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18.

Aber des Böswirts Rößlein lief viel schneller. Während Florian noch im weiten Felde marschierte, schritt der Alte schon mit energischem Aussehen die Dorfstraße hinab auf des Bader-Wastls Haus zu.

Als er um die stumpfe Ecke kam, daneben des Bäckers Häuschen stand, bot sich ihm ein liebenswürdiges Schauspiel dar, das selbst dem harten Mann ein beschauliches Verweilen abnötigte. Im Fenster des Bäckerlädchens zwischen drallen Wecken und frischen Bretzeln lagen nebeneinander zwei winzige blondköpfige Mädchen von etwa vier bis sechs Jahren und mühten sich, mit ausgestreckten Ärmchen die emporgereckten fingerlangen Händchen eines auf den Zehen stehenden dicken Bübleins von gleichem Alter grüßend zu berühren. Auf den rötlichen krausen Ringelchen des Bürschchens glitzerte die Morgensonne, sein graues Zwilchfläuschen flatterte im Winde, die Augen der drei Kinder lachten, die Ärmchen reckten sich immer von neuem aus den kleinen Schultern, aber sie konnten nicht zueinander kommen mit den Händen.

Für den Böswirt war dies Bild freilich keine dauernde Unterhaltung und er störte die guten Kinder in ihrem unschuldigen Vergnügen mit derben Worten: »Fratzenvolk untereinander, ihr könnt gut werd'n mit der Zeit! Nächstens fangt man in Windeln schon 's Karessieren an.«

Das Männlein kehrte sich langsam um und sah mit großen katzengrauen Augen erstaunt in das Gesicht des Fremden, der nun nach des Bader-Wastls Haus fragte.

War's Trotz, war's Schüchternheit, oder hatte der überraschte Knabe die Frage wirklich nicht begriffen, er antwortete erst auf die zweite Wiederholung und auch dann nur schweigend mit einem ausgestreckten Zeigefinger. Als aber der Alte auf den bezeichneten Hof zuschritt, lief der Knabe neben ihm her und sah ihn dabei aufmerksam an. Das Kind war für seine Jahre ziemlich klein, wogegen der Kopf, den es beim Gehen, die Stirne vorgelegt, mit dem Kinn gegen den Hals drückte, im Verhältnis zu der winzigen Figur übermäßig breit erschien. Der rechte Arm war kaum merklich kürzer als der linke.

»Wie heißt denn du?« fragte der Böswirt, und der Bub' sagte kurzweg: »Alysi.«

»Hm,« brummte der Erwachsene, dem sich in diesem Wort eine mißliebige Vermutung zu bestärken schien. »Und mit deinem Zunamen?«

Der Knabe sah den im Gehen innehaltenden ihn aufmerksam betrachtenden Alten stutzig an. Es mochte bisher wohl niemand diese Frage an ihn gerichtet haben. Dann antwortete er langsam: »Alysi Noderer heiß' ich.«

»Net wahr is!« schrie ihn der Böswirt zornig an. »Du heißt Alysi Schory!«

»Was wirst du denn wissen?« versetzte das Jüngelchen trotzig, und dann in kindischer Unschuld unbewußt seiner selber spottend, fuhr er fort: »Alysi Schory heißt mei Großvater, i aber heiß' Alysi, weil man mi so tauft hat, und i heiß' Noderer, weil mei Vater so heißt, und heiß' auch Schory, weil mei Mutter so heißt, und heiß' auch Florian, weil mei Vater so heißt, und heiß' auch Kaspar, Melchior und Balthasar, weil ich am heiligen Dreikönigstag tauft worden bin, und Sebastian Burzbichler heiß' ich auch noch, beim so heißt mein Ziehvater, der Herr Bader-Wastl, und i werd' auch noch amol a Bader. Weißt es jetzt?«

Der Alte schwieg. Er mochte etwas von der Bitterkeit der Anklage fühlen, die in der unbewußten Geringschätzung lag, mit welcher der kleine Krauskopf in gründlicher Verkennung von Mein und Dein die äußeren Erkennungszeichen unserer gesellschaftlichen Individualität gleichgültig durcheinanderschüttelte.

Während er so schweigend und die Blicke auf den Boden geheftet dahinging, hüpfte das Kind abwechselnd auf einem Bein neben ihm her und spielte mit einem zu einem Knäuel zusammengenähten alten blauen Kinderstrumpf, der ihm als Ball diente. Plötzlich hielt es inne und hub zu fragen an: »Was willst du denn beim Wastl-Vater?«

»Den Alysi Schory mitnehmen,« versetzte der Alte, ohne sich zu bedenken, und der andere erwiderte ebenso rasch: »Der Alysi Noderer wird aber net mitgehn mögen.«

»Nachher wird man's ihm schon schaffen (befehlen).«

»Der Alysi laßt sich aber von niemand was schaffen als von sein'm Vater und von seiner Mutter. Verstehst?«

»Ich aber bin dein Großvater!«

»I je!« platzte der Kleine mit offenem Munde heraus und patschte sich mit beiden Händen auf die Schenkel. »Was du dir net alles einbild'st! Mein Großvater, der sieht ganz anders aus wie du, der is viel, viel größer und viel, viel stärker, der hat einen langen schneeweißen Bart und in der Hand ein'n runden Hut voller Krontaler und hat auch ein'n Gaul und du hast nix! – Wastl-Vater! Wastl-Vater!« schrie er, und damit sprang er in des Barbiers Wohnstube hinein, »da draußen is einer, der möcht' gern mein Großvater sein! I je, i je!«

Der Bader Sebastian Burzbichler war ein wunderlicher Kumpan. Seine Originalität schrieb sich aus der Zeit der Napoleonischen Kriege her. Nicht als ob er selbst ein greiser Veteran, der aus jener Arcis- oder Barerschlacht mit genauer Not sein Leben gerettet und es dann bis auf den heutigen Tag im Schweiße seines eigenen und mit dem Einseifen fremder Angesichter fortgefristet hätte. Gott bewahre! Der biedere Wastl diente zur Zeit jener Kriege, ein dreizehnjähriges flinkes Bürschchen, als Kellner in einem vielbesuchten Weinstübchen der Residenz. Anfangs hatte er beim Auftragen in kindlicher Neugierde den bald sehr sachverständigen, bald bloß erhitzten Reden der verehrten Herren Gäste zugehorcht, die meist dem höhern Bürger-, dem Militär- oder Beamtenstande angehörten und ihr Elfuhrschöpplein mit einer Anmut und Würde tranken, die dem wißbegierigen Piccolo noch, wenn er zu Bette stieg, manchen Seufzer nacheiferungslustiger Bewunderung auspreßten. Diesen Verehrten und Hochverehrten sich möglichst angenehm, ja unentbehrlich zu machen, war sein fester Entschluß und bald sein eifrigstes Bestreben. In diesem Sinne lernte er nicht nur alle Spalten der Tageblätter auswendig, sondern schärfte auch in denkfreien Stunden jedes Tages, während dem Tellerabspülen und Gabelputzen, seinem gierigen Gedächtnisse die Berichtigungen und Behauptungen der einzelnen Disputatoren ein. So kam es, daß er, befragt, nicht nur jeden Schlachtplan, jede Kavallerieattacke, jeden Nachtmarsch der deutschen, russischen, englischen, französischen Truppen damaliger Zeit auswendig wußte, sondern den Gästen seines Brotherrn auch jede einfältige Konjektur, jede tolle Hypothese wieder aufzutragen vermochte, welche sie über diesen oder jenen Gegenstand, und waren's auch schon Jahre her, in der Weinlaune hatten unter den Tisch fallen lassen.

Was Wunder, daß ihm die dankbare Gastschaft keinen andern Namen mehr gab, als den des »kleinen Napoleon,« eine Bezeichnung, die seinen ehrgeizigen Busen mit solchem Stolz erfüllte, daß noch in reifem Alter Kind und Kindeskind ihn an hohen Familienfesttagen also zu titulieren sich nicht entbrechen durften. Ein großer Schaden für das Weingeschäft war es, als der gedächtnistüchtige Kellner, wenn auch bereits im tiefsten Frieden, durchs Los gezwungen ward, eigenhändig zur Muskete zu greifen. Er kam in eine kleine Grenzfestung zu liegen und machte sich da durch seine kellnerhafte Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Höflichkeit den Offizieren brauchbar und angenehm, die, in gewohnter Weise die Bestimmung eines subalternen Individuums ebenso schleunig als richtig erfassend, ihn im Rasieren, Hühneraugenausschneiden, Pflasterauflegen, Essigbereiten, Latwergenabrühren und Kaffeekochen einen nicht unbedeutenden Grad von zeit- und geldsparender Vollkommenheit erreichen ließen – die fruchtbringende Grundlage, darauf sich später seine bürgerliche Stellung stolz und sicher aufbauen ließ.

Durch eine eigentümliche und doch sehr gewöhnliche Verkettung von Verhältnissen und Umständen lernte er nämlich in reiferen Jahren die noch reifere Köchin jenes Pfarrers kennen, der damals noch in blühendem Wohlbehagen für die Seelen derjenigen Gemeinde sorgte, welcher Wastl nunmehr selbst angehörte. Sebastian besann sich nicht lange, sondern griff mit offenen Armen nach seinem »Glück« und ward, wenn auch in einem fern von der Hauptstadt gelegenen Dörflein, wohlbestallter Bader und beneidenswerter Gatte. Hochwürden der Herr Pfarrer gaben ihren Segen dazu. Und Wastls Ehe ward auch bald sehr gesegnet. Zwillinge und »einspännige« Säuglinge rollten in schreiendem Durcheinander in seiner Stube umher, zu welcher noch immer infolge eines ehemaligen »Bannrechtes« » Bann« das Gebot, das auch das Verbot des Gegenteiles in sich schloß. Wie es »Bannmühlen« gab, in welchen mahlen zu lassen geboten war, so durfte man sich auch nicht wo's einem beliebte Haar und Bart kürzen lassen, sondern nur in dem Geschäfte, das für die Gegend, wo man hauste, das Bannrecht hatte. Gesetz erzeugte Gewohnheit und diese überlebte jenes. von Meilenferne die sonntagslustigen Bäuerlein gepilgert kamen, um unter dem sprudelnden Schaum seiner Seife ihre verrosteten Kinnstoppeln zu verschmerzen.

Während er diese seine Klienten an der Nase und das Messer an ihre Gurgel hielt, hatte er die schönste Gelegenheit, sein altes Wissen auszukramen und ihren tauben Ohren vorzupredigen, wie sich Bernadotte bei Hochkirch und der alte Dessauer bei Jena benommen haben würden. In den traulichen Stunden der Muße aber, wo er zwischen Wachen und Schlafen mit der Ehehälfte sein Abendbrot verdaute, gestand er dieser oftmals im stillen, wie er Tag für Tag vor dem Nachtgebet noch einmal dem großen Napoleon einige Minuten schweigender Verehrung zolle und wie gegen jenen Ungeheuern gehalten sein eigenes in bürgerlichen Mangelhaftigkeiten verkümmertes Feldherrntalent nur der reine Wind sei, worauf dann seine Gattin unter ebenso stereotypen Seufzern versicherte: so einen Herrn wie den seligen Herrn Seelsorger gebe es halt doch nicht mehr in diesem irdischen Jammertal. Den raschen Schlußgesang zu dieser Strophe und Gegenstrophe bildete dann stets eine gleichfalls aus alter Zeit überkommene Tirade: »Sie sind dahin, uns Lebenden gehört die Welt.«

Seine schwärmerische Neigung für den Heiligen seines Kellnerspitznamens führte ihn indessen noch einmal in große Not.

Man erinnert sich der Zeit, wo die französischen Gesandtschaften allen ehemaligen Soldaten, die irgend unter dem ersten Kaiser gefochten hatten, mit großer Bereitwilligkeit die sogenannte Sankt Helenamedaille an den Rock warfen, sobald jene sich nur nicht der Meldung entblödeten. Lange wälzte Sebastian einen großen Gedanken in seinem schweigenden Busen; er verschloß sich in seine Kammer, schrieb mühsam aufgesetzte sorgfältig abgeschriebene Briefe noch einmal, und siehe da, eines Tages überraschte er, der alle Napoleonischen Feldzüge nur unweit des Münchener Schrannenplatzes im Helldunkel einer sichern Weinstube mitgemacht hatte, seine Frau und bald darauf die staunende Gemeinde mit einem dekorierten Knopfloch. Er ward erst begafft, bald verhöhnt und dann von der wütenden Entrüstung seiner ganzen männlichen Nachbarschaft, noch ehe die Mittagsglocke geläutet wurde, so jämmerlich zerschlagen, daß er drei Tage arbeitsunfähig in seiner Behausung lag und auf seinem Schmerzenslager Zeit hatte, vernünftige Gedanken über Sinn und Unsinn deutscher Sprichwörter anzustellen.

Der Bader-Wastl galt für einen biedern verläßlichen, ja sogar bei all seinen zeitweiligen Narrheiten für einen klugen Menschen, und besonders stand er wegen seiner Herzensgüte bei dem neuen Herrn Pfarrer in Gunsten, der denn auch auf Befragen seines Kollegen für den Enkel des Böswirts keinen bessern Kost- und Pflegevater hatte empfehlen können als ihn.

Wastl, dessen älteste Söhne selbst schon Weiber genommen hatten, während sein jüngster noch gern mit dem kleinen Alysi spielte, hatte seine Freude an dem fremden Wildfang und handhabte auch eine leidlich richtige Praxis, mit Kindern umzugehen; so ließ er, wie wir bereits gesehen haben, am zarten Alter alles gerade wachsen, was nicht krumm ward, und wenn Klein-Alysi tagelang nicht nach Hause kam, war er darüber mehr besorgt als ungehalten.

Zu verwundern war es gewiß nicht bei diesem Mann und zu verargen wohl noch weniger, daß, als der gediente Soldat Florian in seinem Dorfe sich niedergelassen, dieser gar bald die ganze Gunst und das unbeschränkte Vertrauen des alten Baders zu erobern gewußt hatte. Der junge Vater seines Pfleglings sah manchen guten Abend bei ihm.

Alysi verbrachte oft den ganzen Tag mit seinem holzhauenden Erzeuger im Wald, und letzterer hatte dafür keinen andern Dienst zu leisten, als zuweilen dem sachverständigen Bartkratzer beizupflichten oder aber ihm zur Abwechslung auch einmal zu bestreiten, daß die ganze gelehrte Kriegskunst und der Gamaschendienst von heutzutage keinen Schuß Pulver wert sei.

So ward Sebastian Burzbichler durch Geld und gute Worte allgemach auch dazu gebracht, daß er der Urschi bereitwillig die Tür öffnete, wenn sie hie und da, von Florian begleitet, in stockdunkler Nacht den meilenweiten Weg daher gewandert kam, um ihr schlafendes Kind auf ein paar flüchtige Augenblicke ans Herz zu drücken.

Die Frau Baderin konnte sich zwar anfangs nicht mit der Moral von dieser Geschichte befreunden, allein all ihr Bedenken löste sich doch endlich in zuvorkommende Nächstenliebe auf, nachdem ihr nunmehriger Gewissensrat, der junge Herr Pfarrer, ein ebenso humaner als resoluter Geistlicher, die tröstliche Versicherung gegeben hatte, daß sie durch solcherlei Vermittlung zwischen einer für ihren Fehltritt hart gestraften Mutter und ihrem unschuldigen Kindlein nicht nur keine Sünde, sondern ein dem lieben Herrgott gar wohlgefälliges Werk vollziehe.

Der alte Böswirt freilich war über diesen Punkt ganz anderer Meinung als Seine Hochwürden der junge Herr Pfarrer.


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