Formlosigkeit wegen.« Die Verbeugung war trotz seines etwas steifen linken Beines einwandfrei. »Aber in solchen Sachen ist jede, auch die geringste Verzögerung oft verhängnisvoll! … Darf ich vor allen Dingen einmal zur Inaugenscheinnahme des Tatbestandes schreiten? Wo ist die Verletzte, wenn ich fragen darf?«

Thekla legte ernst den Finger an die Lippen und sprach, ihre Stimme im Gegensatz zum Amtston des Polizeigewaltigen noch tiefer dämpfend, indem ihr schöner, rassiger Kopf sich nach seitwärts der Tür zuneigte:

»Meine Tante wird eben operiert …«

In diesem Augenblick klang des Professors Stimme aus dem Nebenzimmer.

»Wollen Sie mir bitte nochmals heißes Wasser besorgen lassen, liebes Fräulein, und dann frische Wäsche … Bett- und Leibwäsche … aber bitte nicht Sie selbst, gnädiges Fräulein, nicht Sie … das ältere Frauenzimmer soll es bringen!«

»Einen Augenblick« sagte Thekla und ging, während der Amtsvorsteher rasch fragte: »Wohl Herr Geheimrat Wildner? mit einem »Ja, der Herr Geheimrat!« hinaus.

Als sie wieder hereintrat, hatte sich Herr v. Dose, übrigens mit seinem flachsblonden durchgezogenen Scheitel, dem tadellosen Sitz des knappen Jacketts und den vom Steg straffgezogenen Beinkleidern noch ganz der ehemalige Offizier, mit der Einrichtung des Boudoirs eingehend beschäftigt. Er stand vor einem zurückgezogenen Brokatvorhang, der ein massives, in die Wandung eingebautes Geldspind sehen ließ.

»Der Geldschrank ist unversehrt«, sagte er und der ins Fenster fallende Sonnenschein funkelte in seinem Einglas. »Aber wo sind die Schlüssel? … Uebrigens hat der Schrank ein Zahlenschloß. Wissen Sie die Ziffer, meine Gnädige?«

»Ja, wir haben die Zahl letzthin gemeinsam umgestellt, Herr Amtsvorsteher, meine Tante und ich.«

»Geschah das aus einer besonderen Veranlassung?«

Thekla zögerte:

»Ja … aber Tante wollte nicht, daß darüber gesprochen werden sollte …«

Die Hacken zusammennehmend, mit einer abermaligen leichten Beugung des breitbrüstigen Oberkörpers, sagte der ehemalige Dragonerleutnant und seine Stimme hob sich und schnarrte wieder ein bißchen:

»Das dürfte für die jetzige Situation keine Gültigkeit haben, Gnädigste! … Wie die Dinge hier liegen, entscheidet allein die Behörde, ob etwas gesagt werden muß oder nicht … und in diesem Fall … ich bedaure außerordentlich … aber ich kann da keinerlei Rücksichten walten lassen …«

Dem jungen Mädchen schien, als hätte sich all das einfacher und kürzer sagen lassen. Thekla erwiderte:

»Wenn Sie es verlangen, Herr Amtsvorsteher, natürlich! – Meine Tante glaubte – vor einem Monat etwa – es fehlten ihr zehntausend Mark aus dem Schranke.«

»Zehntausend Mark? … Und das hat Ihre Frau Tante, die gnädige Frau meine ich, das hat sie nicht der Behörde angezeigt?«

Thekla lächelte ein wenig. Diese Ehrfurcht vor dem Gelde belustigte sie.

»Nein, Tante wollte niemand verdächtigen … Sie hat sich, glaub' ich, schließlich, um ganz frei zu werden von dem Verdacht, der sie natürlich in ihrer unendlich noblen Gesinnung sehr quälen mußte, sie hat sich schließlich eingeredet, es wäre nur ein Irrtum ihrerseits. Die 10 000 Mark wären gar nicht mehr im Schrank gewesen.«

»Führte denn Ihre Frau Tante keine Bücher, wenn ich fragen darf?«

»Doch wohl … aber die Eingänge und Ausgänge an Geld und Geldeswert sind in diesem Hause sehr bedeutend … Allein die Edelsteinsammlung …«

»Ah! … Die Edelsteinsammlung … was ist mit der?«

»Ja, die bekannte de Ruytersche Sammlung, die von meinem Onkel begonnen wurde, die er, wenn ich so sagen darf, zu einer Art von Berühmtheit in der ganzen Welt gemacht hat! Die hat Tante Amaranth weitergeführt, das heißt, sie hat weitergesammelt wie ihr seliger Gatte.«

»Das muß doch aber ein Vermögen kosten!«

»Wenn so ungeheure Vermögen vorhanden sind? … Jedenfalls war Tante ebenso passioniert für ihre Steine, wie mein seliger Onkel.«

»Und wo befindet sich diese Sammlung? … etwa hier in diesem Schrank?«

Der frühere Oberleutnant hatte sich wieder dem dunkelglänzenden Stahlschrank zugewendet und sah starr, wie hypnotisiert auf den Safe, der solche Riesensummen in kleinen, blitzenden, glitzernden Steinchen bergen sollte.

Dann, als käme ihm das selbst zum Bewußtsein, meinte der Amtsvorsteher nervös, unvermittelt:

»Aber die Schlüssel, mein gnädiges Fräulein, wo sind die Geldschrankschlüssel?«

»Die Schlüssel? Es sind zwei. Die bewahrte Tante für gewöhnlich in einer kleinen silbernen Kassette auf, die in ihrem Schlafzimmer auf dem Toilettentisch steht.«

»Und haben Sie schon nachgesehen, gnädiges Fräulein, ob sie darin sind?«

»Nein«, sagte Thekla und der Unmut klang deutlich aus ihrer Stimme. »Ich hatte wirklich bisher Wichtigeres zu tun, als an solche Dinge zu denken!«

»Ja, ja … ganz recht …« Herr v. Dose zog den fahlblonden, an den Enden emporgesträubten Schnurrbart eifrig durch die Finger seiner linken, mit einem großen Wappenring geschmückten Hand. »Ich meine nur, es ist doch von einer ungeheuren Wichtigkeit!« … »Uebrigens … irgendeinen Verdacht … das heißt … natürlich … ich meine eine Andeutung, eine Ahnung, wer der Täter sein könnte –, das haben Sie natürlich auch nicht, gnädiges Fräulein?«

Es war nur der Bruchteil eines Augenblicks, in dem Thekla zögerte, die Frage des Amtsvorstehers zu verneinen. Der aber war in seinem, wie er selber meinte, eminenten Spürtalent zu sehr befangen, als daß er auf anderes viel hätte achten sollen. Recht ungeduldig sagte er:

»Wir werden demnach das Ende der Operation abwarten müssen …«

Der Amtsvorsteher trat ans Fenster. Thekla ordnete etwas in der Glasvitrine an den bunten Porzellanen – eine schier peinliche Stille.

Dann sagte Herr v. Dose unvermittelt:

»Gnädiges Fräulein, wo ist eigentlich Herr de Ruyter?«

»Mein Vetter? … Der ist, wie ich eben vom Personal hörte, gestern abend um zehn Uhr nach Berlin gefahren.«

»Was er wohl öfter tut, nicht wahr?«

Thekla nickte.

»Nun ja, ein junger Mann in so guten Verhältnissen.« Mit einem verstehenden Lächeln fügte der ehemalige Offizier hinzu: »Ihre Frau Tante hat den jungen Herrn gewiß immer reichlich mit Mitteln versehen … Hier im Klub, wo ja, wenn wir auch von der Polizei davon nichts ahnen sollen, wo ja doch immer ein bißchen gejeut wird, da ging sogar mal die Nachricht, er sei recht erheblich angeschossen – pardon, gnädiges Fräulein! – Es hieß damals, Ihr Herr Vetter sei recht gehörig gerupft worden. Na, wir haben dann die beiden Habichte verjagt. Uebrigens ich meine … 'n paar alte gewerbsmäßige Spieler, die Herrn de Ruyter damals in der Mache hielten. Sie wohnten im Hotel ›Waldfrieden‹ und traten wie die Fürsten auf … Die haben wir auf den Schub gebracht, und dann war wieder Frieden im Lande … Bloß Ihr Herr Vetter … ich meine … der hat damals arg bluten müssen … ja wie so junge Leute sind! …«

Herr v. Dose sah fast träumerisch hinaus in den blauen Sonnenglast. Er dachte der eigenen jungen, flott verlebten Tage, deren Ende allerdings Grau in Grau gewesen war und ihn ein Elend hatte kennenlernen lassen, an das er heute, wo ein auskömmlicher Posten, eine gesund fundierte Ehe ihn behaglich leben ließen, nur mit Schaudern dachte.

Theklas Gedanken waren ganz mit dem Vetter beschäftigt. Die Erwähnung jener Spielverluste Wolf Starks brachten ihr häßliche Szenen ins Gedächtnis. Damals war das unerquickliche Verhältnis, in dem die Tante und daher auch sie selbst zu Wolf Stark standen, nahezu unerträglich geworden. Tante Amaranth, deren vornehme Güte nicht zu erschöpfen schien, war eines Tages von ihrem Neffen vor Forderungen gestellt worden, die selbst ihr bedenklich erscheinen mußten. Sie weigerte sich zum erstenmal die Summen anzuweisen, die Wolf Stark im Spiel vergeudet hatte, und die Folge war eine Auseinandersetzung zwischen ihm und der Tante, die – wenn sie wollte, von einer außerordentlichen Energie – ihren Verwandten bei einem Haar aus dem Hause gewiesen hätte … Nur Theklas Bitten verhinderten das Äeußerste, und des jungen Mädchens Herz war so wenig bei diesem Eintreten für Wolf Stark gewesen.

Als Thekla sechzehn Jahre alt war und Wolf zweiundzwanzig zählte, hatte Tante Amaranths damalige Zofe, ein altjüngferliches Mädchen, plötzlich unter unerquicklichen Auseinandersetzungen das Haus verlassen. Thekla war schon damals ein so ernster Mensch, daß die Tante ihr die Ursache nicht verbarg. Das hatte den ersten Anlaß zur Entfremdung zwischen den beiden Damen und Wolf Stark gegeben.

Dann – die Zeit hatte die Verstimmung und den Groll wieder ein bißchen eingeebnet – fing Wolf Stark an, sich auffallend für seine schöne Kusine zu interessieren. Und so deutlich ihm Thekla die Hoffnungslosigkeit seiner Bemühungen zeigte, die Leidenschaft, die in Wolf Starks Herzen brannte, brach immer unverhüllter hervor. Thekla vermied jedes Alleinsein mit ihm. Er aber verstand es immer wieder, solche Momente herbeizuführen. Dann warf er sich vor ihr auf die Knie, redete sinnloses Zeug und ängstigte sie mit seinen Drohungen, daß er das Leben ohne ihre Liebe nicht länger ertragen könne, daß er ein Ende machen würde, wenn sie ihm nicht wenigstens einen Kuß gäbe, und daß, was ihm nicht vergönnt wäre, auch niemals ein anderer sein eigen nennen sollte.

Theklas schönes Gleichmaß ging ganz verloren. Sie wurde nervös und verlor am Ende auch die Sicherheit ihres Entschlusses. Als Kind schon von einem starken Pflichtgefühl, wurde ihre Seele vor den tränenvollen Bitten dieses leidenschaftlich drängenden Menschen allmählich schwankend. War es ihr vielleicht bestimmt, diesen wild und verzweifelt Bittenden, den eine ewige Unrast bei keiner Beschäftigung hatte bleiben lassen, der mit zweiundzwanzig Jahren die ganze Welt umfahren hatte und sein abenteuerliches Leben nun auch hier in Reichtum und Bequemlichkeit nicht zur Ruhe brachte – war es vielleicht Theklas Bestimmung, diesem zügellosen Geist mit ihrer Liebe einen festen Halt zu geben? … Das unter der kühlen Außenseite schwärmerische Herz des noch so jungen Mädchens sah da plötzlich eine große, schöne Aufgabe vor sich und mit der Wendung, die in ihrem Gefühlsleben vorging, schwand ihr starrer Widerstand gegen Wolf Starks Werbung.

Aber kaum hatte er sie das erstemal in seine Arme genommen und wie ein Rasender geküßt, da brannte Thekla das Gewissen wie Feuer! Sie hatte keine Seligkeit dabei empfunden, wie sonst etwa eine Braut. Nur ein Gefühl der Beschämung, eine Demütigung ihres großen Stolzes blieb zurück. In ihrer Not wußte sich Thekla keinen Rat, als sich der Tante anzuvertrauen.

Aber auch die fand sich da nicht zurecht. Ihr frauliches Gefühl wollte zwar nichts wissen von einer solchen Verbindung, aber ihrer Herzensgüte war Theklas Nachgeben aus so menschlich schönem Grunde voll verständlich. So lebten beide Frauen eine Woche fast in schwerem inneren Zweifel, als Wolf Stark selbst sich durch seine hemmungslosen Wünsche die Entscheidung schuf.

Die neue Zofe verließ eines Tages plötzlich ohne Abschied das Haus und schrieb von ihrem Heimatsort an Frau de Ruyter, es sei ihr unmöglich gewesen, diese Sache persönlich zu erörtern; aber sie wäre ihrer selbst nicht mehr sicher gewesen vor den Liebesanträgen des jungen Herrn, der ihr sogar die Ehe versprochen hätte. Nicht dumm genug, so etwas zu glauben, fühle sie sich doch zu schade, als Spielzeug für Herrn de Ruyter zu dienen.

Diesen Brief gab Frau de Ruyter ihrer Nichte, die dann für ein paar Wochen zu entfernten Verwandten reiste. Währenddem sagte Frau Amaranth ihrem Neffen, was zu sagen war. Der leugnete alles. Als indessen Thekla heimkehrte, war zwischen ihr und dem Vetter von Liebe keine Rede mehr. Sie gingen kühl und förmlich nebeneinander her und dem Mädchen schlich das Bewußtsein nach, daß Wolf Starks einstige Passion sich in heimlich drohende Feindschaft gewandelt habe.

So war's ihr fast lieb, daß er nicht zugegen war in dieser schweren Stunde. Aber gerade weil sie sich nicht mehr verstanden, hütete sie sich erst recht, irgendwie Ungünstiges über ihn zu sagen. –

Nebenan war das Klirren der Instrumente verstummt. Die beiden Aerzte sprachen noch leise miteinander. Jetzt unterschied Thekla auch Minnas, der Köchin Stimme, die sich bemühte, ihren rauhen Ton zu dämpfen.

Die Tür ging auf. Der Geheimrat und nach ihm der junge Arzt traten heraus.

Sie begrüßten den Amtsvorsteher, dann wandte sich der Professor an das junge Mädchen. Und Theklas Augen hingen in heißer Angst an seinem Munde.

Die Verletzungen seien nicht so schwer, als er anfänglich gefürchtet habe. Besonders läge eine Splitterung des Schädelbeins, die er erst annehmen zu müssen geglaubt hätte, nicht vor. So sei denn von einer augenblicklichen Lebensgefahr nicht zu sprechen; ob aber Frau de Ruyter jemals wieder zum vollen Bewußtsein ihrer selbst erwachen werde, das sei fraglich. Derartige Verletzungen des Großhirns hätten bedauerlicherweise oft die Vernichtung des Intellekts zur Folge. Vorläufig liege die Patientin in der Narkose. Aeußerste Ruhe und Schonung sei geboten. Im übrigen werde er selbst von Berlin her eine zuverlässige Pflegerin beordern. Bei der Schwere des Falles erscheine das unerläßlich.

Ueber Theklas Wangen rannen die Tränen.

Der Geheimrat trat an sie heran und nahm ihre beiden Hände und drückte sie sanft zwischen den seinen.

»Ja, mein liebes, gutes Kind, da hat Ihnen der Himmel eine schwere Prüfung auferlegt! Aber wir Menschen sind ja zum Leiden geboren, das weiß keiner besser als der Arzt, und wir überstehen alle viel mehr, als wir glauben … Verlieren Sie den Mut nicht, liebes Fräulein, es kann sich noch alles zum Besten kehren!«

Dem Amtsvorsteher war die Rede, die er in guter Haltung mit anhörte, viel zu lang. Er brannte darauf, in das Mordzimmer hineinzukommen.

Aber der Geheimrat ließ ihn nicht weiter, als bis an die geöffnete Tür.

»Die Kranke kann jeden Augenblick aus dem Chloroformrausch erwachen, verehrter Herr Oberleutnant, dann darf nichts sie beunruhigen! … Wenn später die Behörde den Tatbestand festgestellt wissen will, so bin ich und Fräulein de Ruyter da … Die ganze, gräßliche Szene dadrin, die hat sich uns so eingeprägt, daß wir das unmöglich jemals vergessen können!«

»Ja, aber die Schlüssel, Herr Geheimrat, die Geldschrankschlüssel!«

»Sind die da drin im Zimmer?«

Der Geheimrat deutete mit dem Daumen rückwärts über die Schulter.

»Ach, zu dem da?«

Und er trat an das verschlossene Geldspind.

»Nun, da müssen wir mal sehen! … Liebes Fräulein, Sie machen das am besten!«

Thekla ging in das Zimmer hinein, sie ging so leise an das Bett der Schlafenden und sah mit einer unendlichen Liebe in das wachsbleiche Gesicht der Ueberfallenen, deren armer Kopf, von Mullbinden ganz umwickelt, kein Leben mehr verriet. Sie wollte sich niederbeugen, die wunde Frau küssen, aber in ihrem Rücken klang das warnende »Sst!« des Geheimrats.

Als Thekla mit dem silbernen Kästchen in der Hand wieder ins Boudoir trat, hörte sie den Assistenten eben noch sagen:

»Wenn die Patientin nicht so einen starken, bei einer älteren Frau ganz ungewöhnlichen Haarwuchs hätte, so wäre sie keinesfalls mit dem Leben davongekommen.«

Aber Herr v. Dose hörte dem Arzt kaum zu, er trat dem jungen Mädchen entgegen und nahm ihr das Kästchen mit einer fast unhöflichen Hast ab.

»Sie wissen ja doch nicht, wie es zu öffnen ist, Herr Amtsvorsteher,« sagte Thekla mit leisem Befremden.

»Ja, ganz recht, gnädiges Fräulein verzeihen, aber der begreifliche Eifer in so einer Sache … ich meine … wollen Sie, bitte, so freundlich sein!«

Thekla drückte auf eine Blumenknospe im Mittelbukett des silbergetriebenen Schmuckstücks und der Deckel sprang auf. Selbst sehr überrascht sagte sie:

»Die Schlüssel sind drin!« … »merkwürdig« … sind wirklich drin? … ja? … der Amtsvorsteher drückte das Monokel fester, »na da bin ich denn doch aber gespannt!«

Er hatte die Schlüssel schon in der Hand und war mit einem Schritt beim Geldschrank.

Thekla lächelte, der Geheimrat ebenfalls, nur Dr. Höffners Gesicht blieb unbewegt.

Das obere Schloß, das, geöffnet, die Sicherung des Hauptschlosses erst zurückspringen ließ, hatte der Amtsvorsteher offen, aber der Hauptschlüssel ging nicht in die Oeffnung.

»Ah! … richtig, die Stellzahlen … Verehrtes, gnädiges Fräulein, ich darf Sie wohl bitten!«

Thekla gab die Zahl an. Herr v. Dose stellte richtig ein, der Schrank ließ sich aufmachen.

Alle standen sie davor, als die mächtige mit dreifachem Stahl gepanzerte Tür aufging. Selbst Dr. Höffner blickte neugierig hinein in die Fächer, die nichts enthielten außer einigen Geschäftsbüchern und einer Geldschwinge mit etwas kleiner Münze und ein paar Scheinen.

»Und die Edelsteinsammlung?« fragte Herr v. Dose.

Aus Theklas Gesicht, das leidvoll genug von dieses Tages schlimmen Schlägen sprach, war der letzte Blutstropfen gewichen.

»Die Sammlung ist fort,« sagte sie langsam, mit zitternden Lippen. »Hier unten in dem großen Fach … da hat sie gestanden. Es war ein mit schwerem spanischen, goldgepreßten Leder überzogener Kasten, auch eine antike Arbeit, etwa einen halben Meter lang und ebenso breit und vielleicht so hoch.« Sie zeigte es mit ihren schlanken Händen. »Innen hatte er sechs Einsätze, der eine mit grünem Samt ausgeschlagen, der andere mit rotem, einer mit lila, einer mit weißem und einer mit schwarzem. Das unterste Fach bestand wieder aus einer Anzahl von besonderen Kästchen, die alle mit einem Schnappschloß versehen waren, wie die Etuis bei den Juwelieren. Darin befanden sich die ganz seltenen Stücke der Sammlung …«

»Und Sie wissen bestimmt, daß Ihre Frau Tante den Kasten mit den Edelsteinen wieder hier 'reingestellt hat?«

»Aber das ist gar keine Frage, Herr Amtsvorsteher … Tante ging ja nicht schlafen, ohne ihre Steine noch einmal anzusehen! … Das war ihre schönste Freude …«

»Und gestern abend hat sie auch …?«

»Gewiß, Herr Amtsvorsteher, gestern wie alle Tage.«

»Mir scheint doch, Herr Oberleutnant,« ließ sich der Geheimrat jetzt vernehmen, »man sollte vor allen Dingen das Landratsamt in Dramburg und die dortige Staatsanwaltschaft benachrichtigen … Das ist doch ein Kapitalverbrechen! … Und die Umstände sind derart … da wird man kaum mit unserem guten, alten Amtsdiener Mahnke auskommen. Auch Gendarm Tappert ist da wohl nicht ausreichend!«

Des ehemaligen Dragoneroffiziers Haltung straffte sich noch mehr:

»Nun, Herr Geheimrat, ich meine … vor allen Dingen bin ich doch selber auch hier! … Selbstverständlich! Gewiß! Die Staatsanwaltschaft in Dramburg muß tunlichst bald benachrichtigt werden … und meinen direkten Vorgesetzten, den Herrn Landrat, werde ich selbst gleich anläuten. Aber die ersten Erhebungen in der Sache, die mache ich! Dafür bin ich zuständig!«

»Ich habe mir keinen Augenblick an Ihrer Kompetenz zu zweifeln erlaubt, Herr Amtsvorsteher,« sagte der Geheimrat kurz und nicht mehr ganz so freundlich. »Was ich nochmals betonen will, ist das: Dadrin in dem Zimmer, das ja übrigens die Bezeichnung ›Mordzimmer‹, wie Sie es vorhin nannten, gottlob noch nicht verdient – da darf nichts unternommen werden! Das Leben meiner Kranken, die nebenbei eine der verehrungswürdigsten Frauen ist, die ich in meinem langen Leben kennengelernt habe – Frau de Ruyters Leben hängt von der absoluten Stille und Ungestörtheit ab, die sie umgeben muß! Und ich mache Sie, mein liebes Fräulein, Sie mache ich dafür verantwortlich, daß Sie mir ohne meine ausdrückliche Erlaubnis niemand in das Krankenzimmer hineinlassen! … Die Pflegerin wird, denke ich, ihren Dienst heute noch antreten … So lange, gnädiges Fräulein, übernehmen Sie selbst die Pflege! … Ich werde Ihnen gleich noch das Nötige darüber sagen.«

Während Professor Wildner dem jungen Mädchen seine Anordnungen erklärte, stand Herr v. Dose etwas ärgerlich und mit der Entwicklung der Angelegenheit nicht ganz einverstanden beim Geldschrank, dessen Schloß und innere Einrichtung er einer umständlichen Besichtigung unterzog.

Dann empfahl er sich mit einer höflichen, aber gehaltenen Verbeugung.


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