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XXII.

»Wie?« rief der Baron laut lachend, als Fröben schwieg, »weiter willst du nicht erzählen? Willst du es auch heute wieder machen, wie du es mir schon damals machtest? Nämlich bis hierher, meine Herren und Damen, hat er ganz nach reiner historischer Wahrheit erzählt. Er glaubte mich vielleicht weit weg, und ich stand keine zehn Schritt von der erbaulichen Samariterscene unter dem Portal des Palais und sah ihm zu; ob der Dialog wirklich so vor sich gegangen, weiss ich nicht, denn der schändliche Wind verwehte die Worte, aber ich sah, wie die Dame ihr Lämpchen auslöschte und mit ihm zurück über die Brücke ging. Die Nacht war mir zu kalt, um ihm bei seinem galanten Abenteuer zu folgen, aber am Ende, ich wollte wetten, sah er weder eine kranke Mama noch dergleichen, sondern die Dame vom Pont des Arts hatte das alte Sirenenlied nur auf andre Weise gesungen.«

Er belachte seinen eignen Witz, und die Männer stimmten ein in das rohe Gelächter, die Damen aber sahen vor sich nieder, und Josephe schien mit den Worten ihres Gatten so unzufrieden, als mit der sonderbaren Erzählung ihres Freundes, denn bleich wie der Tod hielt sie ihre Tasse in den Händen, dass sie klirrte, und sandte dem jungen Mann nur einen Blick zu, für den er in diesem Augenblick keine andre als eine tief beschämende Deutung wusste. »Ich glaube zwar«, sprach er, mit starker Stimme das Gelächter der Männer unterbrechend, »mein Pfand gelöst zu haben, aber mein eigner Vorteil will, dass ich eine Deutung dieses Vorfalles nicht zulasse, die mein Freund ihm unterzulegen scheint; Sie erlauben mir daher, dass ich fortfahre, und bei meinem Leben«, setzte er hinzu, indem er errötete und sein Auge höher leuchtete, »ich will Ihnen die reine Wahrheit sagen.

»Das Mädchen bog über die Brücke ein, woher ich gekommen war. Während ich schweigend mehr hinter als neben ihr ging, hatte ich Zeit, sie zu betrachten. Ihre Gestalt, soweit sie der Mantel sehen liess, ihre ganze Haltung, besonders aber ihre Stimme waren sehr jugendlich. Ihr Gang schnell, aber leicht und schwebend. Sie hatte meinen Arm abgelehnt, als ich ihn zur Führung angeboten. Am Ende der Brücke bog sie nach der Rue Mazarin ein. ›Ist Ihre Mutter schon lange krank?‹ fragte ich, indem ich wieder an ihre Seite trat und versuchte, durch den Schleier etwas von ihren Zügen zu erspähen. ›Seit zwei Jahren‹, antwortete sie seufzend, ›aber seit acht Tagen ist sie recht elend geworden.‹ – ›Waren Sie schon öfter an jenem Ort?‹ – ›Wo?‹ fragte sie. – ›Auf der Brücke.‹ – ›Diesen Abend zum erstenmal‹, erwiderte sie. – ›Dann haben Sie sich keinen guten Platz gesucht, andre Passagen sind frequenter.‹ Doch schon, indem ich dies sagte, bereute ich, es gesagt zu haben, denn es musste sie ja verletzen. Mit unterdrücktem Weinen flüsterte sie: ›Ach, ich bin ja hier so unbekannt und – ich schämte mich, so ins Gedränge zu gehen‹.

»Wie grenzenlos musste das Elend sein, das dieses Geschöpf zwang, zu betteln. Zwar wollten auch mir, ich gestehe es, einigemal solche Gedanken kommen, wie sie Faldner hatte, aber immer verschwanden sie wieder, weil sie widersinnig, unnatürlich waren; wenn sie zu jener verworfenen Klasse von Mädchen gehörte, warum sollte sie sich verhüllt an einen einsamen Ort stellen? Warum geflissentlich eine Gestalt verbergen, die, soviel die Umrisse flüchtig zeigten, gewiss zu den schönern zu zählen war? Nein, es war gewiss wirkliches Elend und jene zarte Verschämtheit vor unverschuldeter Armut da, die das Unglück so unbeschreiblich rührend macht.

»Hat Ihre Mutter einen Arzt?‹ fragte ich wieder nach einiger Weile. ›Sie hatte einen; aber als wir keine Arznei mehr kaufen konnten, wollte er sie ins Spital des Incurables bringen lassen, und – das konnte ich nicht ertragen. Ach Gott, meine arme Mutter ins Spital!‹ Wieviel tiefer Schmerz lag in den letzten Worten dieses Mädchens!

»Sie weinte, sie führte ihr Tuch unter dem Schleier ans Auge, und Laterne und Teller, die sie in der andern Hand trug, verhinderten sie, den Mantel zusammenzuhalten; der Wind wehte ihn weit auseinander und ich sah, dass ich mich nicht betrogen hatte; sie war von feiner, schlanker Taille, sie trug ein einfaches, soviel mein flüchtiger Blick bemerkte, sehr reinliches Kleid. Sie haschte nach dem Mantel, und indem ich ihr behilflich war, ihn wieder umzulegen, fühlte ich ihre weiche zarte Hand.

»Wir waren schon durch die Strassen Mazarin, St.-Germain, Ecole de Médecine und von dort durch einige kleine Seitenstrassen gegangen, als sie auf einmal stehen blieb und klagte, sie habe den Weg verfehlt. Ich fragte sie, in welcher Gegend sie wohne, und sie gab St.-Severin an. Ich war in Verlegenheit, denn diese Strasse wusste ich selbst nicht zu finden. Machte es Angst oder Kälte, ich sah sie heftiger zittern. Ich sah mich um; ich bemerkte noch Licht in einem Souterrain, wo Branntwein verkauft wurde, ich bat sie, zu warten, stieg hinab und erkundigte mich. Man wies mich zurecht, und ich glaubte mich hinfinden zu können. Als ich heraufkam, hörte ich in der Nähe laut reden; ich sah beim schwachen Schein einer Laterne, wie sich das Mädchen heftig gegen zwei Männer wehrte, von denen der eine ihre Hand, der andre den Mantel gefasst hatte; sie lachten, sie sprachen ihr zu; ich ahnte, was vorging, sprang herzu und riss dem einen die Hand weg, die er gefasst hatte; sprachlos, weinend, klammerte sie sich fest an meinen Arm.

»›Meine Herren‹, sagte ich, ›Ihr seht, Ihr seid hier im Irrtum, Ihr werdet im Augenblick den Mantel von Mademoiselle loslassen!‹

»›Ach, Verzeihung, mein Herr!‹ erwiderte der, welcher ihren Mantel gefasst hatte. ›Ich sehe, Sie haben ältere Rechte auf Mademoiselle!‹ Und lachend zogen sie weiter.

»Wir gingen weiter, das arme Kind zitterte heftig, sie hielt noch immer meinen Arm fest, sie war nahe daran, niederzusinken.

»›Nur Mut!‹ sagte ich zu ihr, ›St.-Severin ist nicht fern, Sie werden bald zu Hause sein.‹ Sie antwortete nicht, sie weinte noch immer. Als wir in der Strasse waren, die nach der Beschreibung St.-Severin sein musste, blieb sie wieder stehen. ›Nein, Sie dürfen nicht weiter mit mir gehen, mein Herr!‹ sagte sie. ›Es darf nicht sein.‹ – ›Aber warum denn nicht, da Sie mich so weit mitgenommen haben; ich bitte, trauen Sie mir keine schlechten Absichten zu!‹ Ich hatte bei diesen Worten, ohne es zu wissen, ihre Hand ergriffen und vielleicht gedrückt; sie entzog sie mir hastig und sagte: ›Vergeben Sie, dass ich die Unschicklichkeit beging, Sie so weit mitzuführen; ich bitte, verlassen Sie mich jetzt!‹ Ich fühlte, dass der Auftritt vorhin sie tief verletzt hatte, dass er ihr vielleicht gegen mich selbst Misstrauen einflösste, und eben dies rührte mich unbeschreiblich; ich nahm das Silber, das mir Faldner gegeben, und wollte es ihr hinreichen; aber der Gedanke, wie wenig diese kleine Gabe ihr helfen könne, zog meine Hand zurück und ich gab ihr das wenige Gold, das ich bei mir trug.

»Ihre Hand zuckte, als sie es nahm; sie schien es für Silber zu halten, dankte mir aber mit zitternder Stimme und wollte gehen.

»›Noch ein Wort‹, sagte ich und hielt sie auf; ›ich hoffe, Ihre Mutter wird gesund werden, aber es könnte ihr doch noch an etwas gebrechen, und Sie, mein Kind, sind nicht für solche Abendgänge wie der heutige gemacht. Wollen Sie nicht heute über acht Tage um dieselbe Zeit vor der Ecole de Médecine sein, dass ich mich nach Ihrer Mutter erkundigen kann?‹ Sie schien unschlüssig, endlich sagte sie: ›Ja‹. – ›Und setzen Sie doch den Hut mit dem grünen Schleier wieder auf, dass ich Sie erkenne‹, fügte ich hinzu; sie bejahte es, dankte noch einmal, ging eilends die Strasse hin und war schnell in der Nacht verschwunden.

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