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Im hellen Morgenlicht lag hier noch immer der Leichnam des Dittrich, dessen Oberkörper das Jackett verdeckte auf dem Tisch.
Im Atelier standen Dr. Losch, neben ihm der Untersuchungsrichter und der Kriminalkommissar. Die Herren bewillkommten die Eintretenden, der Staatsanwalt sagte zu Thekla:
»Sie glaubten wohl, gnädiges Fräulein, daß Sie schon wieder ungebetenen Besuch bekommen hätten? Aber nein, diesmal sind wir's! Und zwar auf einem ganz neuen Wege, den mir der Herr Kommissar gezeigt hat!«
Er wies dabei auf die noch unter dem aufgeklappten Fenster stehende Atelierleiter hin.
Thekla, die ein unüberwindliches Gefühl des Grauens in diesem Raume gefangen hielt, sah ernst und ein wenig verwirrt von dem Redenden zum offenen Fenster. Der Geheimrat war an die Leiter getreten und sagte leise mit dem, trotz seines weißen Haares jung wirkenden Kopf nickend:
»Da ist der Verbrecher eingedrungen? …«
»Ja,« erklärte Dr. Lindenblatt, »und nebenan in dem leerstehenden Hause hat er ein von ihm selbst, das heißt mit Hilfe seines Freundes, möbliertes Zimmer bewohnt!«
»Eine nette Freundschaft!« meinte Professor Wildner. »Na, jedenfalls meine Herren, werden Sie gut tun, erst einmal mit hinunterzukommen! Unten im Salon zernieren Herr Amtsvorsteher v. Dose und mein Freund Matthias Claudius einen jungen Mann, der ebenfalls der Mörder sein soll!«
Dr. Loschs schmale Lippen wurden noch schmaler, der Mund breiter. Er wandte sich an Dr. Splittericht, der eine, auf einem alten Wandschrank stehende Briefschatulle herabgenommen hatte und darin herumstöberte: »Wollen Sie den Herrn Amtsvorsteher nicht als Gehilfen engagieren?«
Dr. Splittericht, der eben etwas Interessantes gefunden zu haben schien, blickte auf und schüttelte ernsthaft den Kopf, worauf Dr. Lindenblatt leise lachte. Aber der Staatsanwalt meinte:
»Na, Kollege, ich glaube, Sie glauben …«
Dr. Lindenblatt winkte ab:
»Ich weiß schon, lieber Losch! … Ich weiß schon, was Sie sagen wollen … aber ich bin ja auch nur Untersuchungsrichter.«
Die beiden Juristen, die sich von ihrer Universitätszeit her kannten, verband trotz ihrer so großen Verschiedenheit ein aufrichtig kameradschaftliches Gefühl. Sie nahmen sich gegenseitig nichts übel.
»Dann wollen wir nur gehen«, sagte Dr. Lindenblatt zu Thekla gewendet, »und Ihren neuen Verwandten erlösen, mein Fräulein!«
Thekla dankte mit ihrem liebsten Lächeln.
»Denn«, fuhr der Untersuchungsrichter fort, »unser verehrter Doktor-Kommissar hat die Spur des Raubmörders nicht allein ins Nebenhaus, sondern sogar bis auf den Bahnhof verfolgt. Von dort ist er, das heißt der Mörder, daran ist gar nicht zu zweifeln, mit einem Auto heute früh um vier Uhr nach Annenaue gefahren und hat da den Personenzug, der nach Breslau fährt, genommen. Also in Breitenberg, respektive hier im Hause kann er jetzt nicht mehr gut sein!«
»Ach!« machte der Geheimrat, »schon die ganz ungewöhnliche Aehnlichkeit mit dem Onkel des Fräuleins, also mit seinem Vater, muß ja jeden Verdacht zerstören!«
»Sie meinen jetzt aber den Herrn unten im Salon«, sagte der Staatsanwalt in seiner Weise.
Und Thekla, ohne die Ironie zu bemerken, fiel rasch ein:
»Ja, wir besitzen zufällig ein Bild meines Onkels Jan Stark aus seiner Jugendzeit … und … und …« Sie verwirrte sich, wurde rot, sah hilfesuchend den Professor an, der freundlich vollendete:
»Und dieses Porträt ist dem jungen Mann unten zum Verwechseln ähnlich!«
Man war im Fortgehen. Da sagte Dr. Splittericht, der noch immer über die Briefschatulle gebeugt stand, sich aufrichtend:
»Einen Augenblick, meine Herren! … Ich finde hier einen Brief, der ganz sicher von dem Verbrecher herrührt. Darf ich vorlesen, ja?«
»Lieber Edward! Wir müssen die Sache um acht Tage verschieben. Ich habe seit ein paar Tagen wieder Schmerzen und Husten, wie nicht klug. Das könnte uns hinderlich sein. Aber es ist nur das verdammte kalte Wetter, der Winter will ja dies Jahr nicht alle werden. Du mußt unterdessen die neuen Buchstaben auf jeden Fall rauskriegen! Gib Dir Mühe und sei nicht immer so ein fauler Hund! … Du weißt, was davon abhängt! Denn Du mußt Dir doch sagen, daß der andere eines Tages wiederkommen kann und ob wir ihn dann rechtzeitig abfassen und ausblasen können, das ist doch sehr zweifelhaft? Auf jeden Fall ist es besser, sich beizeiten zu drücken – für Dich! Natürlich nicht ohne …!! Denn das wäre ja noch dümmer! Sowie Du die Buchstaben hast, …«
»Er meint die Stellziffern des Geldschrankes«, schaltete der Kommissar ein, »und der Brief bestätigt nur, daß der ganze Diebstahls- und Mordplan von langer Hand vorbereitet war!«
»Ja, aber weiter … weiter!« drängte Dr. Losch, der nähertrat.
»so schreibe mir sofort!« las der Kommissar. »Ich sitze hier auf meinem Kaff, huste und langweile mich scheußlich. Der Alte sollte mir Geld geben für die Reise, aber er denkt gar nicht dran. Und dabei hat, wie ich letztes Mal in B. war, der Doktor gesagt, wenn ich nicht bald was unternehme, geh' ich kaputt. Eine angenehme Aussicht, was?«
»Es scheint sich da um einen Schwindsüchtigen zu handeln,« meinte der Geheimrat.
Der Kommissar nickte:
»Etwas Aehnliches habe ich mir gedacht, als Schwester Adelheid gestern das Hüsteln erwähnte … Ein so alter, durchtriebener Verbrecher vermeidet ängstlich alles, was ihm zum Verräter werden kann. Und gerade der Husten …«
»Was schreibt er denn sonst noch?« wollte Dr. Losch wissen.
Der Kommissar überlas den Schluß des Briefes:
»Ja, das bestätigt unsere Vermutung! Er schreibt:
»Ich habe ja vielleicht bloß noch ein paar Jemmchen vor mir,« (das heißt: Jahre) »die möcht' ich aber in einem besseren Klima verleben, nicht in dem sogenannten Vaterlande, das mich durch seine Niederträchtigkeit ruiniert hat. Na, ich komme vielleicht noch dazu, der Bande zu zeigen, daß man die Menschen nicht umsonst verdirbt! Uebrigens, Du mußt mir etwas Geld schicken, vielleicht so zwei- bis dreihundert, das genügt. Ich kann hier doch nichts ausgeben. Und vergiß es gefälligst nicht wieder, ohne Kies kann ich nicht fort. Und die hier geben keinen Pfennig. Ich soll arbeiten! Ja, wenn ich könnte! Und will auch nicht! … was denn? Und wo? Seit zehn Jahren ohne Papiere! Also Schluß! Schreib' bald und tu, was ich Dir gesagt habe! Sonst bin ich eines Tages wieder da und …!
Gruß!
Harry.«
»Darf ich mal sehen?« bat der Untersuchungsrichter und streckte die Hand nach dem auf ordinäres Papier geschriebenen Briefe aus.
Der Staatsanwalt grinste:
»Ich verspreche Ihnen den Brief später für Ihre Sammlung, lieber Lindenblatt! … Jetzt Studien über den Charakter der Handschrift anzustellen, hat kaum Zweck! Lieber soll uns Dr. Splittericht sagen, was er da sonst noch herausliest!«
Dr. Lindenblatt gab achselzuckend das Blatt zurück:
»Wer die fundamentalen Wahrheiten der Graphologie nicht in sich erlebt hat, dem ist nicht zu helfen!«
»Zu viel Gründlichkeit schadet!« replizierte Dr. Losch.
»Na, mit der Ironie allein kommt man auch nicht weiter!«
Da meinte der Geheimrat:
»Ich bitte um Verzeihung, meine Herren, aber unten wartet der neue Herr de Ruyter noch immer auf uns!«
»Ja, ja …«
»Ganz richtig!«
Die beiden Juristen folgten dem alten Herrn, der ihnen mit Thekla voranschritt. Den Schluß machte Dr. Splittericht, der, wiewohl in Gesellschaft, mit seinen Gedanken allein war. Als er heute früh den Schlupfwinkel des Verbrechers, das Zimmer drüben im unbewohnten Hause, das auf seine Weisung gesäubert worden war, noch einmal durchsuchte, da hatte er ein in blaue Seide gebundenes dünnes Notizbuch gefunden. Die ersten Blätter waren herausgerissen, sonst alles unbeschrieben. Das fiel ihm jetzt ein. Er ging rasch an Dr. Losch und Dr. Lindenblatt vorbei, an Theklas Seite und zeigte ihr das Heftchen:
»Können Sie sich erinnern, gnädiges Fräulein, etwas Derartiges bei dem Menschen gesehen zu haben, der sich für Ihren Vetter ausgab?«
Thekla war voller Ungeduld. Ihr Herz schwoll von Mitgefühl für den Blonden, der im Salon wie ein Gefangener zwischen dem Amtsvorsteher und dem Hoteldirektor stand. So hatte sie nur mit geringem Interesse dem Vorlesen des Briefes zugehört, denn immer bewegte sie der eine Gedanke: wie kann man hier stehen und warten, wo da unten ein Mensch in so entwürdigender Lage festgehalten wird! … Und nun kam der Kommissar wieder mit einer Frage und sie von neuem zurück! … Sie mochte kaum hinsehen! … Was hatte er denn bloß?!
Aber als ihr Blick das blauseidene Büchelchen streifte verhielt sie selber den Schritt und sagte:
»Ja, das gehörte meinem … dem Menschen, der erschossen ist …«
Sie sah von neuem den Leichnam auf dem Ateliertisch, von dem sie sich, solange sie im Atelier bleiben mußte, geflissentlich abgewandt hatte. Und ein Entsetzen überkam sie vor all dem Furchtbaren! Dachten die Herren in ihrem Eifer, dieses blutige Rätsel zu ergründen, nicht daran, daß sie doch nur ein Weib war, ein junges Mädchen? Ihre starken, schwarzen Brauen wurden ganz eng.
»Ach, das alles ist schrecklich, Herr Kommissar!« sagte sie endlich.
Der begriff sofort:
»Ja, in der Tat, wir sollten Sie nicht damit behelligen. Es ist wirklich nichts für Frauennerven!«
Der Geheimrat griff nach Theklas Hand:
»Da habe ich um Verzeihung zu bitten! Mein dummes Interesse für solche Kriminalsachen! … Aber nun hörten wir im Atelier sprechen, hatten keine Ahnung, wer das sein könne – ich dachte ja gar nicht mehr an den Toten. Nein, wahrhaftig, ich hätte Sie da nicht mit hereinnehmen sollen, liebes Fräulein!«
Thekla lächelte wieder. Sie stand an der Treppe:
»Das wollten Sie ja auch nicht, Herr Geheimrat! Ich bin eigentlich gegen Ihren Willen mitgekommen. Es ist also meine Schuld! … Und das Buch da, Herr Kommissar? Davon ließ sich der Tote immer gleich ein Dutzend anfertigen. Es müssen sich gewiß in seinem Zimmer noch welche finden. Er trug sie gewöhnlich in der Brieftasche.«
»Ich danke«, sagte Dr. Splittericht. Und da für ihn jetzt nur »der Fall« existierte, und er keine Ahnung hatte, wie es die schöne Schwarzhaarige drängte, hinunter in den Salon zu kommen, hielt er den Staatsanwalt an der Treppe abermals fest: »Das ist das Notizbuch, Herr Staatsanwalt, nach dem ich gestern abend suchte, als wir den goldenen Crayon bei dem Toten fanden. Ich bin überzeugt, er hat im Sterben den Namen seines Mörders hineingeschrieben.«
»Und der hat dann das Blatt herausgerissen, ehe er das Notizbuch fortwarf«, stimmte Dr. Losch zu. »Wenn wir ihn nur erst hätten, den Kerl! Aber ich fürchte, ich fürchte …«
»Mein Gott!« bemerkte der Untersuchungsrichter, »Anhaltspunkte sind eigentlich genug da!«
»Ja«, knurrte der Staatsanwalt, »allerdings! Der Mörder hustet!«
»Nein, aber er hat die Edelsteinsammlung mitgenommen! Die muß er doch irgendwo verkaufen, die Steine … was meinen Sie, Herr Kommissar?«
Doch Dr. Splitterichts Mitteilsamkeit war erschöpft, er zuckte nur die Achseln:
»Das ist anzunehmen …«
»Ich darf mich wohl vorläufig empfehlen?«
»Aber nein, pardon, ich bitte recht sehr!« lachte der Geheimrat. »Nur glaub' ich, wir werden den Herrn Kommissar unten im Salon noch nötig haben!«
Mit Mühe zwang sich Thekla zum Schweigen. Sie nickte lebhaft und lächelte beinahe hilflos dabei.
»Ja, kommen Sie nur lieber mit!« entschied Dr. Losch und ließ dem jungen Mädchen den Vortritt.
Die Situation im Salon war noch immer die gleiche: der Hoteldirektor beim Eingang, Herr v. Dose am Fenster, und der vermeintliche Mörder am Tisch, im Fauteuil sitzend, wo er interessiert eine Mappe mit alten Kupferstichen betrachtete.
Wolf Stark erleichterte die heikle Situation, indem er aufsprang und sich den drei ihm noch unbekannten Herren mit einer Verbeugung zuwandte, die allseitig erwidert wurde.
Dann ging Dr. Losch, dessen spöttische Schärfe hier ganz ausfiel, zu dem Amtsvorsteher und konferierte leise mit ihm. Erst als Herr v. Dose hartnäckig blieb und offenbar auch jetzt noch auf der Verhaftung bestehen wollte, wurde das Organ des Staatsanwalts etwas deutlicher.
»Pardon Herr Amtsvorsteher, ich nehme die volle Verantwortung in der Angelegenheit auf mich!«
»Dann ist meine Pflicht getan«, sagte der Amtsvorsteher, verabschiedete sich mit einer kurzen, eckigen Verbeugung von dem Beamten und schritt hoch aufgerichtet zur Tür. Aber im Hinaustreten siegte doch der Kavalier in ihm. Er blieb stehen und sagte mit einer tiefen Neigung gegen Thekla:
»Auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein!«
Herr Matthias Claudius, fassungslos, hastig:
»Guten Morgen!«
Und schlüpfte hinter seinem Gönner zur Tür hinaus.
Thekla huschte mit einem »Verzeihung!« hinterher. Die im Salon vernahmen ihre klare Stimme noch und die des Amtsvorstehers, dem sie gewiß etwas Liebes und Gutes sagte, denn, ehe die Schritte sich entfernten, hörte man ihn lachen.