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»Der Mann den wir jetzt aufsuchen,« sagte der Kommissar, das Auto zahlend, das sie ins Herz der Stadt gebracht hatte, »ist mir von früher verpflichtet. Er hat als ordentlicher Handwerker das Unglück gehabt, mit einem Straßenmädchen bekannt zu werden. Sie hat ihn dann immer mehr eingesponnen in ihre Kreise und in ihr trübes Gewerbe. Und als er zurück wollte, hat sie ihm mit dem Kuppelei-Paragraphen gedroht, weil er die Wohnung, in der sie beide lebten, auf seinen Namen gemietet und wohl auch Geld von ihr genommen hatte. Er kam damals zu mir und hatte die Waffe in der Tasche, um, wie er sagte, dem Jammer ein Ende zu machen. Und weil ich mich überzeugt habe, daß es ihm wirklich ernst war, mit seinem Zurückwollen, da hab' ich ihm geholfen … Wie? Nun, das ließ sich in dem Fall leicht machen. Ich ging zu meinem Kollegen von der Sittenpolizei. Der paßte auf, bis die Person, die überhaupt ein rabiates Frauenzimmer war, bis sie wieder mal wegen einer Kontravention festgenommen wurde, und dann ließ er sie per Schub fortbringen. Sie war Ungarin und hatte somit hier nichts zu suchen … Das scheint hart? Ja, aber was wollen Sie: Auf der einen Seite ein Mensch, der für die Mitwelt verloren ist, und demgegenüber ein anderer, der noch brauchbar, wieder eingeordnet werden kann. Wir Kriminalisten müssen reine Realpolitiker sein, mit dem bloßen Gefühl ist da wenig zu machen«
Dr. Splittericht wunderte sich über sich selbst, wie leicht es ihm heute wurde, sich mitzuteilen … Aber das war wohl der Künstler, der Mensch, zu dem er sprach, von dem er sich verstanden fühlte.
Sie hatten in einer Querstraße der Friedrichstraße ein Haus erreicht, in dessen Parterregeschoß ein Paar schmale Fenster durch dichte Vorhänge mattes Licht scheinen ließen.
Beim Eintreten sagte der Kommissar noch:
»Der Wirt, das ist der Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe. Aber vermeiden Sie bitte alles, was daran erinnern könnte. Er ist, wie alle Gebesserten, sehr empfindlich.«
Das Lokal machte einen guten Eindruck. Der »große Fischer«, wie er allgemein genannt wurde, hielt streng darauf, daß sich hier jeder ordentlich und gesittet benahm. Eben jetzt schlief er ein bißchen, sagte der Kellner, der in jeder Hand ein halb Dutzend Gläser mit frischem »Maibock«, an den Tisch kam.
»Ja, so leid mir's tut, Sie müssen ihn schon wecken!« meinte der Kommissar. »Hier, geben Sie ihm die Karte!«
»Jleich!« sagte der Kellner, setzte sein Bier bei einer Tafelrunde von jungen Leuten ab, die nach den Fachausdrücken, die sie brauchten, Artisten zu sein schienen und verschwand mit der Visitenkarte.
Nun traten zwei Mädchen mit einem jungen Mann ins Lokal, der sich aber, kaum daß er seine Damen auf den Platz gebracht hatte, gleich wieder entfernte.
»Sehen Sie,« der Kommissar zog die Lippe ein wenig hoch, »der große Fischer führt ein strenges Regiment! Hier darf kein Mädel ohne männliche Begleitung rein. Aber die jungen Damen, wenn sie durstig sind, machen das einfach so, daß sie dem ersten besten Bummelanten eine Mark geben, und der führt sie dann ein, als cavalière servante. So ist dreien geholfen. Es hat sich da, weil eine ganze Anzahl von Gastwirten es in dieser Gegend – zum Teil gezwungenermaßen – ebenso halten muß, ein förmlicher Schlepperdienst herausgebildet …«
Man vernahm starke Schritte. Der große Fischer kam. Ein Hüne. Er trat rasch an den Tisch und sagte mit einer unverkennbaren Freude:
»Ach, Herr … Herr Doktor … wie nett is das von Ihnen, daß Sie mir mal wieder besuchen! Ich wollte schon an Ihnen schreiben … aber ich wußte doch nich …«
»Hätten Sie ruhig tun können, lieber Fischer! Auch persönlich kommen. Für Sie bin ich immer da. Das heißt, wenn ich da bin …«
»Na ja, eben … man weiß ja nie. Und denn da ›oben‹ … ich hab' da nich gern was zu tun!«
»Ja,« der Kommissar rückte einen Stuhl zurecht, »haben Sie 'n bißchen Zeit? Ich komme in einer bestimmten Sache …«
»Ach so?« Der Wirt setzte sich, der feste Sitz ächzte unter seiner Last. Seine Stimme, die in Ton und Tiefe der Riesenfigur ganz entsprach, noch mehr dämpfend, sagte er:
»Was is denn? Woll der Mord in Breitenberg?«
»Wissen Sie schon davon?«
»Na ich hab doch gelesen: ›unser fähigster Kommissar, Herr Dr. Splittericht, ist mit die Angelegenheit betraut …‹ hat ja in de Zeitung jestanden. Ja, da freut man sich … wenn man sieht, wie mal wirklich einer, der's verdient …«
Dr. Splittericht legte dem Riesen die Hand auf den gewaltigen Arm, dessen Rechte wie der Wirt gern zeigte, zwei starke Männerfäuste vollkommen umschloß.
»Zur Sache, lieber Fischer! Und vor allen Dingen darf ich Ihnen hier einen guten Freund, Mr. Anders, vorstellen. Der Herr ist Deutschamerikaner. Er will und kann mir bei der neuen Sache behilflich sein. Er hat seinerzeit in Amerika den Gesuchten gesehen und ist der einzige, der ihn vielleicht rekognoszieren kann!«
Der Wirt streckte Wolf Stark die Hand hin, und der Maler präparierte sich auf einige Druckstellen an seinen empfindlichen Fingern. Doch der »große Fischer« enttäuschte ihn angenehm.
»Was soll ich nu dabei machen, Herr Kommissar? Sie wissen doch, mir nehmen die Brüder nich mehr für voll …«
»Sie selbst sollen gar nichts tun … aber Sie kennen vielleicht jemand – bei Ihnen verkehren doch 'ne Menge Leute – darunter findet sich gewiß der oder jener …«
Der große Fischer sah sich in seinem Lokal um. Dann beugte er seinen mächtigen Oberkörper herab:
»Schon jemacht Herr Doktor!« flüsterte er. »Da drüben sitzt die Joldelse mit ihre Freundin. Die kennt alles was Duft in Schale jeht gut angezogen ist. und Lampen hat Wegen Verbrechen gesucht wird.. Dafor is je 'ne Beriehmtheit! Der Handlungsjehilfe, der die Witwe Tillmann erwirgt hat – ich glaube 1914 – den haben je doch ooch bei ihr ausjehoben …«
»Welcher Kommissar?«
»Ich jlaube, Nasse … ja, Nasse hat's jemacht.«
Der Kommissar sah flüchtig nach dem Tisch der beiden Mädchen, die mit viel Appetit aßen und tranken. Die größere ein schönes üppiges Geschöpf mit reichem, goldblondem Haar, die hatte es auch gleich weg, daß man von ihr sprach. Ein schlauer Frageblick kam dem Kommissar entgegen, der jedoch gleichgültig wieder fortsah.
»Die Frauen sind alle unüberlegt,« meinte er, »selbst die gerissensten! Da an dem großen Tisch, die Gesellschaft ist doch auch schon längst scharf auf uns. Und wenn ich auch nur einen davon kenne, den Kleinen mit dem blatternarbigen Gesicht – nicht hinsehen jetzt, lieber Anders! – Das genügt mir! … Er hat in dem Mordprozeß Emma Thaußig eine sehr fragwürdige Rolle gespielt und war wahrscheinlich einer von denen, die das arme Geschöpf hineingelockt haben in die Wohnung des sogenannten Geliebten … wenn der –«
»Attermann hat er jeheißen«, warf der Wirt ein.
»Ja! wenn der sich damals nicht so schnell hinüberjerettet hätte …«
»Mit's Handtuch an Fensterriegel in Moabit!« flocht Fischer abermals dazwischen.
»Ganz recht! … Dann wäre der gute Sehbinder, der dadrüben, wohl auch seinen Kopf los geworden. Na, er ist bei mir vorgemerkt! … Aber nu hören Sie mal, lieber Fischer, ich gehe jetzt mit Mr. Anders fort. Dann, nach einer Weile geben Sie den beiden Mädels in der bekannten Art meine Adresse: Café Liberia!«
»Schon jemacht, Herr Kom … Herr Doktor! Aber nu wollen wir wenigstens noch einen auf Ihre Jesundheit nehmen! Fritz!«
Der Kellner kam.
»Eine Lage Stichpimpuli!«
Die Herren tranken den Schnaps schon stehend.
»Donnerwetter!« sagte Wolf Stark, der sich bisher ganz schweigsam verhalten, voll Anerkennung.
»Ja, was? Das 's 'n Schnäpschen! Dat is aber auch meine Extrapulle davon kriegt so leichte keener was ab! … Noch einen, Herr Doktor?«
»Nee, ich danke! Wir haben heute eine lange Nacht vor uns!«
»Na, ick kenn' Sie doch, Herr Doktor, Sie jehn doch nich eher nach Hause, als bis Sie Ihre Sache erledigt ham.«
Und kaum hatten der Kommissar und der Maler das Lokal verlassen, so stand auch der »große Fischer« schon vor dem Tisch, an dem Goldelse und ihre Freundin saßen.
»Sie wissen doch een for allemal, meine Damen, dat Se hier nich ohne Herrenbejleitung sitzen dürfen. Dat is nischt! Ick kann ma' Ihrentwejen nich de Schutzleite auf'n Hals ziehn! Uffessen kenn' Se ja meinswejen noch, aber dann müssen Se raus!«
Die Mädchen, besonders Goldelse, protestierten heftig. Die Blonde nur zum Schein, denn sie, die ja hier regelmäßig verkehrte und dem Wirt gut bekannt war, hatte sofort begriffen, daß dieses Hinauswerfen nur der Deckmantel für etwas anderes war, das ihr der Wirt der übrigen Gesellschaft wegen so nicht mitteilen wollte. So hatte sie ihm denn auch geschickt und ganz unauffällig die Karte des Kommissars abgenommen, auf die der Wirt noch die Adresse des Cafés geschrieben hatte, in dem die Herren warteten.
»Eine Unverschämtheit sondergleichen!« schimpfte sie, »das wird ja hier immer doller! … Wenn man sich anständig beträgt! Man muß doch essen!«
»Jehn Se!« … drängte der Wirt, »machen Se keene Redensarten und jehn Se!«
An der Tür blieb Goldelse mit »der kleinen Paula« stehen:
»Jlauben Se man nich, Fischer, daß Sie damit Ihre Bude voll kriejen! Und wenn ooch zehnmal die Geheimen kommen! Die vazehren doch nischt! Und was se vazehren, wollen se jeschenkt haben!«
»Bravo!« schrie einer von dem großen Tisch her.
Die kleine Paula kicherte malitiös.
»Hat Ihn' woll 'n Orden vasprochen, der Schieber, nach den Se so varrickt waren vorhin?! … Denken Sie, wir wissen nich wat det for eener war? Det riecht ja fermlich nach'n Alexanderplatz!«
Vom großen Tisch her klang's heiser:
»Achtjroschenjunge!«
Da wandte sich Fischer den Männern zu und sagte:
»Wen mein Lokal nich paßt, der macht die Diere von außen zu! Ick halte keenen nich! Im Jejenteil, ick helfe'n noch'n bißken nach, wenn er alleene nich rausfindt!«
»Huch …« quietschte die kleine Paula, hinter ihrer Freundin in die Tür tretend.
Als sie draußen standen, sagte sie zu der Blonden:
»Das haben wir aber fein gefingert, du! … Der kleene Sehbinder der damals bei war, bei die »rote Emma«, wie se die alle jemacht haben, und konnten ihm bloß nichts beweisen der kuckte schon ganz schles'sch ob wir uns muß ransetzen wirden an den Tisch. Aber so dumm! Weeßt du denn, Else, wer des war, der bei Fischern an'n Tisch jesessen hat?«
Goldelse mit ihrer schönen, schlanken Figur im weißen Spitzenkleid, das ein hellseidener Mantel deckte, ging die dunkle Straße hinauf so schnell, daß ihr die andere kaum zu folgen vermochte.
»Ob ich's weiß!« sagte sie leise. »Das ist der einzige Mann, für den ich was tun könnte! Du mußt'n doch eigentlich auch kennen, den kleinen Doktor vom Präsidium! Na ja, Dr. Splittericht!! Du weißt doch, was ich von der Sippschaft halte! Da 'n anständigen Menschen rausfinden, das ist schwerer, wie's große Los jewinnen! … Aber der! … Der hat so ein vornehmes Herz! … Und klug! … Und so klein und erbärmlich er man aussieht, der is wie von Eisen! … Siehste, Paula, das is einer, für den könnt' ich sonst was!«
Die Kleinere lachte:
»Sag's ihm doch! … oder ich kann's ihm ja sagen!«
»Untersteh dich! … Damals in der Gerichtsverhandlung bei dem Fall Tillmann, wo se den Weißgerber bei mir gefaßt haben …«
»Na, du hast'n doch verpfiffen, Else!«
»Quatsch! … Ich hab'n kennenjelernt auf'n Vergnügen in de »Prachtsäle«. Er tanzte gut und war mächtig bei Kasse. Und wie wir zu Hause sind, schenkt er mir 'ne schwere, goldene Kette … und die mach' ich um und dabei kommt mir was an' Hals … und wie ich so hinwische, 'n bißchen heiß war ich woll auch, da seh' ich, es is Blut … Na, nu wußt' ich doch genug! Und obenein, wo ich das gelesen hatte von der Tillmann … Na sollt' ich den etwa so wieder weglassen? … Standen doch 3000 Em drauf! Du weißt doch, Paula, an sogenannte Menschenliebe sterbe ich mal nich! … Und außerdem war er'n Mörder! Na, da hab' ich'n denn ruhig machen lassen, bis er eingeschlafen is –«
»Hast'n nich von den jrünen Likör was jejeben, Else?«
Die große Blonde fuhr herum! Wenn die kleine Paula nicht so schnell zur Seite gesprungen wäre, hätte sie einen Stoß weggehabt, der sie niedergeworfen hätte!
»Sag' das nich nochmal, du!«
»Aber laß doch man, Else is ja man 'n Witz. Bloß damals, du weißt doch, wo der hübsche Spanier …«
Die Große blieb stehen. Ihr schönes, helles Gesicht war zur drohenden Maske geworden. Sie zischte:
»Na? Was denn? Sage doch mal gefälligst, ja? Was war denn mit dem Spanier?«
Die kleine Paula hatte zu viel Respekt vor ihrer Freundin. Sie wurde noch kleiner und versteckte sich hinter einem dummen Lachen:
»Was denn, Else? Gar nichts war … nichts! Ich sage doch bloß … Was du immer gleich hast! Gott, sowas!«
Die Blonde ging weiter. Die Kleinere folgte ihr. Da sie ihr blind nachlief und in ihrer Angst, sie erzürnt zu haben und sie womöglich als Freundin zu verlieren, für nichts Augen hatte, wäre sie beim Ueberschreiten des Fahrdammes in der, trotz dieser späten Stunde, von Lärm und Gedränge erfüllten Friedrichstraße um Haaresbreite unter ein dahersausendes Automobil gekommen.
Vor Schreck sank sie in die Kniee, laut aufkreischend. Menschen sprangen herzu, man half ihr empor. Sie zitterte und sagte verstört und stammelnd:
»Wo is … wo is bloß Else?«
Aber die Goldelse war fort. War, ohne sich nach der niedersinkenden Freundin umzublicken, davongeeilt, mitleidlos, ohne Gefühl für die nach ihr Jammernde, hart wie ein schönes Bild, dem der Bildner keine Seele zu geben wußte.
Und da die Kleine die Adresse auf der Karte nicht gesehen hatte, konnte sie der Freundin auch nicht folgen.
Elend, mit zerfaserten Nerven, gedemütigt und tiefunglücklich schlich sie nach Hause.
Die Goldelse trat ins Café Liberia, das vorn nach der Friedrichstraße nur eine Art Gang war. In der Tat früher einmal ein Korridor, der um den großen Eckladen herumführte, jetzt aber bei den rasenden Mietspreisen jener Gegend auch ein mit Gold aufgewogenes Stückchen Frontfläche. Das Café war neu eingerichtet. Aus glitzernden Glaskronleuchtern floß gemildertes Licht über das in zartem Lila, Weiß und Gold schattierte Interieur.
Noch war hier geringer Betrieb. Die Gäste kamen hauptsächlich nach Schluß der großen Varietés und später, wenn in den Ballhäusern die Zigeuner fidelten.
Else ging schnell durch den schmalen Vorraum. Sie wußte, daß sich der Kommissar hier nicht hinsetzen würde. Als sie die Herren sah, ließ sie sich ohne alle Formalitäten an dem Tisch nieder.
»Was wünschen Sie von mir, Herr Kommissar?« sagte sie brüsk.
»Doktor, bitte!«
»Also schön, Herr Doktor! … Wen soll ich wieder verraten?«
Doktor Splittericht war zu dem »großen Fischer« gegangen, weil er bestimmt damit rechnete, dort Goldelse zu treffen. Er hatte aber selbst dem ihm ergebenen Wirt nicht seine ganze Karte gezeigt und so getan, als kenne er die Blonde noch gar nicht. In ihrem Interesse! Die wertvolle Hilfe, die sie ihm mehr als einmal geleistet hatte, war nicht mehr zu erhoffen, sobald ihr Bekanntenkreis sich über Elses Verbindung mit dem Alexanderplatz klar wurde. Diese Gesetzlosen haben scharfe Augen und immer wache Sinne. Sie wittern schon den Verrat, wo andre harmlose Erdenkinder noch gar nichts ahnen würden! Und wehe dem, den sie als unsicheren Genossen kennen! Er wacht eines Morgens nicht mehr auf, weil er dann vielleicht friedlich und ewig stumm auf einem der breiten Wasserläufe dahintreibt, zum großen Sündenbabel hinaus mit den murmelnden Wellen, die ihm sein Schlummerlied singen. Vielleicht findet sich seine Leiche irgendwo am Strande; dann kommt sie unerkannt in die Morgue oder – draußen im Lande – in einem Winkel in die Erde … Da schweigt die Rache und die Trauer geht still vorbei; nach denen, die der Gesellschaft feind sind, fragt selten einer. Sie sind dahin und lassen keine Lücke.
Vor solchem Schicksal wollte Dr. Splittericht die Goldelse bewahren. Er empfand ein starkes Interesse für sie – ein Abglanz vielleicht von der heimlichen Neigung des schönen Geschöpfes für ihn selber.
Auch der Maler sah sie bewundernd an. »So etwas«, dachte er, »schafft die große Meisterin nur in ihren besten Stunden!« … Besonders die klare, reine und festgefügte Stirn, die sich prachtvoll über den tiefblauen Augen wölbte, fesselte sein Künstlerauge. Doch auch der zart gemalte Mund, die tote von einem altgriechischen Bildner gemeißelte Nase, das süperbe Ohr unter den goldenen Haarwellen, die nicht gefärbt und nicht gebrannt waren, erregten sein Bild-Entzücken. Es war wohl zu glauben, was ihm vorher der Kommissar gesagt hatte: Um dieses Mädchen hatten sich wertvolle Menschen in betrübender Zahl ruiniert, hatten sich einige den Tod gegeben und viele ihre Familie und ihr Lebensglück zerstört.
Aber wenn Wolf Stark de Ruyter sich fragte, ob er selbst einem solchen Zauber unterliegen könnte, so durfte er ein ehrliches »Nein!« darauf erwidern. Denn ebenso schön und kalt, wie die großen Brillanten, die sie in den Ohren trug, glänzte Goldelses Blick. Nicht die Augen – die waren und blieben herrlich in ihrem Glanz, ihrer blauen Leuchtkraft – die Seele, die aus diesen Demantfenstern blickte, die war's, die den Maler erschreckte und ihn sich kalt abwenden ließ von all dem Reiz. Er dachte an Thekla. Aber er wehrte sich gegen solche Vorstellung, die die Eine, die Einzige niemals neben dies Geschöpf der Straße stellen durfte!
Und doch mußte er die Blonde, die übrigens für ihn kaum einen Blick übrig hatte, immer wieder voll Interesse beobachten. Im Gespräch mit dem Kommissar schien eine Veränderung mit ihr vorzugehen. Der Hochmut, der ihre starken, goldigen Braunen hob, verlor sich ganz. Um den roten, betörenden Mund spielte es wie heimliches Weh und leidvolles Entsagen; und wenn, wie es dem Dr. Splittericht manches Mal passierte, des Mannes Auge sich im Gespräch senkte und nach innen kehrte, dann hingen die blauen Blicke des Mädchens mit einer Inbrunst an ihm, die den Maler, der ja selbst in heimlichem Feuer glühte, an ihrem Gefühl nicht zweifeln ließen
»Also den soll ich fangen, Herr Doktor«, sagte sie eben, »ja, wird er denn auch in Berlin sein?«
»Ich denke … wir müssen zusehn. Solche Leute sind genußhungrig, besonders Schwindsüchtige … Und da er dazu nach Berlin muß … Ja, ich rechne besonders auf die großen Ballsäle und Tanzbasars … Weinlokale, wo Musik ist … na, das kennen Sie ja besser als ich, Goldelse!«
Die nickte:
»Und Sie kommen nicht mit, Herr Kommissar?«
»Nein, ich gehe mit Mr. Anders ins Zentrum und nach dem Osten … während Sie mehr die Friedrichstadt und den Westen absuchen sollen. Meine jeweilige Adresse erfahren Sie in jedem Augenblick auf dem Hauptfernsprechamt. Sie geben einfach ihren Namen »Else Richter« an. Sowie wir beide, Mr. Anders und ich einen Lokalwechsel vornehmen, gebe ich die Telephonnummer des neuen dort auf. Also in spätestens einer halben Stunde bin ich per Auto in jedem Fall bei Ihnen. So lange müssen Sie Ihren Mann da festhalten … das wird Ihnen ja nicht schwer fallen, Goldelse!«
»Nö«, sagte sie trocken, »aber 's is langweilig! Da hätt' ich mir doch lieber die kleine Paula mitnehmen sollen!«
»Können Sie ja immer noch tun! … Im Gegenteil es ist sogar vielleicht besser! Sie brauchen dann nicht selber telephonieren!«
»Aber sie erfährt, was los is … und … und die Mädels sind alle so quatschig!«
»Da haben Sie recht! Allein ist man am sichersten. Also, wie Sie wollen! Wenn Sie nichts finden, so seien Sie bitte morgen abend um dieselbe Zeit wieder hier! Und nicht wahr, ich kann mich auf Sie verlassen, Else?«
Das Mädchen sah den Kommissar nur an. Dann stand sie auf und wollte mit einem gleichgültigen »Auf Wiedersehn!« fort.
Wolf Stark hatte zuletzt kaum noch zugehört. Er war mit seinem heimlichen Ich wieder in Breitenberg bei Thekla. Die Worte des Kommissars: »Das Hauptfernsprechamt hat meine Adresse«, hatten etwas in ihm aufblitzen lassen, das ihn mit Jubel erfüllte! Eine selige Gewißheit war plötzlich über ihn gekommen: Er würde mit Thekla sprechen! Der Moment mußte doch kommen, wo er Zeit fand, sich die Verbindung mit Breitenberg geben zu lassen! … Morgen vormittag oder wenigstens im Laufe des Tages … Und der Gedanke machte ihn so froh, so tief innen glücklich, daß er lachen mußte.
Das Mädchen sah ihn fast feindselig an:
»Ihnen hängt wohl der Himmel voller Geigen?«
»Ja«, sagte er, »Fräulein Else. Ich denke, Sie werden Ihren Auftrag großartig ausführen!«
Nun lächelte sie doch:
»Sie! Sie! Die Goldelse läßt sich nicht veräppeln!«
Damit ging sie. Ihr großer, schön gebauter Leib in glänzendem Gewande zog wie eine helle Fahne durch den milchigen Schein des Lichts in diesem matten, von Silber und Glas leise klirrenden Raum …