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Der Sommerabend lag über der Kleinstadt, als Dr. Splittericht und der Geheimrat auf die Straße traten.
Jetzt, nach Feierabend, hatte sich, wie in einem Ameisenhügel, wenn des Wanderers Stock hineinstößt, alles hierher gezogen. Der große Platz war noch immer voller Menschen, die etwas Neues über das rätselhafte Verbrechen an der reichen Frau wissen wollten, die sie alle kannten und die durch eine stille Wohltätigkeit sich manches Herz geneigt gemacht hatte.
Die Uhr der Kirche, um deren ragende Turmspitzen noch der letzte Schein der Abendsonne flammte, die selbst schon hinter die Häuser gesunken war, schlug mit ihrer großen, unabänderlichen Glockenstimme Sieben.
Emporsehend sagte der Geheimrat:
»Was man doch in einem Tage alles erleben und wie sehr man seine Ansicht in kurzer Zeit ändern kann! Ich zweifle jetzt keinen Augenblick mehr daran, daß Wolf Stark um das Verbrechen wußte und daß er es war, der die Opiummischung in den Wein getan hat …«
»Vielleicht«. sagte Dr. Splittericht. »Dafür spricht wenigstens, wie vorsichtig er auf den Busch klopfte und wie zufrieden er schien, daß wir nichts Bestimmtes festgestellt haben wollten …«
»Bei der Gelegenheit hat die arme Thekla unsern Verdacht gemerkt …«
»Sagte Sie es Ihnen, Herr Geheimrat?«
»Nein, aber wie ich mit ihr im Krankenzimmer stand, da faßte sie plötzlich meine Hand und schluchzte: »Soll denn immer noch mehr Unglück über unser Haus kommen?!« – Ich hab' sie natürlich beruhigt, viel Zeit war ja nicht, aber … ich … ich bin doch im Grunde selbst sehr unruhig … Können wir es eigentlich verantworten, Herr Kommissar, das Fräulein und ebenso auch die Tante über Nacht in dem verdammten Hause allein zu lassen?«
Der Kommissar schüttelte den Kopf:
»Ich hab' das schon erwogen … und bin aus diesen, wie aus andern Gründen zu dem Entschluß gekommen, mich selbst da einzuquartieren … Ich wollte das nur erst mit Ihnen besprechen, Herr Geheimrat. Sie sind wohl am ehesten imstande, das dem Fräulein plausibel zu machen, denn ich denke mich heute nacht zwischen ihrer Schlafstube und dem Krankenzimmer aufzuhalten, im Boudoir der Frau de Ruyter – wovon natürlich außer dem Fräulein und uns beiden niemand etwas wissen darf.«
»Sie denken: der andere kommt heute nacht wieder?«
»Kann man das wissen? … Wenn es sich um ein gemeinsames Verbrechen handelt, und davon bin ich überzeugt! – so muß doch irgendeine Verständigung zwischen den beiden erfolgen … oder vielleicht sind es auch noch mehr, die dabei waren …«
»Wann wollen Sie denn da sein … bei de Ruyters mein' ich?«
»Etwa gegen zehn Uhr … ich komme von hinten durch den Garten und das Gewächshaus Ich habe mich da, während wir auf der Diele standen, ganz gut umgesehen … Fräulein de Ruyter soll nur die Tür, die ins Glashaus führt, offen halten!«
Der Geheimrat dachte nach:
»Um zehn. Bis dahin wird die Schwester aus Berlin sicher da sein – ich erwarte sie mit dem Zug 8 Uhr 50 … Damit hat ja Fräulein Thekla schon eine gewisse Sicherheit …«
»Bei mir kann es allerdings, wenn etwa eine Umstellung durch die Herren vom Gericht eintritt, auch leicht etwas später werden«, gab Dr. Splittericht zu bedenken.
»Na, ganz egal. Wenn die Pflegerin heute abend nicht mehr kommen sollte, dann bleib' ich eventuell selber die Nacht über da … oder man könnte auch die Köchin, die ein ganz robustes Frauenzimmer zu sein scheint, raufdirigieren … Also jedenfalls sag' ich dem Fräulein Bescheid, daß Sie kommen, Herr Kommissar … Aber jetzt bitte entschuldigen Sie mich, ich muß nach Hause. Meine Frau wartet mit dem Essen!«
Indem kamen über den Marktplatz Dr. Losch und ein anderer, fremder Herr auf sie beide zu.
»Warten Sie doch bitte noch einen Augenblick, Herr Professor!« bat der Kommissar.
Der nickte zustimmend und sah den Herren entgegen, die offenbar den Kommissar suchten.
Herantretend bestätigte Dr. Losch das sofort. Er stellte seinen Begleiter als den Untersuchungsrichter Dr. Lindenblatt vor, der soeben aus Dramburg nachgekommen war. Ein kleiner, zierlicher Mann mit einem zarten Gesicht und goldblondem Spitzbärtchen.
»Wir brauchen Sie dringend, Herr Kommissar«, meinte der Staatsanwalt. »Die Zeit vergeht und wir bringen die Sache nicht weiter … Ich habe vorläufig den Berliner Fahndungsdienst alarmiert, wegen der Edelsteinsammlung. Der Kerl wird doch gewiß versuchen die Juwelen zu verkaufen …«
»Ja, und existiert denn nicht eine genaue Liste von den einzelnen Stücken der Sammlung?« fragte der Untersuchungsrichter mit einer hellklingenden Stimme dazwischen.
Der Kommissar zuckte die Achseln:
»Durch die unbedingte Schonung, die die überfallene Frau de Ruyter braucht, sind manche Recherchen bis jetzt nicht möglich gewesen … In einem Hause, in dem das Familienoberhaupt mit dem Tode ringt, kann man seine Feststellungen nicht so unbehindert treffen; besonders wenn, wie der Herr Staatsanwalt ja wissen, das Krankenzimmer auch zugleich das Tatzimmer ist …«
Der Geheimrat nickte zustimmend. Dann meinte er, den Kommissar am Arm rührend:
»Verzeihen Sie bitte, meine Herren, wenn ich mich jetzt empfehle … meine Frau …«
Dr. Splittericht unterbrach ihn –.
»Bitte verehrter Herr Geheimrat, mir persönlich läge außerordentlich daran, wenn Herr Geheimrat unserer ersten, gemeinsamen Beratung beiwohnen wollten! Der Herr Geheimrat gehört zu den wenigen, die die Verletzte genau kennen. Sie allein können uns gewisse Aufklärungen geben über den Kreis von Personen, die mit Frau de Ruyter und ihren Angehörigen im Verkehr stehen. Das heißt, ich habe jetzt besonders den Herrn Wolf Stark, den Neffen im Auge, der nämlich vor einer Stunde etwa aus Berlin zurückgekehrt ist, per Auto, und der jetzt zu Hause ist …«
Mit den letzten Worten hatte sich Dr. Splittericht an den Staatsanwalt gewandt. Der fuhr auf:
»Und das sagen Sie mir jetzt erst?«
Ruhig, leidenschaftslos erwiderte Dr. Splittericht:
»Ich hatte vorher dazu keine Gelegenheit … Ich habe auch außerdem noch über eine Anzahl wichtiger Tatsachen zu berichten …«
Der kleine Dr. Lindenblatt nickte zustimmend:
»Also gut! … Dann wollen wir so schnell als möglich ins Hotel zurück!«
Und Dr. Losch sagte zu Professor Lindner:
»Sie, Herr Geheimrat, können wir noch beim besten Willen nicht entlassen … Ihre Sachkenntnis ist uns, wie der Herr Kommissar ganz richtig andeutete, allzu wichtig!«
»Dann beurlauben Sie mich wenigstens für zehn Minuten! … Ich wohne dort drüben, gleich am Eingang der Leopoldstraße in der gelben Villa.«
Damit war man einverstanden, und während der Chirurg über den Platz eilte, zwischen den Menschen hindurch, die jetzt in dem bekannten Mann einen Vertrauten der Behörde sahen und ihm deshalb doppelt respektvoll Platz machten, gingen die drei andern Herren zurück ins Hotel.
Der Staatsanwalt stand mit dem Rücken gegen das offene Fenster, daß seine hagere Figur sich schwarz in das Goldlicht des Unterganges zeichnete:
»Also Sie sind der Meinung, dieser de Ruyter stände der Tat nicht fern?«
Dr. Splittericht nickte:
»Ich bin überzeugt, er steht in irgendeiner Beziehung dazu.«
»Und trotzdem sind Sie gegen die Verhaftung?«
»Ja, weil ich es für wahrscheinlich halte, daß wir durch den einen den andern kriegen!«
»Haben Sie den Stein bei sich, den Sie in de Ruyters Zimmer gefunden haben, Herr Doktor?« fragte der Untersuchungsrichter.
»Hier, bitte …«
»Wie heißt er doch?«
»Es ist ein Alexandrit. Fräulein de Ruyter sagte es. Er hat drei verschiedenfarbige Strahlenbrechungen und soll von besonderer Stärke und Schönheit in der Farbe sein.«
»Daß er aus der Sammlung stammt, ist sicher?«
Mit einer zustimmenden Gebärde erwiderte Dr. Splittericht:
»Ich verlaß mich da ganz auf das Fräulein … die junge Dame macht einen besonders guten, wahrheitsliebenden Eindruck.«
Das konnte Dr. Losch nur bestätigen. Er fragte:
»Weitere Nachforschungen haben Sie im Hause selbst nicht vorgenommen?«
»Das erschien mir nicht rätlich, wenn ich de Ruyter nicht mißtrauisch machen wollte. Schon daß ich ihm den Stein gezeigt habe, war vielleicht ein Fehler. Aber er scheint seiner Sache sehr sicher zu sein. Das Alibi ist ja auch in der Tat kaum zu erschüttern.«
»Hm …« Der Staatsanwalt lehnte noch immer im Fensterrahmen … So im letzten Licht, mit dem leicht zur Seite gewandten Kopf, dessen Profil mit seiner Hakennase und der schmalen, eckigen Stirn ganz im Schatten stand, hatte er wirklich etwas vom Diabolus – und war sich dessen wohl auch ein wenig bewußt.
Er lachte fast unheimlich:
»Das werden wir erst noch nachzuprüfen haben, dieses Alibi des Herrn de Ruyter. Ich glaube, Herr Kommissar, das wird vor der Hand Ihre Hauptaufgabe sein müssen. Was meinen Sie, lieber Lindenblatt?«
Der Untersuchungsrichter war ganz derselben Ansicht.
»Gewiß, das beste ist, wenn sich der Herr Kommissar den schnellsten Wagen besorgt, der hier aufzutreiben ist, und nach Berlin fährt …« Er wandte sich an Dr. Splittericht: »In anderthalb Stunden sind Sie da, Herr Doktor … anderthalb zurück … in Berlin werden Sie, denk' ich, etwa eine zu tun haben … eine Stunde … so können wir hier vielleicht schon um Mitternacht Ihren Bericht hören und dann jedenfalls noch rechtzeitig den Verhaftsbefehl geben …«
Der Kommissar sagte nachdenklich:
»Ich hatte mich darauf eingerichtet, die Nacht im de Ruyterschen Hause zu wachen.«
»Weshalb?«
»Weshalb?« … beantwortete der Kommissar die etwas brüske Frage, »das ist nicht so einfach zu erklären, Herr Staatsanwalt … Das heißt – der eine Teil der Antwort ist leicht gegeben: bei einem so gravierenden Verdacht gegen den Neffen der Ueberfallenen, der sich doch jetzt unbeobachtet im Hause aufhält, bestehen für mich gewisse Bedenken hinsichtlich der Sicherheit des Fräulein de Ruyter …«
»Und die wollen Sie bewachen?« höhnte Dr. Losch.
»Ob ich oder ein anderer, bleibt sich gleich … Eine gewisse Garantie sind ihr die Behörden, da sie nun einmal hier sind, wohl schuldig. Aber das ist nicht der Hauptgrund! Ich … ich gebe etwas auf Ahnungen … und ein bestimmtes Gefühl sagt mir, daß sich die Ereignisse dort in dem stillen, weißen Hause noch nicht erschöpft haben …«
»Ihre Ahnungen in allen Ehren …« sagte der Staatsanwalt.
Der Untersuchungsrichter fiel ihm ins Wort. Er sprach lauter als sonst:
»Ich weiß, Herr Doktor, daß und was für den Kriminalisten auf die Intuition ankommt. Und ich weiß, daß gerade Sie von Ihren schwierigsten Fällen einige fast rein divinatorisch aufgeklärt haben … aber hier, in unserem Falle? … Was haben wir hier? … Hier ist eine alte, sehr reiche Dame angefallen worden, die eine Nichte und einen Neffen besitzt. Die erstere kommt nicht, der Neffe desto mehr in Frage, wenn auch nicht direkt für die Verübung des Raubanfalles … Am Abend vor der Tat werden beide, die Nichte wie die Tante durch ein dem Wein beigemischtes Narkotikum betäubt. Die Tante ist darauf überfallen worden. Die Nichte hat von der Untat, obwohl sie sonst einen recht leisen Schlaf besitzen will, nichts gehört, war auch gar nicht zu ermuntern am Morgen. Dasselbe behauptet der Neffe von sich – ob mit Recht oder Unrecht, das, Herr Kommissar, sollte sich meines Erachtens in dem Hotel, in dem de Ruyter genächtigt hat, feststellen lassen! … Und da setzt schon Ihre sehr wichtige und eilige Aufgabe ein: wissen wir denn ob ein erst morgen ausgefertigter Verhaftsbefehl nicht zu spät kommt? … Der Verdächtige verfügt jetzt offenbar über reiche Mittel! … Und verdächtig ist er weiß Gott! Mehr als verdächtig! … Wie sollte ein landfremder Verbrecher wissen, daß die Tresorschlüssel in dem silbernen Kästchen lagen und besonders, daß das gewiß gut versteckte Zettelchen mit den Stellziffern in der Falte des Seidenfutters steckte? Das konnte nur de Ruyter selbst ausspioniert haben, der natürlich im geheimen immer hinter den beiden Frauen her war, die er wahrscheinlich längst hatte berauben wollen! …
Dr. Splittericht hörte aufmerksam zu. Er wunderte sich nur, wie jemand so viel hintereinander sprechen konnte über etwas, was doch eigentlich die hier im Zimmer Befindlichen alle gut genug wußten.
»Und dann,« fuhr Dr. Lindenblatt fort, »die Möglichkeit, die Nacht über im Hause drüben zu wachen, die bleibt Ihnen ja immer, Herr Kommissar! … Um Mitternacht sind Sie sicher wieder hier.«
Der Kommissar nickte langsam.
»Ihre Ansichten scheinen von den unseren abzuweichen«, sagte Dr. Losch scharf.
Dr. Splittericht sah den Staatsanwalt nachdenklich an, mit einem Blick, als sähe er durch den hageren Mann, der im hellen Fenster stand, hindurch in der Ferne nebelhafte Dinge, die erst erstehen wollten; dann sagte er:
»Ich lege vielleicht nur deswegen nicht so viel Wert auf die Feststellungen in Berlin, weil irgend etwas in mir oder um mich herum ist …«
Er verstummte eine Weile; in der halben Dämmerung der Fensternähe sah man nur noch seine grauen Augen, die sich vergrößerten und ein merkwürdiges Leuchten hatten. Dann sprach er langsam und die Stimme niederhaltend weiter:
»Es ist etwas da, was mich hier festhalten will, aber …« Er zwang sich selbst in die Wirklichkeit und in die nüchterne Nähe der beiden Männer zurück, die ihn kaum verstanden:
»Sind die Herren mit dem Auto von Berlin gekommen?«
Dr. Losch verneinte.
»Das war auch nur einer von den alten Rumpelkästen vom Bahnhof, gerade wie das Ihre …«
»Und meinen Chauffeur hab' ich gefragt: es ist ganz ausgeschlossen, daß ich auf diese Weise nach Berlin komme!«
»Was machen wir da?«
»Ließen sich die Recherchen nicht am Ende auch telephonisch ausführen?« fragte Dr. Lindenblatt.
Der Kommissar schüttelte den Kopf.
»Sie werden wissen, Herr Rat, wie wenig gern die Hoteliers über ihre Gäste Auskunft geben. Auch ist man, wenn nicht dem jungen Menschen selbst, so doch der Familie wohl eine gewisse Rücksicht schuldig … es könnte ja trotzdem sein, daß unser Verdacht …«
»Der Ihre, Herr Kommissar!« warf Dr. Losch ein mit seiner schneidenden Stimme und mit dem grinsenden Lachen, das man jetzt mehr fühlte, als sah.
»Ganz recht, mein Verdacht.« Dem Kommissar blieb sein Gleichmut immer treu. »Es könnte doch sein … irren ist ja menschlich …«
Nun lachte der Untersuchungsrichter:
»Es wird behauptet, daß das bei Ihnen ausgeschlossen ist lieber Herr Doktor! Na, jedenfalls – wir tun, was wir können …«
»Aber haben damit immer noch kein Auto!« klang die sarkastische Stimme vom Fenster her.
»Es sei denn, daß ich Ihnen das meine zur Verfügung stellen darf«, sagte da jemand aus dem Dunkeln von der Tür her. Professor Wildner war, nachdem man sein Anklopfen im Gespräch und Lachen überhört hatte, leise durch die nur angelehnte Tür eingetreten.
Er besäße einen großen, sehr leistungsfähigen Tourenwagen, außerdem auch einen durchaus zuverlässigen Chauffeur. Beides wolle er gern in den Dienst der gerechten Sache stellen … Indessen glaube er den Herren noch einen anderen wertvollen Wink geben zu können: im Hotel »Waldfrieden« sei gestern spät abends mit dem letzten Berliner Zug ein elegant gekleideter junger Mann angekommen, der aber nur eine Handtasche als Gepäck gehabt habe … Er hätte noch zu Abend gegessen und eine Flasche Wein getrunken und wäre mit dem Frühzug um 6 Uhr 45 schon wieder abgefahren. Schon gleich nach fünf sei er nach dem Bahnhof gegangen …
»Das sieht ja wirklich etwas nach dem Komplicen aus!« meinte der Untersuchungsrichter, den Staatsanwalt anblickend.
Der sagte ironisch:
»Die Braut ist zu schön, meine Herren …! Sie kennen ja wohl das alte Sprichwort, das – auf unsere Verhältnisse angewendet – etwa heißen mußte: an so klare, glatte und mühelose Erfolge glaubt der Kriminalist nicht.«
»Aber ich meine doch, Herrn Dr. Splittericht winkt da eine sehr interessante Aufgabe!« entgegnete der Geheimrat. »Ja, und das Wichtigste hätte ich beinah' noch vergessen … der junge Mann war ein Amerikaner …«
»Wieso?« fragte der Kommissar …
»Herr Claudius, der Direktor drüben vom ›Waldfrieden‹ – er hatte, kurz bevor ich kam, schon bei meiner Frau angeklingelt –, der sagte, er sei zufällig gestern noch unten gewesen im Speisesaal, als der junge Mann kam … Der hätte zwar deutsch, aber mit ausgesprochen amerikanischer Färbung gesprochen. Auch seine Kleidung sei so bezeichnend für den Amerikaner gewesen, daß Claudius, der selber jahrelang drüben war, meint, er könnte sich da gar nicht irren.«
Die Herren schwiegen eine Weile, dann sagte der Untersuchungsrichter:
»Jedenfalls unsern allerbesten Dank, Herr Geheimrat! … Und besonders auch für den Wagen, den Sie dem Herrn Kommissar gütigst zur Verfügung stellen wollen!«
»Ja,« fiel Dr. Losch ein, »es wäre recht gut, wenn Sie,« mit einer Kopfbewegung zu dem Kommissar hin, »sofort abfahren könnten.«
Statt des Kommissars antwortete der Geheimrat:
»Mein Chauffeur ist zu Haus und auch sonst ist wohl alles in Ordnung. In zehn Minuten hält der Wagen vor der Villa! Wenn Sie dann drüben sein wollen, Herr Doktor?«
Der Doktor-Kommissar sagte mit einer Verneigung zu dem alten Herrn hin, er käme gleich mit! Wenn nicht etwa – und nun stand er förmlich stramm vor Dr. Losch – der Herr Staatsanwalt noch sonstige Befehle für ihn hätte? …
Der plötzliche, der Situation gar nicht angepaßte Ernst des Kommissars wirkte unwiderstehlich. Es war gut, daß es so dunkel war im Zimmer, sonst hätte man das Lächeln des sich abwendenden Untersuchungsrichters sehen müssen. Nur der alte Geheimrat – der war ein zu natürlicher Mensch. Der konnte sich seiner Heiterkeit nicht entschlagen, fing an zu brummen und platzte schließlich laut los. Nun lachte auch Dr. Lindenblatt und schließlich stimmte der Staatsanwalt selbst in das Konzert mit ein.
»Ich werde zu leicht mißverstanden,« sagte er, »weil ich keine Floskeln mache … und ich will keine machen, weil man dadurch leicht zu Kompromissen kommt, die für meinen Beruf nicht passen!«
Jetzt spottete Dr. Lindenblatt mit Heine:
»… Und macht ein verständlich System daraus!«
»Na ja, Sie mögen recht haben, Kollege.« Dr. Losch grinste schon wieder boshaft: »Der eine ist böse von Jugend auf und der andere wird's erst im Alter … Der sieht aus wie ein Mädchen und ist ein ausgemachter Deubel, und jener hat die Teufelsmaske und kann letzten Endes doch sein Herz nicht festhalten … Pardon! … Ich glaube, da hab' ich schon wieder wo angestoßen?!«
»Nein, nein!« lachte Dr. Lindenblatt, »ich habe zwar eine zarte Haut, aber dafür ein sehr dickes Fell!«
»Und wir beide, der Herr Geheimrat und ich, dürfen uns wohl jetzt empfehlen?«
Auch der Kommissar hatte nun einen viel freundlicheren Ton in der Stimme. Er war ja in seiner Gerichtspraxis an Menschen und Juristen aller Art gewöhnt, aber er arbeitete doch lieber mit den Männern, die in ihm den gleichstehenden Gebildeten, als mit den anderen, die nur den mittleren Polizeibeamten in ihm sahen.
Fünfzehn Minuten danach saß er in dem großen, bequemen Wagen und drückte mit herzlichen Dankworten die Hand des Arztes, der neben dem Schlag stand und ihm noch ein Fläschchen alten Portwein in die Wagentasche schob, als kleine Herzstärkung für die nächtliche Fahrt.
Dann glitt der Wagen um die Ecke der Leopoldstraße über den Markt in die Bahnhofsallee, deren tiefe Dämmerung die gewaltigen Scheinwerferlaternen des Autos wie Rauch fortbliesen.
Die Reise in der mondhellen Mainacht war herrlich. Der Wagenlenker steuerte hinter seinen strahlenhellen Lichtern so geschickt, daß der Kommissar die 60-Meilen-Geschwindigkeit in der tiefen Limousine nur an dem rasenden Wirbel der Chausseebäume merkte, die eine unerhörte Kraft hinter ihm wegzureißen schien. Aber dann kam der Wald, der wie eine schwarze Mauer zur Rechten und Linken stand und dessen Wipfel in dem Fahrtsturm das Lied einer neuen, rastlos jagenden Zeit sangen.
Um halb acht Uhr war Dr. Splittericht von Breitenberg abgefahren, genau um neun hielt er vor dem Hotel in der Friedrichstraße, in dem Wolf Stark de Ruyter für gewöhnlich abstieg.
Ein Herr im tadellosen Gehrock mit leisen, weltmännischen Manieren bat den Beamten in sein Kontor.
»Herr de Ruyter ist seit Jahren ein geschätzter Gast bei uns, Herr Kommissar – ich bin der Geschäftsführer des Hauses. Krause mein Name … ja, und ich werde gleich noch einmal nachfragen …«
Er nahm den Hörer vom Fernsprechapparat:
»Oberkellner Beier soll sofort hierherkommen!«
Keine zwei Minuten und der »Ober« trat ein.
»Herr Wolf Stark de Ruyter hat vom Freitag zum Sonnabend, also von vorgestern zu gestern nacht, bei uns gewohnt, nicht wahr, Herr Beier?«
»Sehr wohl, Herr Geschäftsführer … ich habe Herrn de Ruyter persönlich bedient … wie immer … und …«
»War Herr de Ruyter die ganze Nacht im Hotel?« unterbrach ihn Dr. Splittericht.
»Jawohl, das heißt er kam gegen ein Uhr hier an, dann hat er noch etwas gegessen – ich glaube einen Hummer in Aspik – und eine Flasche Sekt getrunken. Seine gewöhnliche Marke »Irroy Extra dry …« Dann hab' ich ihn selbst nach oben begleitet.«
»Ob er noch einmal fortgegangen ist, wissen Sie nicht?«
»Nein, aber vielleicht der Portier …«
»Wollen Sie den bitte mal rufen lassen, Herr Direktor?«
Der im schwarzen Gehrock nickte und gab telephonische Weisung. Darauf erschien mit seiner bordierten Mütze die eigentliche Hauptperson des Hotels, die sich dessen auch wohl bewußt schien:
»Gäste, die nachts rumbummeln, die gibt's bei uns eigentlich so gut wie gar nicht …« sagte er. »Hier verkehrt durchweg nur das beste Publikum … und gerade Herr de Ruyter … der Herr ist doch Kavalier!«
Dr. Splitterichts Mundecken krausten sich:
»Also fort war er in der Nacht nicht mehr?«
Der Portier antwortete nur durch eine Gebärde seiner großen, kräftigen Manneshand. Dann fragte der Vielbeschäftigte:
»Sonst noch etwas gefällig?«
Und verschwand eilig, da man ihn nicht mehr aufhielt.
»Wissen Sie, Herr Beier, wo Herr de Ruyter für gewöhnlich seinen Nachmittagskaffee nimmt?«
Der Oberkellner, der längst in Splittericht den »Geheimen« witterte, hob leicht die Schultern: dann sah er seinen Direktor an, dessen Augen ihm Bejahung zuzuplinken schienen.
»Soviel ich weiß, verkehrt Herr de Ruyter im Café Metropol …«
»Wollen Sie die Güte haben, Herr Krause«, sagte jetzt der Kommissar, »sich dort in den bequemen Klubsessel niederlassen … So, ganz recht … Nun bitte ich Sie, Herr Beier, einmal hierher zu treten! So … ja … Herr Krause erteilt Ihnen nämlich – ich weiß das bestimmt – im Vorhinein die Erlaubnis, jede meiner Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten!«
Der Oberkellner war etwas perplex. Doch stand er jetzt, dem Hoteldirektor den Rücken kehrend, Dr. Splittericht Rede und Antwort.
»Als Sie heute früh Herrn de Ruyter weckten, ist Ihnen da etwas Besonderes aufgefallen?«
»Inwiefern meinen Sie Herr …?«
»Ich bin Kriminalkommissar und das ›inwiefern?‹ will ich von Ihnen beantwortet haben!«
»Ja, das heißt … ich habe Herrn de Ruyter eigentlich gar nicht geweckt.«
»Wer denn? Der Hausdiener?«
»Nein, niemand.«
»Also steht Herr de Ruyter immer ungeweckt auf? … Wohl ziemlich früh schon?«
Des Kommissars stehende Gewohnheit war es, in seinen Fragen scheinbar das Gegenteil dessen anzustreben, was er eigentlich hören wollte. Das bewährte sich hier wie so oft schon.
Der Oberkellner zögerte etwas, dann sagte er:
»Herr de Ruyter schläft für gewöhnlich sehr lange, weil er oft im Klub oder sonstwo bis gegen Morgen aufgehalten wird …«
»Aber gestern ist er verhältnismäßig früh schlafen gegangen, nicht wahr? … Wann denn ungefähr?«
»Um halb eins.«
»So … halb eins … und wann hat er heute seinen Kaffee bestellt?«
»Gegen acht.«
»Ja.«
»Betraten Sie das Zimmer? Das Schlafzimmer des Herrn meine ich?«
Der Oberkellner, jetzt ganz im Bann des Kriminalisten, nickte ergeben:
»Jawohl.«
»Und da lag Herr de Ruyter noch im Bett?«
»Nein, er war schon aufgestanden.«
»So … beim Anziehen, wahrscheinlich?«
»Nein … ich habe mich, offen gestanden, ein bißchen gewundert … Herr de Ruyter war schon vollständig in Toilette … Er stand am offenen Fenster, rauchte 'ne Zigarette und sah auf die Straße. So mußte er's wohl überhört haben, daß ich reinkam … denn …«
»Nun? … Was war denn?«
»Tja! … mir schien … ich hatte, ganz offengestanden, den Eindruck, als ob Herr de Ruyter, wie ich 'rein kam – das heißt wie er mich bemerkte, da erschrak er … Er fuhr ordentlich zusammen …«
»Aber das fiel Ihnen nicht besonders auf? … Sie dachten eben, das käme, weil Sie so unvermutet vor ihm standen?«
»Ja, ganz recht, Herr Kommissar.«
»So ich danke Ihnen schön … Auch Ihnen, bester Herr Krause. Sie haben ja das Gespräch mit Herrn Beier gehört. Es könnte sein, daß ich später darauf zurückgreifen muß!«
Dann stand Dr. Splittericht wieder auf der auch jetzt in der Nacht von lautem Verkehr erfüllten Straße und nannte dem Chauffeur die Adresse des Café Metropol.
Dort betätigte der Kellner dem Kommissar genau das, was Wolf Stark am Nachmittag bekundet hatte: der junge Herr sei halb ohnmächtig hintenübergesunken, als er die Zeitung las … Das ganze Café habe sich nachher, wie seine Freunde mit ihm wegfuhren, noch lange darüber unterhalten.
So wußte der Kommissar, was ihm wichtig war, und wessen er sicher gewesen wäre, auch ohne erst nach Berlin zu fahren … Nun drängte es ihn und rief ihn förmlich zurück nach Breitenberg …
Er sah nach der Uhr … Doch schon nach halb elf! … Er konnte kaum um Mitternacht zurück sein …
Der Wagen ratterte an … Dann glitt er die Straße hinauf und auf den lichtbeglänzten Asphalt des Fahrdammes zwischen den Menschenmassen, die zu beiden Serien wie brausende Ströme hintrieben … Und während die Gegend dunkler, die Straßen lichtloser und die Menschen immer seltener wurden, formte sich in des Kriminalkommissars Hirn immer deutlicher das Bild jener grassen Tat, erschienen auf der hellen Fläche seiner Phantasie klar und greifbar die Silhouetten derjenigen, die die Blutschuld trugen.