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Der Tiger

»Eines Nachmittags kehrte ich mit meinen Leuten, die Bäume gefällt hatten, aus dem Walde zurück,« erzählt Forbes aus Sumâtra, »wie gewöhnlich einer hinter dem andern gehend, als plötzlich aus einem Dickicht neben dem Wege ein Tiger hervorbrach und im Nu einen wenige Schritte vor mir gehenden jungen Eingeborenen niederwarf. Aus Furcht, den Menschen zu treffen, wagte ich nicht zu schießen; sein Vater aber, der, mit einem Speer bewaffnet, gerade vor ihm ging, sprang auf den Tiger zu und versetzte ihm einen kräftigen Stoß, worauf das Tier unter dem drohenden Geschrei der Umstehenden seine Beute fahren ließ und im dichten Gebüsch verschwand. Das Ganze war das Werk eines Augenblicks: der Hieb der Pranke schien nicht sehr stark gewesen zu sein; aber die Krallen waren doch so tief in Schulter und Brust gedrungen, daß der Ärmste kaum noch eine Viertelstunde lebte, nachdem er in das nahe Dorf geschafft worden war. Am nächsten Morgen wurde ich durch einen lauten Lärm geweckt, ich hörte Schreien und Laufen und dazwischen das Wort »Matjan« (Tiger). Ich sprang auf, schob eine Patrone in mein Gewehr und eilte hinaus. Alles war auf den Füßen, jeder schwang einen langen Speer in der einen, den Kris (eigenartiges malaiisches Schwertmesser) in der andern Hand, alle sahen verstört aus. Der Tiger vom Tage vorher hatte sein unbeerdigtes Opfer ausgesucht und sich in die Mitte des Dorfes gewagt, nicht viel über zwölf Meter von meiner Hütte entfernt, die unmittelbar neben dem Totenhaus stand. Das Geschrei hatte ihn in das undurchdringliche Dickicht gescheucht, das das Dorf umgab, und worin ich ihm nur eine kurze Strecke weit folgen konnte. Als wir das Dorf wieder betraten, wurde der Leichnam unter furchtbarem Klagegeschrei der Weiber zum Begräbnis herausgetragen. Die Dörfler schritten hinter dem Toten her, jeder mit seinem Speer auf der Schulter, dessen Spitze in der Sonne wie ein Bajonett funkelte, aus Furcht vor einem plötzlichen Angriff. Das Grab wurde tiefer gemacht als gewöhnlich und oben wohl verwahrt; denn sie versicherten, der Tiger werde gewiß versuchen, die Leiche auszuscharren. Tatsächlich versuchte der Tiger, die Leiche in der Nacht nach dem Begräbnis auszuscharren. Während der nächsten und mehrerer andrer Nächte wachte ich am Grab, aber der Tiger kam nicht zum Stelldichein; dagegen erschien er jedesmal, wenn ich nicht da war. Darum half ich den Leuten eine Falle bauen, um ihn zu fangen, wenn er wiederkäme. Alle Stellen, von denen aus man zum Grabe gelangen konnte, wurden eingezäunt und nur ein Weg mit einem Eingang offen gelassen, vor den eine lose Schnur gezogen wurde. Sie stand in Verbindung mit einem grünen, etwa neun Meter langen Bambusrohr, das durch die vereinten Kräfte mehrerer Männer niedergebogen worden war und an seiner Spitze einen scharfen Speer trug. Dieser war derart befestigt, daß er, sobald der Tiger die Schnur berührte und dadurch den Bambus freigab, quer durch den schmalen Eingang geschleudert wurde. Jeden Abend, sechs Tage lang, wurde die Falle aufgestellt, ohne daß das Tier wieder erschien, am siebenten unterließ man es, als unnötig. Aber am folgenden Morgen zeigte es sich, daß der Tiger wieder in der Verzäunung gewesen war, und so ließ ich am Abend die Falle wieder sorgfältig herrichten. Am nächsten Tag in aller Frühe wurde ich durch lautes Lärmen geweckt und erfuhr, daß die Falle in der Nacht losgegangen, der Speer zerbrochen, das Raubtier aber nicht gefunden sei. Wir bewaffneten uns alsbald, um den Wald abzusuchen. Das Blut am Speerschaft verriet, daß der Tiger schwer verwundet war und nicht weit sein konnte. In der Tat lag kaum dreißig Schritt weit das verendete Tier im Walde. Von Seite zu Seite durchbohrt, hatte die große Katze den hohen Zaun in einem Riesensatz übersprungen und war dann tot niedergefallen. Sobald es bekannt wurde, daß der Körper gefunden war, eilten Männer, Weiber und Kinder aus dem Dorfe herbei, die Leiche ihres Feindes zu sehen, und jeder, die kleinsten Kinder allein ausgenommen, brachte seinen Kris oder ein Messer mit. Nur mit größter Mühe und durch die stärksten Drohungen konnte ich, indem ich mich auf das Tier stellte, verhindern, daß jeder seine Klinge in den Körper stieß. Mit welch wilder Lust und Rachgier weideten sie sich an dem Anblick des toten Räubers, gingen sie immer wieder aus ihn los! Alles vorhandene Blut wurde verbraucht, um die Waffen hineinzutauchen und sich so tapfer zu machen, und jeder strich mit der flachen Seite seines Kris wieder und wieder über das Fell, um damit dem Schwerte die kräftige Ausdünstung dieser Verkörperung von Kraft und Kühnheit mitzuteilen. Als die Haut abgezogen wurde, kamen viele Verwandte von solchen, die durch Tiger umgekommen waren, und erbaten sich ein Stück Herz oder Hirn, um sich, indem sie es verspeisten, zu rächen, unter ihnen eine alte Frau, die zuerst ihren einzigen Sohn durch einen Tiger verloren und dann ihren Mann vor ihren Augen durch solchen Räuber hatte forttragen sehen.«

Diese schlichte Erzählung des schottischen Forschers gibt ein Ereignis wieder, das in Gegenden, wo der Tiger die überlegenen Feuerwaffen des Menschen noch nicht zu fürchten hat, noch nicht fürchten gelernt hat, ein fast alltägliches genannt werden kann. Ja, die Eingeborenen Indiens und der vorgelagerten Inselwelt versichern ganz allgemein, daß der Tiger, wenn er erst einmal Menschenfleisch gekostet habe, hinfort mit Vorliebe den Menschen anfalle, sich, wie die Engländer sagen, zum » man-eater« (sprich: männ-iter, d. h. Menschenfresser) entwickle. In dieser Verallgemeinerung dürfte das wohl kaum zutreffen; richtig wird sein, daß der Tiger, wenn er einmal durch geglückten Überfall erfahren hat, wie leicht der unbewaffnete und in Vergleichung mit jedem andern Beutetier sorglose und ungewandte Mensch zu schlagen ist, bei jeder Gelegenheit so leichte Beute gern machen wird. Zum Menschenfresser wird sich namentlich der jagdunfähige Tiger ausbilden, also das alte Tier und das noch junge, das von der Mutter diese Jagd kennengelernt hat – solange die jungen Raubtiere noch schwach und ungewandt sind, betont Doflein einmal mit Recht, greifen die alten meist nur schwache und wehrlose Tiere an – und überhaupt noch nicht durch Erfahrung weiß, vor wem es sich in acht zu nehmen habe. Der in voller Lebenskraft stehende Tiger ist, schon aus der jedem gesunden Raubtier innewohnenden Lust am Jagdspiel heraus, ein »Wildtöter«; Gelegenheit und sich später einstellende Bequemlichkeit macht ihn zum »Viehräuber«, das Alter zum »Menschenfresser«. Ganz selbstverständlich spielt auch die besondere Veranlagung, das individuelle Naturell bei diesen Dingen eine wichtige Rolle. Höher organisierte Tiere sind Persönlichkeiten so gut wie das höchstorganisierte: der Mensch.

Der Tiger ( Fçlis tîgris) – das Wort ist altpersisch und bedeutet eigentlich »Pfeil«; im Deutschen hieß diese große Wildkatze, wie noch in Schillers »Landschuh«, ursprünglich: »Tigertier« – steht an Stärke der Glieder und Gewandtheit des Körpers neben dem Löwen, an List und Verschlagenheit über ihm, an offnem Mut und geistiger Größe lief unter ihm. Rundköpfiger, schlanker und hochbeiniger, eleganter in den Formen, noch mehr Katze, kann man sagen, als der Löwe, erreicht der Tiger im Durchschnitt eine Körperlänge von rund zwei Meter, bei einer Widerristhöhe von rund einem Meter; der quastenlose, drehrunde Schwanz fügt der Länge noch etwa neunzig Zentimeter hinzu. Freilich soll es, wenn man den englisch-indischen Nimroden trauen darf, noch viel größere Tiger geben. Aber solche Längen sind nicht am Tier, sondern am Fell gemessen, und daß man dieses erheblich dehnen kann, bemerkt Emil Schlagintweit einmal humorvoll skeptisch zu dieser berühmten Streitfrage, beweist die Tatsache, daß es in Indien ein eigenes Büchlein gibt mit Anleitungen, wie Felle gestreckt werden. Eine starke Bauchfalte des Fells erhöht bei vielen Exemplaren den Eindruck großer Körperfülle, wie andrerseits der stattliche Backenbart den Kopf mächtiger erscheinen läßt. Das Gewicht soll je nach der Nahrung – die »Viehräuber« sind gewöhnlich schwerer – zwischen drei bis fünf Zentner schwanken. Die Weibchen sind nicht unerheblich kleiner und leichter. Das kurzhaarige, glatte, glänzende Fell hat auf der Oberseite als Grundfärbung ein sattes Rotgelb; die Unterseite, die Innenseite der Gliedmaßen, die Lippen, die untere Hälfte der Wangen und ein dreieckiger Fleck über den Augen, sowie die stattlichen, starrenden Schnurrhaare sind schneeweiß. Vom Rücken her verlaufen nun über das Fell bis zum Bauch schräggestellte, unregelmäßige, schwarze Streifen, bald weiter auseinander-, bald enger gerückt, bald ein breiter Strich, bald gegabelt, in so ausfälligem, wechselreichem Kontrast zur Grundfärbung, daß niemand den Tiger verkennen kann. Wenigstens nicht, solange er ihn in der Nähe oder im Käfig sieht. In der farbenreichen, natürlichen Umgebung des Tiers aber löst sich das Bild, wie eine Schöpfung unsrer Allermodernsten, so völlig in Striche und Flecke auf, daß es in dem Pflanzengewirr verschwimmt und verschwindet. Nicht selten wird der ruhende oder lauernde Tiger vom achtlosen Menschen erst wahrgenommen, wenn dieser unmittelbar vor dem Gefürchteten steht. Grundfärbung und Zeichnung, Haarlänge, ja, Körpergröße und Kopfform weichen nun je nach dem besondern Wohngebiet des Tigers, der über ganz Asien von den Sundainseln bis nach Sibirien, vom Kaukasus bis zum Stillen Ozean verbreitet ist, nicht unerheblich ab, so daß die Systematiker eine ganze Anzahl von Formen unterscheiden wollen. Schon Wald- und Dschungeltiger unterscheiden sich; dieser ist im allgemeinen matter ausgefärbt als jener. Je höher nach Norden der Tiger vorkommt – und es gibt buchstäblich in Eis und Schnee lebende Tiger in Sibirien –, um so heller von Farbe und um so langhaariger ist er.

Irgendein Fleckchen hohen Grases oder Schilfes am Flußufer oder Sumpfrande, berichtet der englische Indienforscher und Geologe Henry Blomford, irgendein wirres Dickicht von Tamarisken oder Eugenien unter einem Dutzend offenbar ganz gleichartiger in einem Wasserlaufe, ein bestimmter Laufe von Felsblöcken unter hundert ähnlichen des Hügellandes bleibt Jahr für Jahr das Heim eines Tigers, und wenn das Tier vom Jäger erlegt wird, so dauert es nicht lange, und ein andrer besetzt den freigewordenen Platz. Zu jeder Zeit umherstreifend, freilich die Dämmerung bevorzugend, geht der Tiger von seinem Lager auf Beute aus, indem er sich an geeigneten Stellen, der Tränke, einem Pfade und dergleichen auf die Lauer legt. Vorsichtig, bis zu gewissem Grade sogar feige, überfällt er alles, was seiner Kraft nicht gewachsen ist. Seine Hauptnahrung sind Wildschweine, Hirsche, Antilopen, gelegentlich wagt er sich wohl auch einmal an den wehrhaften, mächtigen Wildbüffel, der ihn aber meist abzuschlagen weiß. Zur Zeit der Überschwemmungen frißt der bengalische Tiger Fische, Schildkröten, Eidechsen, selbst Frösche. Der Tiger der Mandschurei jagt Renntier und Elen, begnügt sich in schlechten Zeiten aber auch mit Pfeifhasen und Mäusen. Ja, wie Forbes berichtet, soll auf Sumatra der Tiger gleich den Elefanten die stachligen Durianfrüchte mit Gier verzehren. Daß er Haustiere schlägt und Menschen tötet, wurde schon erwähnt und begründet. So ist der Tiger denn bei Mensch und Tier in gleicher Weise verhaßt und gefürchtet. Jegliches Wild, schreibt der deutsche Indienjäger Oskar Kauffmann, wittert in einem bestimmten Umkreise die Großkatze und verzieht sich schnell aus der bedrohlichen Nähe; im allgemeinen rennen, retten, flüchten alle Tiere, wehrhaftes Großwild ausgenommen, vor dem Tiger. Die Menschen Asiens haben eine abergläubische Scheu vor dem » margapati pasupati«, wie die Javanen in ihrer poetischen Redeweise sagen, vor dem »Herrn der Wege und Tiere«. Der Chinese legt dem Tiger je nach seiner Stärke einen persönlichen Rang bei; die mächtigsten tituliert er »Dschengun Ambuan«, d. h. »Generalgouverneur«. Trifft er beim Holzholen solchen hohen Herrn, so kniet er nieder und bittet den Tiger, gnädigst mit einem seiner Haustiere vorliebzunehmen, ihn selber aber zu verschonen. In ganz Indien verehrt man im Tiger übernatürliche Kräfte, eine Art von Werwolf. Als solche verwunschene Menschen gelten insbesondere Tiger, die sich in der Nähe von Dörfern niederlassen; es sind, wie man glaubt, verschollene Dorfangehörige. Die Kadir in Cochinchina sehen im Tiger einen Gott. Sobald sie einem Jäger als Fährtensucher und Treiber zur Erlegung eines Tigers behilflich waren, berichtet Kauffmann, treten sie an den Verendeten heran, führen die Hände zur Stirn und beten: »Großer Gott, ich habe den Sahib (Herrn) nur hierher geführt, um dich zu sehen. Wenn er dich getötet hat, so ist es nicht meine Schuld. Alle Sünde komme auf ihn. Verzeih mir, du großer Gott, der du im Tiger wohnst.« Bei solchen Vorstellungen ist es verständlich, wie leicht es der Tiger hat, sich zum »Menschenfresser« auszubilden. Ein überraschender Angriff ist die Methode des Tigers, seine Beute zu schlagen. Meist springt er, nachdem er sich vorsichtig angeschlichen hat, aus nächster Nähe dem Großwild oder dem Rinde an die Kehle und versucht dann mit Hilfe der Pranken sich einen Schwung nach oben zu geben, der dem Opfer das Genick bricht. Gelingt ihm die Überrumpelung, so jagt er in Sprüngen hinter dem Flüchtenden her, bis er es eingeholt hat und reißen kann. Das »Brüllen« des Tigers, an Gewalt mit dem des Löwen, ja, selbst eines Rindes gar nicht zu vergleichen, ist ein mehrmals in kurzen Zwischenräumen wiederholter, gedehnter, wie Klagen klingender Laut, ein riesenhaftes Miauen möchte ich sagen, das durch kurz abgehackte, tiefe Kehllaute beendet wird. Die Tigerin bringt in abgelegenem Versteck zwei bis drei Junge zur Welt, von etwa Rattengröße und schon ähnlich gezeichnet wie die Alten, die ganz wie Hauskatzen spielend sich gebärden. Nach etwa sechs Wochen beginnen sie mit der Mutter umherzuziehen, lernen mit der Zeit von der Mutter das Jagen und beginnen schon vor Ablauf des ersten Lebensjahres selbst auf Beute auszugehen.

Gejagt wird der Tiger auf mannigfache Art. Der französische Forschungsreisende Moser erzählt, daß junge Kirgisen, um ihren Mut zu beweisen, den Tiger in seinem Lager aufsuchen und, nur mit der »Ai-balta«, einem langgestielten Beile, und einem Messer bewaffnet, in dem Moment, da er sich zum Sprung anschickt, ihn mit einem Beilhieb betäuben und ihm dann das Messer ins Herz stoßen. Für gewöhnlich fangen ihn die Eingeborenen aber in Fallen, wie wir das eingangs schilderten, oder in gepfählten Gruben; irgendein lebendes Tier oder ein Luder ködert den Tiger an. Der einzeln jagende Europäer in Indien erlegt den Tiger meist auf dem Anstand, indem er entweder mit Hilfe einer Ansitzleiter einen hohen Baum ersteigt und sich dort festsetzt – der Tiger erklettert Bäume nicht, wennschon er gelegentlich seine Krallen an der Rinde, bisweilen über zwei Männerhöhe springend, probiert und schärft – oder von einem besondern Bau, der »Machan« (sprich: m?tschan, d. h. Plattform), aus, die bisweilen in einem massiven, steinernen Turm besteht. Die Katze wird dem Jäger dabei durch Treiber in Schußlinie gejagt oder durch einen nahen Köder gelockt. Sehr lebendig hat uns Kauffmann solche Jagdmethode einmal geschildert.

»Es war ein herrlicher Abend,« schreibt er, »vor mir zog sich das Dschungel bis zum Fuße des Hügels hinunter, von dem ein murmelndes Bächlein sich seinen Weg in das mit gelbem, trocknem Grase bestandene Tal bahnte. Bald, schon nach anderthalb Stunden, als die untergehende Sonne mit ihren Strahlen das Dschungel in gelbe, rote und später violette Farben tauchte, sah ich auf hundert Schritt den Tiger aus dichtem Gebüsch gerade auf das Luder zu hervorkommen. Er pirschte sich, am Boden kauernd, jede Deckung hinter Gras und Busch sorgfältig benutzend, langsam heran. Jetzt kam er an den Bach, noch siebzig Schritt von mir entfernt. Hier richtete er sich in wahrhaft königlicher Würde auf und sicherte breit vor mir. Ich schoß noch nicht, er mußte ja näher kommen. Endlos schien mir die Zeit, als er jetzt in einem kleinen Stück hohen Grases verschwand, wo nichts seine nahe Anwesenheit verriet. Es war mir nicht möglich, auch nur die leiseste Bewegung in den kaum über einen Meter hohen Halmspitzen des Grases zu bemerken, das ihn verschlungen zu haben schien. Die Minuten wurden mir zu Stunden. Immer dunkler wurde es, während der Waldwärter hinter mir vor Aufregung zitterte und japste. Es war mir unmöglich, ihn jetzt zum Stillhalten zu ermahnen; denn ich durfte mich selbst nicht regen. Es hätte ja auch wohl nichts genutzt. Was sollte ich machen, wenn der Tiger nicht mehr bei Büchsenlicht aus dem Grasdickicht hervorkam? In der Ewigkeit der Erwartung gab ich fast schon den Erfolg auf. Warum hatte ich nicht schon vorher auf siebzig Schritt geschossen? Aber jetzt! – Endlich taucht der Kopf des Tigers aus dem Grase fünf Schritt vor dem Luder auf, und im nächsten Augenblick stand die Katze vor mir in aller Schönheit und Würde. – In dem Wipfel meines Baumes hatte sich eine Wildtaube eingefunden und gurrte über mir mit Herzenslust ihre Abendmelodei. Sie mußte ja den Tiger eräugen; der mochte ihr freilich nichts anzuhaben. Der Tiger zeigte mir gähnend den gewaltigen Fang und blinzelte nach Katzenart vergnügt auf sein Opfer hin. Jetzt riß ihn der Schuß aus meiner Büchse etwas plötzlich aus den Träumen und ließ ihn im Feuer zusammenbrechen. Mein zweiter Schuß, hochblatt, ließ das Rohren stillewerden. Noch ein Schnappen nach der neuen Wunde, und er war verendet.«

Die indischen Großen veranstalten gelegentlich Tigerjagden vom Elefanten aus. Nicht jeder Elefant, schildert Schlagintweit, taugt zur Tigerjagd; mehr als einen Jäger brachte es in Gefahr, daß der Elefant angesichts des Tigers nicht stillesteht, sondern in eiliger Flucht das Weite sucht. Ein solcher Ausreißer rennt mitten durch Buschwerk hindurch und wirft den Jäger ab, oder dieser verletzt sich an Ästen. Man sucht deshalb die gelehrigsten Männchen heraus, stutzt ihnen die Zähne und gewöhnt sie an Gehorsam selbst in Gefahr. Solche Tiere werten das Doppelte des Lastelefanten. Der Sattel, Hauda, hat für die Jagd vorne eine sehr hohe Lehne als Widerlager für die Gewehre und dient dem Körper des Schützen als Schild. Ein wohlabgerichteter Jagdelefant, ins Dschungel geführt, merkt sofort die Absicht, wird nicht im geringsten unruhig, nimmt aber teil an der allgemeinen Spannung. Er geht ungemein vorsichtig, beachtet alles und späht nach allen Seiten hin. Man muß nun danach trachten, den Elefanten mit dem Kopf gegen den Tiger zu bringen; denn da der Elefant hinten nicht hoch gebaut ist, kann der Tiger sich von rückwärts mit einem mächtigen Satze auf den Elefanten hinaufschwingen. Sobald ein gut dressierter Jagdelefant des Tigers ansichtig wird, erhebt er den Rüssel, damit dieser empfindliche Teil nicht verletzt werde. Rasch springt der Tiger vom Lager auf, der Elefant senkt die Stirn, und der Tiger schlägt seine Krallen tief in die dicke Haut des Gegners, lange, blutige Rinnen ziehend. Dabei schwebt der Tiger mit den Hinterfüßen in der Luft und sucht für diese nach einem Stützpunkt zum Sprunge. Gelingt es ihm den Vorderfuß des Elefanten zu treffen, dann allerdings ist die Lage des Führers, der hinter den Ohren auf dem Nacken des Tieres reitet, und der Insassen im Jagdkorbe kritisch: nur ein rechtzeitiger, sicherer Schuß beseitigt die Gefahr. Zu solcher Aufregung kommt es aber selten. Der Elefant ist gelehrt, den Kopf zu senken und tut dies schon aus Instinkt; durch das Gewicht der eigenen Schwere wird so der Tiger zur Erde gezogen und fällt herab. Dies ist der günstigste Augenblick zum Schuß. Eine Kugel, die das Genick trifft, das Herz oder die Lunge, ist meist sofort tödlich. Gewöhnlich gibt man mehrere Schüsse auf den sehr zählebigen Tiger ab. Selbst wenn er regungslos daliegt, nähert man sich ihm nicht, sondern läßt den Elefanten seinen gewaltigen Fuß auf des Erlegten Schädel setzen und ihn zermalmen.

Die Alten lernten den Tiger erst um das Jahr 300 vor Christi Geburt kennen; damals kam ein solcher als Geschenk des Königs Seleukos I. von Syrien nach Athen. Im Rom der Kaiserzeit kämpften Tiger in der Arena, wie noch heute die indischen Fürsten ähnliche Kämpfe zwischen Tigern und Büffeln oder lanzenbewehrten Kriegern veranstalten, fuhren römische Kaiser wie Gordian und Heliogabal mit Tigergespannen durch die Straßen der Hauptstadt der Welt.


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