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»Ich weiss nicht«, hob Fröben an, »ob der Gesellschaft bekannt ist, dass ich vor mehreren Jahren mit unserm Faldner reiste, namentlich in Paris mit ihm einige Zeit zusammenlebte, ja ein Haus mit ihm bewohnte? Wir hatten so ziemlich gemeinschaftliche Studien, besuchten dieselben Zirkel, machten gegenseitig unsre frühern Bekannten mit dem Freunde bekannt und lebten auf diese Weise unzertrennlich. Wir hatten einen gemeinschaftlichen Freund, den ebenso liebenswürdigen als gelehrten Doktor M., einen Landsmann, der in der Rue Taranne wohnte, die bekanntlich in die Rue St.-Dominique führt und auf dem linken Ufer der Seine liegt. Unser gewöhnlicher Abendspaziergang war durch die Champs-Elysées über die schöne Brücke ins Marsfeld und von da nach Faubourg St.-Germain in die Wohnung unseres Freundes, wo wir oft noch bis tief in die Nacht vom Vaterlande, von Frankreich, von dem, was wir gesehen, von allem möglichen plauderten. Wir wohnten, um dies noch hinzuzusetzen, am Place des Victoires, ziemlich entfernt von der Rue Taranne, und wählten zum Rückweg gewöhnlich den Pont des Arts, um das Louvre zu durchschneiden und uns einen Umweg durch die Seitenstrassen zu ersparen. Eines Abends, es mochte nach elf Uhr sein – es hatte etwas geregnet, und der Wind wehte besonders in der Nähe des Flusses sehr kalt und schneidend – gingen wir auch vom Quai Malaquais über den Pont des Arts dem Louvre zu. Der Pont des Arts ist nur für Fussgänger zugänglich, und so kam es, dass um diese Zeit nicht mehr viel Leben um und auf der Brücke war. Wir gingen, die Mäntel fester um uns ziehend, stillschweigend über die Brücke; schon wollte ich die Brückenstufen auf der andern Seite hinabeilen, als ein überraschender Anblick mich festhielt.
»An der Brücke gelehnt, stand eine schlanke, ziemlich hohe, weibliche Gestalt. Ein schwarzes Hütchen war tief ins Gesicht geknüpft und zum Ueberfluss noch mit einem grünen Schleier versehen; ein schwarzer Mantel von Seide fiel um den Leib, und der Wind, der die Gewänder in diesem Augenblicke fester anschmiegte, verriet eine ungemein zarte, jugendliche Taille; aus dem Mantel ragte eine kleine Hand hervor, die einen Teller hielt; vor ihr aber stand ein kleines Laternchen, dessen Licht unruhig flackerte, sein Schein fiel auf einen zierlichen Fuss. Es wohnt vielleicht nirgends so sehr als in jener Stadt das tiefste Elend neben dem höchsten Glanz und Wohlleben, aber dennoch sieht man verhältnismässig wenige Bettler. Sie drängen sich selten unverschämt herzu, und nie wird man sehen, dass sie dem Fremden nachlaufen, ihn mit Bitten verfolgen. Alte Männer oder Blinde sitzen oder knieen an den Ecken der Strassen, den Hut ruhig vor sich hinhaltend, und überlassen es dem Vorübergehenden, ob er ihren bittenden Blick beachten will.
»Am schauerlichsten, wenigstens für mein Gefühl, waren immer jene verschämten Bettler, die nachts mit verhülltem Haupt, eine brennende Kerze vor sich, regungslos, fast schon wie erstorben, in einer Ecke stehen. Viele meiner Bekannten in Paris hatten mich versichert, dass man darauf rechnen könne, dass dies meist Leute aus bessern Ständen seien, die durch Unglück so tief herabgekommen sind, dass sie entweder Arbeit suchen müssen, oder zu verschämt, vielleicht zu schwach sind, um für Brot zu arbeiten, und so diesen letzten Ausweg ergreifen, ehe sie, wie so viele Unglückliche, ihr Leben in der Seine der Vergessenheit übergeben.
»Von dieser Klasse der Bettelnden war die weibliche Gestalt an dem Pont des Arts, deren Anblick mich unwiderstehlich fesselte. Ich sah sie näher an; ihre Glieder schienen vor Frost noch heftiger zu zittern als das Flämmchen in der Laterne, aber sie schwieg und liess ihr Elend und den kalten Nachtwind für sich reden. Ich suchte in der Tasche nach kleinem Gelde, aber es wollte sich kein Sou, sogar kein einzelner Frank finden. Ich wandte mich an Faldner und bat ihn um Münze; aber unmutig, durch mein Zögern der schneidenden Kälte ausgesetzt zu sein, rief er mir in unsrer Sprache zu: ›So lass doch das Bettelvolk und spute dich, dass wir zu Bette kommen, mich friert!‹ – ›Nur ein paar Sous, Bester!‹ bat ich, aber er packte mich am Mantel und wollte mich wegziehen. »Da rief die Verhüllte mit zitternder, aber wohltönender Stimme, und zu unsrer Verwunderung auf gut deutsch: ›O meine Herren! seien Sie barmherzig!‹ Diese Stimme, diese Worte und unsre Sprache hatten etwas so Rührendes für mich, dass ich nochmals um einige Münze bat. Er lachte: ›Nun wohlan, da hast du ein paar Frank‹, sagte er, ›versuche dein Heil mit der Jungfer, aber mich lass aus dem Zug treten‹. Er drückte mir das Geld in die Hand und ging lachend weiter. Ich war in diesem Augenblicke wirklich verlegen, was ich thun sollte; sie musste ja gehört haben, was Faldner sagte, und beleidigen mag ich am wenigsten einen Unglücklichen. Ich trat unschlüssig näher. ›Mein Kind‹, sagte ich, ›Sie haben hier einen schlechten Standpunkt gewählt, hier werden heute abend nicht mehr viele Menschen vorübergehen.‹ Sie antwortete nicht gleich. ›Wenn nur‹, flüsterte sie nach einer Weile kaum hörbar, ›diese wenigen Gefühl für Unglück haben!‹ Diese Antwort überraschte mich, sie war so ungesucht und doch so treffend. Die edle Haltung des Mädchens, der Ton, womit sie jene Worte gesagt, verrieten Bildung. ›Wir sind Landsleute‹, fuhr ich fort, ›darf ich Sie nicht bitten, dass Sie mir sagen, ob ich vielleicht mehr für Sie thun kann, als so im Vorübergehen zu geschehen pflegt?‹ – ›Wir sind arm‹, antwortete sie, wie mir schien, etwas mutiger, ›und meine Mutter ist krank und ohne Hilfe.‹ Ohne weitere Ueberlegung, nur von dem unbestimmten Gefühl, dass mich das Mädchen sehr anzog, getrieben, sagte ich: ›Führen Sie mich zu ihr!‹ Sie schwieg, der Vorschlag schien sie zu überraschen. ›Halten Sie dieses für nichts andres‹, fuhr ich fort, ›als für meinen redlichen Willen, Ihnen zu helfen, wenn ich kann.‹ – ›So kommen Sie‹, erwiderte die Verschleierte, hob ihr Laternchen auf, löschte es aus und verbarg es samt dem Teller unter dem Mantel.«