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Pünktlich acht Uhr fünfzig Minuten war Geheimrat Wildner auf dem Bahnhof und konnte gleich darauf die Krankenschwester begrüßen, die er von einem der großen Krankenhäuser der Hauptstadt erbeten hatte.
Schwester Adelheid war ein kräftiges Mädchen mit einem energischen Gesicht und hellen, mutigen Augen. Sie hörte dem Geheimrat, der ihr den Fall erklärte, gespannt zu und bewies durch ihre Zwischenfragen, daß sie mit allem vertraut war, was hier von ihr erwartet wurde. Dem Geheimrat war ihr festes, zielsicheres Wesen eine große Beruhigung, er fühlte, daß er getrost einen Teil seiner Verantwortung in diese klaren Hände legen konnte, denen alles Zugreifen bei der doch oft harten Arbeit nichts von ihrem natürlichen Adel hatte rauben können.
Als der Professor selbst die Nacht über im de Ruyterschen Hause bleiben wollte, bat die Schwester ihn, sich doch nicht unnötig seiner Nachtruhe zu berauben. Und als Thekla, deren Berührung mit Schwester Adelheid bei beiden jungen Mädchen eine sichtliche Sympathie auslöste, sich ebenso gegen sein Hierbleiben im Hause wandte, da gab der alte Herr im Herzen wohl nicht so ungern nach, empfahl aber, ihn, wenn irgend etwas Unvorhergesehenes einträte, sofort telephonisch anzurufen.
Das versprachen die jungen Damen und hatten außerdem für alle Fälle die Köchin Minna und die Zofe Lilli neben Theklas Schlafgemach, in dem ersten der beiden Fremdenzimmer einquartiert.
Die Kranke war ziemlich ruhig. Thekla ließ deshalb nicht nach bis Schwester Adelheid sich in die Nachtwache mit ihr zu teilen versprach.
»Wir bleiben dann beide frisch und das kommt unserer lieben Kranken zugute,« hatte sie gesagt.
Jetzt lag sie auf dem Divan im Boudoir und schlief fest und ruhig, während die Schwester am Bett der im Fieberschlaf leise ächzenden Frau saß und an einem langen, weißen Wollschal strickte.
Die Uhr schlug zwölf.
Und die Schwester, die in den Plan des Kommissars, die Nacht heimlich hier zu verbringen, eingeweiht war, dachte eben, daß der Beamte wohl doch längeren Aufenthalt, als er selbst vorausgesehen hatte, in Berlin haben mochte und so am Ende nicht rechtzeitig würde hier sein können. Aber diese Aussicht, allein zu bleiben, flößte ihr keineswegs Furcht ein. Die Türen zum Korridor waren verschlossen, es befanden sich hier oben außer der Kranken vier Frauen, und ein Druck auf die elektrische Klingel rief den Diener herbei, der mit einem Revolver bewaffnet war.
Indem Schwester Adelheid das überdachte, hörte sie ein fernes Geräusch.
Sollte es der Kriminalkommissar sein, der nun doch, wie versprochen, eintraf und von hinten her, durch das Gewächshaus hereinkam? …
Schwester Adelheid lauschte angestrengt, aber nichts ließ sich mehr hören … Trotzdem trieb sie etwas, sich zu erheben und an die Tür zu gehen. Da stand sie eine ganze Zeit und wollte schon, in der Meinung, sie hätte sich getäuscht, wieder an ihren Platz, als es ihr plötzlich wie ein Zucken durch die Nerven ging.
Sie hatte mit ihrem feinen Gehör erfaßt: draußen auf dem Korridor schlich jemand die mit weichen Matten belegte Diele entlang …
War's der Kommissar, der heimlich dem Verbrechen nachspürte? – Der würde sich, wenn er von ihr oder Thekla etwas wollte, wohl melden …
Da! – Nun preßte der Schwester, so mutig sie war, sich doch das Herz zusammen! Draußen faßte eine Hand an die Klinke der Tür, neben der Schwester Adelheid stand …
Nein, das war der Kommissar nicht! … Der würde nicht daran denken, auf solche Weise Einlaß in das Krankenzimmer zu suchen.
Die Schwester rührte sich nicht und ihr Atem ward so dünn und so leise, daß sie selbst es kaum spürte … Ihr war, als flösse plötzlich ein kaltes Rieseln durch ihre Brust.
Die Hand draußen drückte langsam mit unendlicher Vorsicht die Klinke nieder …
War es der Verbrecher, der herein wollte? … Und hatte er wirklich gedacht, auch in dieser Nacht offene Türen zu finden? … War denn auch die Tür fest verschlossen? … Um Gottes willen wenn der Riegel des Schlosses nicht fest einhakte! … Wenn es dem Schrecklichen gelang einzudringen …
Einen Augenblick vor Entsetzen starr, wollte die Schwester im nächsten Thekla wecken, wollte nach dem Diener läuten – da ging die Klinke der Tür, auf die ihre Augen wie gebannt blickten, langsam wieder hoch … Die Tür war fest geblieben … die schleichenden Füße entfernten sich nach rechts … und … ja! … sie machten von neuem halt vor der Boudoirtür.
Mit dem Unheimlichen zugleich glitt Schwester Adelheid, die bei ihren Nachtwachen Filzschuhe trug, ins Boudoir. Und hier stand sie ebenso, die Nerven wie Bogensaiten gespannt, nur durch ein paar hellgestrichene Bretter getrennt von jenem rätselhaften Unhold, der noch nicht zufrieden schien mit dem einen blutigen Opfer, das nebenan in Fieberträumen röchelte.
Aber dem starken Mädchen war der Mut wiedergekehrt. Und sie bedauerte nur das eine, daß der Kommissar nicht rechtzeitig hatte zurück sein können, daß er jetzt nicht hier an ihrer Stelle stand. Ja, es war ihr schrecklich, daß sie kein Mann war und nicht die Tür aufreißen, hinausspringen und den Schleichenden da draußen festnehmen konnte!
Auch hier war die Klinke langsam heruntergedrückt und ebenso behutsam wieder freigegeben worden … Jetzt entfernten sich die tastenden Schritte immer nach rechts hin … Flüsterte es nicht auch? … Raunten nicht – wie aus Kellertiefen herauf – dumpfe Menschenstimmen? – Nein, das waren nur die Laute ihrer erregten Einbildung, ihr eigenes, pochendes Herz, das die Schwester täuschte.
Aber sie ging nicht von der Tür fort … Und als die Kranke einmal heftiger stöhnte, sah sie schnell nach ihr und kam schattengleich zurück, noch immer auf die Fortsetzung jener Mörderschritte lauschend, die ihr Gemüt aufpeitschten.
Auf einmal knallte ein Schuß!
Er zerriß die Stille der Nacht mit Gewalt und flammte förmlich rothell auf vor der Horchenden …
Thekla sprang empor:
»Was war das?«
In dem matten Schein der seidenverhangenen Birne in der Ständerlampe blickten die schwarzen Augen der Fragenden groß und schreckhaft:
»Was war das, Schwester?«
Thekla griff nach der Hand der anderen; die zitterte.
»Es wurde geschossen …«
»Ja, es muß hier oben auf der Etage gewesen sein … Ich stehe schon immer hier und horche …«
Und Schwester Adelheid erzählte der Schwarzhaarigen, deren Züge das Grauen malte, von dem schleifenden Tritt draußen im Gange, vom verräterischen Druck auf die Klinken an ihren Zimmertüren.
Indem kamen kräftige Schritte den Korridor herauf; vor dem Boudoir hielten sie. Jemand klopfte.
»Wer ist da?«
»Ich bin's … der Diener … Martin … Haben gnädiges Fräulein den Schuß gehört?«
Die Schwester öffnete.
Der Diener stand, die elektrische Taschenlampe in der linken, den Revolver in der rechten Hand, vor ihr und Thekla.
Die Schwester wunderte sich, daß er so schnell in die Kleider gekommen war.
»Ich habe nicht geschlafen,« sagte der junge Mann einfach, »weil das gnädige Fräulein hier oben so allein war.«
Thekla lächelte. Und ihr Gesicht, auf dessen Wangen der Schlaf ein leises Rot gezaubert hatte, sah wie das eines erschreckten Kindes aus, das sich doch in guter Hut weiß.
»Das ist schön von Ihnen, Martin!« sagte sie und der leise Klang ihrer Stimme redete von dem Schrecken, der noch in ihrer Seele war. »Aber wer hat bloß geschossen? … War es denn wirklich hier im Hause?«
»Das ist ganz unzweifelhaft!« nickte die Schwester, »da kann ich mich nicht täuschen!«
»Ich will nachsehen!« Der Diener ging voran, die beiden Mädchen folgten, aber sie waren beide doch ein bißchen ängstlich.
Da ward das Rollen eines Autos vorm Hause hörbar.
»Der Kommissar,« meinte Thekla. »Warten Sie doch noch Martin.«
Die drei lauschten. Im Hause ging leise eine Tür.
Dann kam jemand behutsam die Treppe empor.
Thekla deren Nerven nicht mehr standhielten. faßte schreckhaft nach dem Arm der Schwester, die sie beruhigend, über das Geländer hinabsah.
»Es ist der Kommissar.«
»Ist etwas geschehen?« fragte Dr. Splittericht schon im Heraufsteigen
»Ja … ein Schuß … Es hat jemand im Hause geschossen«
»Wo waren Sie währenddem, Schwester?«
»Ich stand an der Tür des Boudoirs.«
Und sie erzählte ihm vom Schleichen auf dem Korridor
»Es ist besser, die Damen bleiben vorläufig hier … Sie,« der Kommissar wandte sich zum Diener, »Sie können mit mir gehen!«
Damit ging Dr. Splittericht vorauf, Martin folgte ihm. Die beiden Mädchen traten in ihr Zimmer zurück, ließen aber die Tür auf; der Drang zu wissen, was nun in vieler schlimmen Bilderreihe folgen werde, war stärker als ihre Furcht vor Gefahr.
Als sie um die Korridorecke waren, blieb der Kommissar stehen und sagte leise zu dem Diener:
»Machen Sie sich für alle Fälle fertig! Schießen Sie bei dem geringsten Zeichen von Widerstand oder Angriff!«
Der Diener tat, wie ihm geboten. Die Taschenlampe hatte der Doktor-Kommissar genommen. Er ging voraus.
Als sie vor des jungen de Ruyters Atelier standen und Dr. Splittericht die Klinke probierte, sagte er:
»Natürlich … verschlossen … Aber einen Schlosser zu holen, ist keine Zeit … halten Sie mal!«
Er gab Martin die Laterne und seine Browningpistole. Dann holte er einen starken Nickfänger aus der Tasche und zersplitterte mit ein paar kraftvollen Stoßhieben die Türfüllung an ihrer schwächsten Stelle.
Durch das Loch sah er vorsichtig zuerst schräg, dann geradeaus in den erhellten Raum.
»Aha!« sagte er in gedämpftem Ton, »das hab' ich mir fast gedacht!«
Nun erweiterte er die Oeffnung in dem zerbrochenen Türbrett und schloß hineingreifend auf.
Auf der mit grauem Fries ausgeschlagenen Diele, in der Nähe des großen, mit Mappen bedeckten Tisches lag Wolf Stark de Ruyter.
Er lag auf Gesicht und Brust, das rechte Bein etwas angezogen, als ob er sich im Sterben noch kriechend hätte weiterbewegen wollen.
Er war tot!
Der Kommissar drehte den Körper sofort auf den Rücken und horchte nach dem Herzen, das für ewig still stand. Das Gesicht des Erschossenen, dessen merkwürdig spitz vorgebeugte Nasen- und Stirnpartie schon im Leben auffiel, hatte jetzt in seiner fahlen, leblosen Blässe etwas Geierartiges; die gebrochenen, nur halb geschlossenen Augen vervollkommneten diesen häßlichen, das Mitleid ertötenden Ausdruck.
Als der Rock beim Umdrehen des Leichnams zurückfiel, zeigte sich auf der linken Brustseite eine durchblutete Stelle. Die Kugel hatte offenbar das Herz getroffen.
Die Waffe, ein englischer Smith-Wesson-Revolver von starkem Kaliber, lag ganz nahe der etwas zusammengekrampften rechten Hand. Wie aber der Kommissar den Revolver aufhob, sah er unter dem dicht dabeistehenden Ledersessel, der sehr niedrige Füße hatte, einen goldenen Bleistift. Er hob ihn auf und steckte ihn ebenso wie den Revolver zu sich.
Dann wandte er sich zu dem Diener:
»Sie müssen sofort 'rüber ins Hotel »Goldfasan«. Lassen Sie sich dort dem Herrn Staatsanwaltschaftsrat Dr. Losch melden! … Dr. Losch, das werden Sie behalten, ja?«
Der Diener nickte.
»Herrn Staatsanwaltschaftsrat Dr. Losch.«
»Ganz recht … Der Herr Staatsanwalt möchte die Freundlichkeit haben und gleich herüberkommen … Sie können ihm ja kurz berichten, was passiert ist!«
Der Diener ging und der Kommissar folgte ihm:
»Warten Sie, ich komme mit!«
Er wollte doch lieber selbst den beiden Damen die neue, trübe Kunde bringen.
Schwester Adelheid und Thekla standen noch immer voll banger Erwartung in der offenen Tür. Aber bei ihnen war die Köchin, in deren groben Zügen mehr Aerger über all das Unheil, das ihre Herrschaft traf, als Angst zu lesen war, und an der Flurwand lehnte blaß, mit fliegenden Gliedern, die Zofe, die Thekla zu beruhigen versuchte.
»Gehen Sie! … Gehen Sie schnell!« sagte Dr. Splittericht zu dem Diener, der einen Moment den Schritt verhielt. Dann wandte er sich an Thekla:
»Mein gnädiges Fräulein, ich muß Ihnen eine neue, betrübende Mitteilung machen: Ihr Herr Vetter hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach erschossen.«
Ein dumpfer Fall! … Niemand hatte auf die Zofe geachtet und Dr. Splittericht, der sie fallen sah, kam zu spät, um sie aufzufangen.
Die Köchin, die wütend vor sich hin brummte, und Schwester Adelheid trugen die Ohnmächtige ins Boudoir auf den Diwan, wo sie vom Einatmen aus einem Fläschchen Melissengeist, das Schwester Adelheid ihr unter das spitze, weiße Näschen hielt, bald erwachte.
Die kleine Blonde sah sich wirr um und wimmerte:
»Ach, der arme Herr Wolf … Er hat sich gewiß nicht allein tot gemacht … Der arme Herr Wolf …«
Dann wurde sie auf einmal glühend rot, setzte sich, schuldbewußt zu Thekla hinschauend, auf und hob die Beine, von denen das sich verschiebende Kleid niedliche Waden in durchbrochenen Strümpfen und zierliche Stiefeletten sehen ließ, rasch vom Diwan.
»Mein Gott«, sagte sie, »ich bin wohl umgefallen?«
Sie war aber so unsicher und litt so sichtlich unter einer verschwiegenen Angst, daß es Thekla auffiel.
Der Kommissar, die Schwester und auch die Köchin waren wieder auf den Korridor getreten. Thekla horchte in das Krankenzimmer hinein, wo sich nichts regte, dann setzte sie sich neben die Zofe, fragte sie freundlich: »Ist Ihnen wieder besser, Lilli?«
Da brach das Mädchen plötzlich in ein haltloses Schluchzen aus.
In Theklas Herz kam es wie Härte und Zorn:
»Tut Ihnen denn mein Vetter so leid?«
Es klang unversöhnlich, und Lilli merkte das.
»Nein … nein …« log sie. Sie bezwang sich noch. Aber plötzlich durchbrach ihr Weh alle Dämme. Sie schluchzte so laut, daß die Schwester hereinblickte.
»Herr Wolf wollte mich ja heiraten …«
Das klang in allem Leid so komisch, daß Thekla lächelte. Aber dann kam ihr doch gleich die Schuld, die der Abgeschiedene auch hier wieder auf sich geladen hatte, zum Bewußtsein. Sie fragte:
»Haben Sie ihm das geglaubt, Lilli?«
»Ja«, schluchzte die Kleine. »Er hat es ja geschworen!«
Thekla zwang sich vergeblich zu einem Mitgefühl, Sie brachte es nur über sich, die Zofe in das Schlafzimmer, das sie mit der Köchin teilte, zu führen, mit der ernsten Weisung, sich jetzt niederzulegen und, wenn möglich, zu schlafen.
Als Thekla wieder heraustrat auf den Gang, kamen eben in größter Eile Dr. Losch und der Untersuchungsrichter. Die Schwester hatte unterdessen an Geheimrat Wildner telephoniert.
Der Staatsanwalt war unzufrieden, daß Dr. Splittericht nicht, bevor er hierherfuhr, ihn geweckt und über den Erfolg seiner Fahrt nach Berlin unterrichtet hatte.
Aber der Untersuchungsrichter meinte ganz zutreffend:
»Diese Recherchen – mögen sie nun ausgefallen sein wie immer – sind doch jetzt überholt! … Mit dem Selbstmord hat der Mann seine Schuld eingestanden … Der Fall liegt für mich wenigstens einfach und sonnenklar.«
Thekla mußte, als Dr. Lindenblatt das sagte, an das Wort des kleinen, dummen, blonden Mädchens denken: »Er hat sich gewiß nicht allein totgemacht …« Sie sah Dr. Splittericht an und meinte um dessen Mund jenen leisen Zug von Spott zu bemerken, der so ungewiß war, daß man kaum sagen konnte, ob der Kommissar wirklich für einen Augenblick gelächelt hatte.
Die Herren traten jetzt über die Schwelle des Ateliers.
Der Kommissar erklärte den Gerichtsherren die Lage der Leiche bei ihrer Auffindung. Er wies den Revolver vor, dessen gefüllte Patronentrommel nur eine leere Hülse zeigte und hielt dann Dr. Losch den goldenen Bleistift hin:
»Das fand ich hier unter dem Sessel … in unmittelbarer Nähe des Ermordeten.«
»Und welche Schlüsse ziehen Sie daraus?«
Der Kommissar zuckte die Achseln:
»Man könnte daran denken, der Erschossene hat noch in der letzten Minute irgend etwas aufschreiben wollen.«
Der Staatsanwalt überlegte, seine grauen Augen zusammenkneifend. Doch Dr. Lindenblatt sagte:
»Wenn ein Mensch sich das Leben nimmt, so pflegt er doch vorher, ehe er den entscheidenden Schritt tut, alles aufzuzeichnen, was ihm wichtig dünkt …«
Er wollte noch mehr sagen, aber Dr. Losch unterbrach ihn, sein Gesicht bekam wieder den mephistophelischen Ausdruck:
»Merken Sie denn nicht, Herr Kollege, daß der Herr Kommissar unsere Ansicht von dem Selbstmord nicht teilt? So einfach dürfen die Fäden des Kriminaldramas nicht verlaufen! … Da ist ja für den bekannten Kriminalisten gar kein Raum mehr! … Aber, liebster Herr Kommissar,« er wandte sich mit mehr Freundlichkeit an Dr. Splittericht, »diesmal müssen wir uns schon mit den klaren, für sich selbst sprechenden Tatsachen zufriedengeben: der Mann hier hat sich erschossen!«
Dabei deutete er mit der Spitze seines überaus schmalen Lackstiefels auf den starren Körper, dessen weißes Gesicht, mit den verfallenden Augen und der großen, vorspringenden Nase, wie eine Gipsmaske in die Helligkeit des großen Raumes stach.
»Und den Mord? …« fragte Dr. Splittericht, »oder vielmehr den Mordanfall – wer hat den begangen?«
»Den Ueberfall? …« Dr. Lindenblatt nagte an seiner Oberlippe. »Den Ueberfall … ja, hat sich denn der tote de Ruyter auch wirklich in der vergangenen Nacht in Berlin aufgehalten, Herr Kommissar!«
»Das habe ich festgestellt, Herr Untersuchungsrichter. Der Tote hat tatsächlich die Nacht in Berlin, im Hotel ›Zum Schwan‹ verbracht. Er ist etwa um halb eins zu Bett gegangen und, gegen seine Gewohnheit, schon vor acht Uhr aufgestanden. Der Kellner wunderte sich darüber, daß de Ruyter schon so früh fix und fertig am offenen Fenster stand, die Zigarette zwischen den Lippen, und daß er bei seinem Eintritt heftig zusammenschrak … Von irgendeiner Nachwirkung des Opiats scheint also bei de Ruyter nichts zu merken gewesen sein … Im übrigen stimmten seine Angaben: er war gestern nachmittag in größerer Gesellschaft im Café Metropol und ist dann per Auto hierhergefahren.«
»Das berechtigt allerdings zu der Annahme, daß er einen Helfershelfer gehabt hat«, sagte Dr. Losch.
»Das ändert nichts an der Schuld de Ruyters, der von seinem Komplicen geprellt sein kann. Oder er hat aus Angst vor den Folgen seiner Tat zur Waffe gegriffen …«
Der Untersuchungsrichter sprach noch weiter, aber die beiden anderen wandten sich zum Korridor hin, auf dem man schnelle Schritte hörte.
Geheimrat Wildner trat ein. Ging kurz grüßend bis an die Leiche und sagte:
»Das ist das Ende … Gott sei Dank, er hat sich und uns eine Menge widerwärtige Arbeit erspart.«
Dr. Losch meinte: »Der Herr Kommissar ist nicht der Ansicht, daß er das beabsichtigt hat.«
»Wieso?« Der Geheimrat wandte sich an Dr. Splittericht. »Sie meinen, er hat nicht selber Hand an sich gelegt?«
Der zuckte die Achseln:
»Jedenfalls ist es nicht bewiesen … und solange liegt die Möglichkeit vor, daß der Mittäter, das heißt eigentlich der Hauptschuldige sich des unbequemen Mitwissers entledigt hat, der nebenbei sehr gefährlich für ihn werden mußte.«
»Ich will mir doch mal die Verwundung ansehen«, sagte der Geheimrat.
Der Diener, den Thekla hineingeschickt hatte, räumte den Tisch ab.
Er und der Kommissar legten den Leichnam darauf und entkleideten den Oberkörper.
Der linke Arm des Toten war ganz mit blauen Tätowierungen, alle möglichen Embleme darstellend, bedeckt. Auf der rechten Brust war ein schönes Bild eingeätzt.
Der Staatsanwalt betrachtete all das sehr interessiert, zuckte aber abweisend die Schultern, als Dr. Lindenblatt sagte:
»Nach Lombroso sind das Merkmale des Gewohnheitsverbrechers.«
Geheimrat Wildner, der schon die Wunde an der linken Brust des Toten untersuchte, sah auf:
»Sie halten nichts von Cesare Lombroso?«
Der Staatsanwalt verzog nur grinsend den Mund.
»Nun«, sagte Wildner, »ich halte Lombroso für eines der größten Genies der Weltgeschichte … Wohl eilt er seiner Zeit, die gerade juristisch und psychiatrisch noch im dicksten oder sagen wir besser im dümmsten Nebel steckt, ja, der eilt er um Jahrhunderte voraus … Aber er ist der Heros einer besseren Epoche, die den Menschen so betrachten wird, wie er wirklich ist … nicht, wie ihn verstiegene Idealisten und Flausenmacher uns erklären möchten!«
Der alte Gelehrte redete sich in Eifer. Er schloß:
»Ich weiß ja, das alles hat keinen Zweck! Die Herren Juristen sehen die Welt doch nur durch ihre Paragraphenbrille! …«
Er hatte sich wieder über den Toten gebeugt, hatte seine Sonde aus der Tasche genommen und sie in den Wundkanal eingeführt. Er wurde sehr aufmerksam, sah Dr. Splittericht an und meinte:
»Der Schußkanal geht merkwürdig schräg … Der Mann müßte den Revolver ganz schief gehalten haben … Außerdem fehlt an den Kleidern, an der Wäsche und ebenso auch am Körper jede Brandstelle! Was auch auffällig ist … bitte, helfen Sie mir doch, den Körper mal umdrehen!«
Der Diener griff zu und brachte den Leichnam aufs Gesicht.
»Da!« sagte Geheimrat Wildner, auf einen dunklen Fleck unterhalb des rechten Schulterblattes fühlend, »hier sitzt die Kugel! … Darf ich mal den Revolver sehen?«
Dr. Splittericht reichte dem alten Herrn die Waffe, der eine Patrone aus der Kammer zog:
»Ja, ganz richtig … ein Bleigeschoß, das trotz der starken Ladung den Körper nicht völlig durchschlagen hat, sondern unter der Haut steckengeblieben ist … Ich bin nämlich Jäger, meine Herren, daher die ballistischen Kenntnisse!«
Dr. Lindenblatt und selbst der Staatsanwalt waren sehr interessiert.
»Und Sie meinen, Herr Geheimrat, eine derartige Wunde kann sich der Tote nicht selber beigebracht haben?«
Der Chirurg verzog ein wenig seinen weißen Schnurrbart.
»Daß er es nicht kann, Herr Staatsanwalt, oder vielmehr gekonnt hätte, das will ich nicht sagen … Aber bei dieser, in einem völlig spitzen Winkel zur Körperdiagonale verlaufenden Schußrichtung ist ein Selbstmord sehr unwahrscheinlich. Auch pflegen die Leute, die sich das Leben nehmen und natürlich doch des Erfolges möglichst sicher sein wollen, für gewöhnlich die Waffe nicht so weit vom Körper abzuhalten. Bei sechs und acht Zentimeter Mündungsentfernung – ich habe mich für derartige Dinge bei den Kriminalprozessen immer sehr interessiert –, also bei annähernd einem Dezimeter Entfernung vom Körper ruft der Schuß, besonders aus einer so starkgeladenen Waffe, immer noch Verbrennungserscheinungen hervor. Aber selbst darüber würde ich wegsehen … wenn … wenn nicht diese ganz unmotivierte Schußrichtung. Hier, bitte, sehen Sie doch, quer durch den Oberkörper! Wenn die nicht wäre … Was meinen Sie, Herr Doktor!«
Dr. Splittericht zögerte, als wollte er den beiden anderen Herren erst Zeit und Gelegenheit geben, ihre Ansicht zu äußern. Die schwiegen aber. Deshalb sagte er: »Ich glaube, der Helfershelfer de Ruyters ist heute nacht wieder hergekommen. Sei es, daß es sich nur um die Teilung der Beute handelte, oder, wie ich nach dem Tasten an der Boudoirtür fast vermute, daß er da noch etwas anderes vorhatte. Dann haben sich die beiden hier in de Ruyters Atelier auseinandergesetzt und dabei hat der Komplice nach einem wahrscheinlich längst verfaßten Plan de Ruyter erschossen …«
Dr. Splittericht atmete tief. Nicht daß ihm das Sprechen Mühe machte. Aber er empfand das viele Reden selbst als so überflüssig …
»Sie meinen also,« sagte der Staatsanwalt, der bei all seiner Negation doch ein scharfer Kopf war, »der andere hat sich de Ruyters nur als Werkzeug bedient. Sie meinen, er hätte von vornherein beschlossen, ihn auszuschalten, sobald er seinen Dienst getan hatte …«
»De Ruyter muß also ein ziemlicher Dummkopf gewesen, sein,« warf Dr. Lindenblatt ein, »daß er das nicht vorausgesehen hat!«
»Na, hören Sie mal, Herr Kollege! Daß sie ermordet werden sollen, das sehen nur die wenigsten Menschen voraus!«
»Aber das mein' ich doch auch nicht! … Die Folgen! … An die Folgen seiner Mittäterschaft hatte de Ruyter doch denken müssen!«
»Er hätte mit dem Alibi kaum verhaftet werden können!«
»Aber das Opiat?«
»Das nachzuweisen ist dem Herrn Kommissar nur durch einen Zufall gelungen! Wenn das Glas nicht zerbrochen wäre, würden wir nichts davon wissen.«
Der Geheimrat hatte den Körper mit dem hellgrauen Jackett zugedeckt. Er sagte:
»Ich werde ihn morgen abholen lassen … wenn die Gerichtsbehörde einverstanden ist … Sie wissen wohl, Herr Staatsanwalt, daß ich für den Ort auch die Totenschau habe – … Ja, die Herren streiten sich über de Ruyters Erfolgsmöglichkeiten. Die waren ohne den Nachweis des Opiats und die Auffindung des Alexandrits in seinem Schlafzimmer nicht so gering. Aber wovon wir ausgegangen sind und was mir vorläufig am wichtigsten scheint, ist doch die Frage: hat de Ruyter Selbstmord begangen oder ist er erschossen worden? – Und da neige ich mit Herrn Dr. Splittericht, wie gesagt, ganz zu der letzten Annahme. Ich bin auch der Ansicht, daß der zweite Verbrecher, der ja ein ausgemachter Teufel sein muß, der geistige Urheber des ganzen Mordplanes ist … denn alle Veranlassung hatte er ja zu dieser zweiten Bluttat! … Offenbar hat der Mörder sein Opfer überrumpelt! … Sind Sie nicht auch meiner Ansicht, Herr Doktor?«
»Vollkommen, Herr Geheimrat! Ich stelle mir die letzte Tat etwa so vor: der zweite Verbrecher hat, während die Beute geteilt werden sollte oder sonst bei einer Gelegenheit, den Moment abgewartet, wo de Ruyter ihm den Rücken zudrehte … In diesem Moment hat er den Revolver gezogen, um dann, in dem Augenblick wo sich Wolf Stark ihm wieder zuwandte, loszudrücken …«
Der Staatsanwalt nickte:
»Sehr wahrscheinlich! … Ihn von hinten niederschießen, das wollte der Komplice nicht, weil dann die Fiktion des Selbstmordes fortgefallen wäre.«
»Womit,« fiel der Untersuchungsrichter ein, »er uns aber auch nicht täuschen konnte, wie es sich jetzt erwiesen hat! Denn …«
»Aber, lieber Herr Kollege!« Dr. Losch kratzte sich in komischer Verzweiflung hinterm Ohr. »Sie rennen doch immer nach der entgegengesetzten Seite …«
»Wieso?«
»Weil es doch darauf gar nicht ankommt!«
»Aber hören Sie mal, lieber Losch!!!
»Nein, ich höre jetzt nicht! … Es ist nach zwei Uhr, und für mich hat so spät nur noch das Interesse, was unbedingt zur Sache gehört! Das ist aber, wie der Herr Kommissar es vorhin nannte, die zweite Tat, der höchstwahrscheinliche Mord des Unbekannten an de Ruyter! … Ich sehe jetzt mit den anderen Herren ganz klar: de Ruyter bat die Kugel erhalten in dem Moment wo er sich umdrehte. Daher die schräge Richtung und das gänzliche Fehlen von Brandmalen an de Ruyters Kleidung und Körper … Ja, bester Kollege, ich verstehe Ihr skeptisches Gesicht! Sie wollen sagen: was nützt alles das, solange wir den Doppelmörder nicht haben! … Und da meine ich, heute nacht werden wir ihn wohl nicht mehr fangen! Ich bin jedenfalls zu müde dazu!«
»Ich eigentlich auch«, sagte Dr. Lindenblatt. Der Staatsanwalt hatte ihm die Hand gereicht, und das hatte ihn rasch versöhnt.
»Und daß ich mich den geehrten Herren Vorrednern anschließe, wird man bei meinem Alter begreiflich finden!« sagte der Geheimrat.
Alle lächelten, nur des Kommissars Züge blieben sich immer gleich.
»Ich,« meinte er, »möchte, wie wir es ja besprochen haben, hier im Hause bleiben …«
»Ja glauben Sie denn, der Verbrecher wird zum dritten Male hierherkommen?«
»Das nicht, Herr Staatsanwalt, aber ich bin wie ein Jäger. Ich verzichte ungern darauf, wenn ich mir mal einen Ansitz oder etwas Derartiges vorgenommen habe.«
»Für seine Liebhabereien kann keiner!« sagte Dr. Losch. Und der Untersuchungsrichter meinte:
»Ich kann mir das vorstellen! Bei dem Sport – denn eine Art Sport ist es doch, den Herr Dr. Splittericht betreibt –, da gelten keine Nerven! Da gibt es keine Müdigkeit! Da gibt's nur eins: den Erfolg! Dem ordnet sich alles unter!«
»Na, und wollen Sie denn dem Herrn Kommissar nicht ein bißchen Gesellschaft leisten, lieber Lindenblatt?« neckte der Staatsanwalt, »da hat er es doch leichter!«
»Ich danke – danke! Ich bin kein Sportsmann!«
Herr Dr. Lindenblatt stand schon in der Tür mit dem Geheimrat, der sich noch mal nach seiner Patientin umsehen wollte.
»Ist es Ihnen nicht ein bißchen gruselig mit dem da?« fragte der Staatsanwalt, auf den Leichnam, der auf dem Tisch lag, hinzeigend.
»Ich war in den Pestjahren in Indien. Da hab' ich Haufen von Leichen gesehen … und was für welche …«
»Sie kennen wohl überhaupt keine Furcht?«
»Ich weiß nicht,« sagte Dr. Splittericht, »ich kann mir von der Art dieses Gefühls keine rechte Vorstellung machen.«
Gleich darauf war er allein im Atelier. Draußen im Gange hörte er noch Stimmen, hörte die der jungen Dame des Hauses deutlich aus den anderen heraus und dachte einen Augenblick daran, ob wohl ein Wesen wie Thekla, das ihm alle Sympathie einflößte, in seinem Entschluß, allein zu bleiben, wankend machen könnte? … Dann verklangen die Männerschritte die Treppe hinab, das Haustor ging. Das Haustor …
Ja, da hinaus hätte der Verbrecher doch entfliehen müssen … Allerdings konnte er auch den Weg nach hinten durchs Treibhaus wählen, den der Kommissar selbst vorhin gegangen war und den de Ruyter seinem Komplicen wohl jedenfalls erklärt haben würde.
Aber auf alle Fälle hätte der Verbrecher doch den Gang entlang kommen müssen. Einen anderen Weg gab es einfach nicht, um das Haus zu verlassen. Es sei denn, daß er sich aus dem Fenster herabgelassen hätte, was hier am Markt, noch dazu bei dem hellen Mondschein, von der Straße aus sicher bemerkt worden wäre. Aber wie war das nun?
Die Krankenschwester, die doch einen recht sicheren Eindruck machte, hatte nur davon gesprochen, daß vor dem Schuß jemand über den Korridor geschlichen sei, an ihrer Tür haltgemacht hätte, dann leise weiter gegangen und schließlich auch vor der Boudoirtür stillgestanden wäre. Dann sollte er nach rechts, also zurück nach dem Atelier geschlichen sein.
Aber war er auch von dort gekommen?
Wahrscheinlich doch! Er mußte doch von unten herauf irgendwie ins Haus gedrungen sein. Von vorn war es schwieriger, denn einmal machte das schwere Haustor beim Aufschließen und Oeffnen ein ziemliches Geräusch, zum anderen aber mußte das nächtliche Betreten des Hauses, obendrein dieses Hauses, durch einen fremden Menschen auffallen …
Vielleicht war er über Tag irgendwo versteckt gewesen und hatte den Weg durch Gärten und Höfe genommen.
Dem Kommissar ließ es keine Ruhe: Er mußte von der Krankenschwester noch einmal genau hören, wie ihre Beobachtungen in der Nacht gewesen waren!
So verließ er das Atelier, das er hinter sich abschloß. Aber ehe er den Fuß über die Schwelle setzte, sah er – warum?, das hätte ihn niemand fragen dürfen – noch einmal aufmerksam zu dem Toten hin.
Der erschossene de Ruyter lag wieder auf dem Rücken. Auf dem sehr großen Tisch hatte der nicht kleine Leichnam beinahe Platz. Nur die Füße in ihren Lackstiefeletten mit grauem Wildledereinsatz ragten ein wenig über die Platte hinaus. Ueber den Oberkörper hatte man wieder das Hemd gezogen und dann hatte ihn Geheimrat Wildner mit dem hellgrauen Jackett sorgsam zugedeckt …
Dr. Splittericht ging leise über den Gang und blieb vor dem Krankenzimmer stehen; leise klopfte er an die Tür: »Ich bin's … Dr. Splittericht.«
Zu seiner Ueberraschung öffnete ihm Thekla.
»Wir lösen uns ab, Schwester Adelheid und ich«, erklärte sie, auch nur mit den Lippen redend, und bat ihn mit einer Handbewegung, einzutreten.
»Ich wollte Schwester Adelheid etwas fragen … und zwar über ihre Wahrnehmungen auf dem Korridor«, sagte der Kommissar beinahe lautlos.
Thekla ging zur Tür, die ins Boudoir führte, und nahm behutsam die Portiere herab:
»Jetzt können wir ein wenig ungenierter reden, Herr Kommissar … Die Arme hat mir vorhin erzählt, daß sie in den letzten Nächten kaum eine Stunde geschlafen hätte … Sie ist offenbar besonders gewissenhaft und hat daher das Glück, stets zu den schwersten und anstrengendsten Fällen gerufen zu werden! … Und da möcht' ich sie gern, wenn's nicht gar zu eilig ist, ein bißchen ruhen lassen! … Wollen Sie inzwischen wieder gehen, Herr Kommissar, oder wollen Sie mir ein bißchen Gesellschaft leisten?«
Dr. Splittericht nickte zustimmend und setzte sich auf ein kleines Taburett, unweit des Lehnstuhles, der am Krankenbett stand.
»Vielleicht«, sagte Thekla, »haben Sie auch mich noch etwas zu fragen. Ich antworte Ihnen gern!«
Er dachte nach, ein klein bißchen abgelenkt durch den Reiz des schönen Mädchenkopfes, der sich in der tiefen blauen Dämmerung der verschleierten Lampe des Krankenzimmers allein von dem dunklen Lederpolster abhob …
Die Kranke lag still, nur von Zeit zu Zeit glitten die Finger der Fiebernden mit leisem Kratzen über die Daunendecke.
»Seit wieviel Jahren ist der Tote hier im Hause gewesen«, fragte er plötzlich.
Thekla richtete sich jäh im Sessel auf. Mit zitternder Stimme, ohne im Augenblick an die Kranke zu denken, rief sie:
»Also Sie haben die Ueberzeugung gewonnen, daß Wolf Stark … daß er es getan hat?«
»Pst! … Mein Fräulein … leise … leise! …«
»Ach so …« Sie hielt die Hand an den Mund: »Aber es ist so, Herr Kommissar, nicht?«
»Leider ja … Wenigstens – daß er mitschuldig war.« Sie sank zurück.
Er legte für eine Sekunde die Hand auf ihren Arm:
»Sie müssen sich mit dem Gedanken vertraut machen, mein Fräulein, so schwer Ihnen das vorläufig auch ankommen mag …«
»Aber meine Tante! … Was wird Tante sagen, wenn sie es erfährt! Und erfahren wird sie es doch mal!«
»Wenn Ihre Frau Tante Leben und Gesundheit wiedererlangt, dann wird sie auch die Kraft haben, diese allerdings fürchterliche Kunde zu ertragen. Ein wirklich inniges Verhältnis hat ja doch, soweit ich von Ihnen, liebes Fräulein, und auch von anderer Seite erfahren habe, längst nicht mehr zwischen den beiden bestanden.«
Thekla schüttelte den Kopf.
»Bei Tantes vornehmer Gesinnung war das unmöglich. Wolf Stark war alles andere nur kein nobel empfindender Mensch! Aber Sie wollten wissen, Herr Kommissar, wann er hierherkam? … Ja, das muß jetzt fünf Jahre her sein … nein, vierundeinhalb Jahre etwa. Ich war damals vierzehn. Ich entsinne mich noch ganz deutlich: er kam gerade nach meinem Geburtstag, der am 8. Januar ist. Es war ein sehr kalter Tag … und wir waren sehr aufgeregt … besonders Tante! Es war doch der Sohn Jan Stark de Ruyters, den sie erwartete … Und dieser Onkel – auch ein Bruder meines Vaters, gerade wie Harold de Ruyter, Tantes späterer Mann – der war, wie sie mir einmal im Vertrauen erzählt hat, Tantes erste Liebe … Sie waren heimlich fest versprochen und, wenn ihr auch alle abredeten, so hätte ihn Tante Amaranth doch genommen … Da, gerade einen Tag, ehe die Verlobung gefeiert und bekanntgemacht werden sollte, reiste Onkel Jan Stark plötzlich ab … ohne ein Abschiedswort … ohne Brief an die Tante … Viel später hat er ihr erst geschrieben, er fühlte sich ihrer nicht würdig, und er hätte das bestimmte Gefühl, daß er sie doch nur unglücklich gemacht hätte. Deswegen sei er so ohne Adieu in die Welt gegangen … Ich glaube, Tante war lange Zeit danach recht krank und hat die Enttäuschung sehr schwer überwunden … Dann, nach Jahren, hat sie den jüngeren Bruder ihres ersten Verlobten geheiratet. Und ich glaube, sie ist mit Onkel Harald, der ebenso wie sein älterer Bruder und wie mein seliger Vater nun schon lange tot ist, sehr glücklich gewesen …«
»Ihr Herr Onkel, Jan Stark meine ich, der hat sich dann im Ausland verheiratet?«
»Ja, in Chile, mit einer Kreolin. Er war auch einmal in Europa mit ihr … Tante sagt: sie wär' eine wunderschöne Person gewesen.«
»Hatten die Eheleute da schon ein Kind, einen Sohn?«
»Das weiß ich nicht. Aber mir ist fast so, als hätte Tante das mal gesagt. Ich weiß nur, daß meine Tante, wenn irgend wieder eine Schlechtigkeit von Wolf Stark ans Tageslicht kam, immer sagte: So etwas hätte sein Vater nie getan!«
Dr. Splittericht nickte:
»Und nun kam vor vierundeinhalb Jahren Wolf Stark zurück nach Europa? … Sie oder vielmehr Ihre Tante, hatten doch schon vorher mit ihm korrespondiert?«
»Gewiß! Eine ganze Zeit sogar. Wolf Stark wollte nämlich anfänglich gar nicht zurück. Er war Künstler und – was mir allerdings nach dem, was ich später hier von ihm gesehen habe, ein bißchen unbegreiflich vorkam – er verdiente dort mit seiner Kunst viel Geld! Damals lebte er in San Franzisko.«
»Aber Sie sagten, er wollte eigentlich gar nicht zurück in die Heimat seines Vaters?«
»Nein, er lud uns ein ihn doch in Amerika zu besuchen … und wissen Sie, Herr Kommissar« – Thekla zögerte ein wenig – »es fällt mir schwer, es zu sagen: ich glaube heute, Wolf Stark wußte damals noch nicht, wie vermögend Tante ist! Denn zur Zeit, als sein Vater in die Neue Welt ging, da waren die de Ruyters sämtlich ohne Vermögen. Meinem Onkel Harald hat die Tante ihr Erbteil zugebracht, und das hat er dann durch glückliche Spekulationen sehr vermehrt –«
»Sie meinen, sobald Wolf Stark das erfahren hatte, hätte er seine Absicht geändert und wäre hergekommen?«
»Ja, das hat er mir sogar später mal ganz offen eingestanden. Er sagte damals: ›Wenn hier nicht so scheußlich viel Geld wäre, hättet ihr mich nie zu Gesicht gekriegt!‹ Später stellte er das denn als einen Scherz hin, wie er überhaupt meist sehr darauf bedacht war, den äußeren Schein zu wahren.« –
»Wie motivierte er aber seine Willensänderung … daß er nun doch herkommen wollte?«
»Eigentlich gar nicht. Er telegraphierte: ›Komme dann und dann …‹ und war vierzehn Tage später hier.«
»Wie stand er sich im Anfang mit Ihrer Frau Tante?« Thekla dachte nach:
»Im Anfang … ich weiß nicht – Tante Amaranth ist eine so überaus gütige und dabei auch sehr gescheite Frau … sie überlegt sich eine Sache lange, ehe sie etwas darüber sagt … aber wenn ich so recht darüber nachdenke, dann habe ich doch das Gefühl, als hätte er ihr von allem Anfang nicht gefallen! Später sagte sie direkt, ihr wäre es viel lieber, wenn Wolf Stark in Amerika geblieben wäre … Ja, und eins noch: ganz kurze Zeit, ehe sein Telegramm ankam, hatte Wolf Stark uns geschrieben, er würde nach Mexiko gehen. Er hätte von einem großen amerikanischen Blatt den Auftrag, Skizzen aus dem Leben der Cowboys zu zeichnen.«
»Haben Sie noch Briefe von Wolf Stark aus jener Zeit?«
»Ich glaube ja. Er schrieb immer mit einer kleinen Schreibmaschine. Die hat er auch später mitgebracht und hier immer benutzt …«
Die Kranke schrie plötzlich laut auf.
Einen Augenblick später stand Schwester Adelheid in der Tür und war sogleich an Frau de Ruyters Bett.
Dr. Splittericht grüßte sie leise. Aber sie und Thekla waren so mit der Leidenden beschäftigt, daß sie es nicht bemerkten. Da zog sich der Kommissar geräuschlos zurück.