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»Sehen, wie der Dampfer abgeht.«

Bisweilen kam mir, indem ich den Abgang eines Dampfers nach dem Osten beobachtete, der Gedanke, daß der Act des Scheidens von Freunden, der so allgemein ein von Bitterkeit und Niedergeschlagenheit begleiteter ist, infolge einer klug ersonnenen californischen Sitte eine vergnügliche Aufregung giebt. Dieser Luxus des Abschiednehmens, dem sich die meisten Californier überlassen, wird oft bis zum Einziehen der Einsteigeplanke ausgedehnt. Jene letzten Worte, Anempfehlungen, Versprechungen und Umarmungen, welche in jener Abgeschlossenheit vom Publikum, die bei andern Gelegenheiten verlangt wird, vielleicht traurig und niederdrückend sind, nehmen hier, gerade durch ihre Oeffentlichkeit, einen belustigenden und erheiternden Charakter an. Ein Scheidekuß, der vom Deck eines Dampfers in eine gemischte Menge geworfen wird, verliert natürlich viel von jener geheiligten Feierlichkeit, mit welcher thörichter Aberglaube ihn zu bekleiden geneigt ist. Eine Breitseite von Liebesworten wird, selbst wenn sie gut gezielt ist und augenscheinlich über die ganze Werfte hinfegt, leicht ohnmächtig und harmlos. Ein Gatte, der es vorzieht, seine Frau vor der Thür ihres Kajütenkämmerchens zum letzten Mal zu umarmen und sich zum Mittelpunkt einer bewundernden Gruppe unbetheiligter Zuschauer werden sieht, fühlt sich natürlich über jedes Gefühl hinausgehoben, ausgenommen das der Lächerlichkeit, welche die Situation einflößt. Die Mutter, die von ihrem Sprossen scheidet, sollte unter den gleichen Einflüssen eine römische Matrone werden; der Liebende, der von seiner Liebsten Abschied nimmt, wird nicht leicht durch irgend eine gerührte Thorheit die allgemeine Heiterkeit stören.

In der That, dieses System, unsere Scheidegrüße bis zum letzten Moment aufzusparen – diese Verschiebung häuslicher Scenerie und häuslichen Geschehens nach einem öffentlichen Theater – mag eines stoischen und demokratischen Volkes würdig genannt werden und ist ein Ereigniß in unserm Leben, welches mit dem niedrigsten Kohlenträger oder wandernden Apfelsinenverkäufer getheilt werden kann. Es ist eine Rückkehr zu jener klassischen Straßenerfahrung und jener Vermischung öffentlicher und häuslicher Wirtschaft, welche die geradnasigen Athener so veredelte.

Dieser Wunsch, beim Abgang jedes Dampfers zugegen zu sein, ist so allgemein, daß neben der regelmäßigen Menge von Lungerern, die eingestandnermaßen nur, um zuzusehen, erscheinen, es andere giebt, welche sich auch die oberflächlichste Bekanntschaft zu Nutze machen, um die Formel des Abschiednehmens durchzumachen. Leute, die man vollständig vergessen hat, Leute, denen man neuerdings vorgestellt worden ist, kommen plötzlich und unerwartet zum Vorschein und schütteln uns mit Eifer die Hände. Der uns längst fremd gewordene Freund vergiebt uns edelherzig im letzten Augenblick, um sich diese glorreiche Gelegenheit zu Nutze zu machen, »uns abreisen zu sehen«. Unser Schuster, Schneider und Hutmacher besuchen uns – glücklicherweise aus keinen weiterliegenden Beweggründen und ohne Begleitung officieller Freunde – mit Enthusiasmus. Wir finden es sehr schwierig, unsre Verwandten und Bekannten von den Koffern loszukriegen, auf welche sie sich entschlossen bis zu dem Augenblick setzen, wo die Schaufelräder in Bewegung gerathen, und wir werden fortwährend von dem unklaren Gedanken gequält, daß sie mit hinweggeführt werden können und daß man sie uns für den Rest der Reise mit der Verpflichtung zuschieben kann, ihre Fahrt zu bezahlen, was wir unter den Umständen nicht ablehnen könnten. Unsere Freunde werden in den ungelegensten Augenblicken und von den unverhofftesten Stellen her erscheinen, aus Klüsgaten herunterbaumeln, auf den Radkasten klettern und mit höchster Lebensgefahr durch Kajütenfenster kriechen. Wir sind nervös und ganz muthlos über diese weitere Last von Verantwortlichkeit. Ist man ein Fremder, so wird man eine Menge von Leuten an Bord finden, die fröhlich und aufs Gerathewohl hin bei der geringsten Annäherung unsrerseits von uns Abschied nehmen. Einer meiner Freunde versichert mir, daß er einmal mit großer Begeisterung und Herzlichkeit von einer Gesellschaft Herren schied, die ihm persönlich unbekannt waren und sich augenscheinlich in seiner Kajütenkammer geirrt hatten. Diese Gesellschaft, die offenbar mit irgend einer Feuerlösch-Gesellschaft in Verbindung stand, machte später, als sie beim Vergleich von Rechnungen auf der Werfte etwas unbefriedigt über das Ergebniß ihrer Leistungen war, die Stellung meines Freundes auf dem Deck zu einer höchst gefährlichen und unbehaglichen, indem sie mit geschickter Hand Orangen und Aepfel nach ihm schleuderte und dieses Manöver mit etwas Geschimpf begleitete. Doch giebt es gewiß ein Interesse für uns an der Prüfung jenes unerfreulichen feuchten Kämmerchens, dessen lackirte Wände kein Hausgeräth und keine Gesellschaft bewohnbar machen kann, und in welchem unser Freund so manchen schalen Tag und so manche schlaflose Nacht zu verbringen haben wird. Der Anblick dieser Gemächer, die man – Gott weiß, warum, es müßte denn wegen ihres Mangels an Traulichkeit sein – Staatszimmer benamset, ist voll von schmerzlichen Erinnerungen für die meisten Californier, welche das Gedächtniß an jene traurige Zwischenzeit noch nicht verwachsen haben, wo, den weisen Ausgleichungsgesetzen der Natur gehorsam, das Heimweh durch die Seekrankheit ausgelöscht wurde und beide sich zuletzt in einen chaotischen und übellaunigen Traum auflösten, dessen Einzelnheiten wir jetzt wieder erkennen. Der Dampferstuhl, den wir auf den schmalen Streifen Deck zu ziehen und in dem wir dann über den Seiten einer abgegriffnen Novelle einzuduseln pflegten, das Deck selbst, das des Nachmittags von den Schalen von Orangen und Bananen duftete, des Morgens von Salzwasser und Scheuerwischen feucht war, die Schanzverkleidung mit den netzartigen Wanten, die in den Tropen nach Theer rochen und auf der Wasserseite mit kleinen Salzkrystallen besetzt waren, die niederträchtige Mischung der Gerüche von Lebensmitteln aus der Speisekammer und von Oel aus dem Maschinenraum, die junge Dame, mit der wir coquettirten, und mit der wir unsere neueste Novelle theilten, die wir mit Randbemerkungen versehen hatten, unser lieber Zimmernachbar, unser lieber Quälgeist, der Mann, der nie seekrank war, die beiden Ereignisse des Tages, Frühstück und Mittagsessen, und die öde Zwischenzeit, die fürchterliche Wichtigkeit, die unbedeutenden Ereignissen und unbedeutenden Menschen beigelegt wurde, die junge Dame, die ein Tagebuch führte, die Zeitung, die an Bord herausgegeben wurde, angefüllt mit sanften Späschen und Impertinenzen, die anderswo unerträglich gewesen wären, die junge Dame, welche sang, der reiche Passagier, der allgemein beliebte Passagier, der –

[Setzen wir uns einen Augenblick nieder, bis die Anwandlung von Uebelkeit, welche diese Gedankenverbindungen und eine gewisse verpestende Eigenschaft der Atmosphäre hervorzurufen scheinen, vorüber ist. Was wird aus unsern Freunden vom Dampfer? Warum sind wir jetzt so gleichgültig gegen sie? Warum treiben wir jetzt so ohne Interesse für sie von ihnen weg und vergessen sogar ihre Namen und Gesichtszüge? Warum, wenn wir uns wirklich ihrer erinnern, blicken wir auf sie so mißtrauisch, mit der dunkeln Vorstellung, daß sie bei der ungezwungnen Freiheit der Reise in den Besitz unseres Vertrauens gelangten und unsre Schwächen kennen lernten, die wir ihnen nie hätten mittheilen sollen. Machten wir überhaupt solche Geständnisse? Weg mit dem Gedanken. Der beliebte Mann indessen ist jetzt nicht mehr so beliebt. Wir haben schönere Stimmen gehört als die der jungen Dame, die so lieblich sang. Die bezaubernden Eigenschaften unseres Zimmernachbars haben sich am Lande etwas verschlechtert, desgleichen die der holden jungen Dame, die mit uns die Novelle las, und die jetzt das Weib eines wackern Bergmanns in Virginia City ist.]

– der Passagier, der so viele Fahrten gemacht hatte und eine rückhaltslose Vertraulichkeit gegen die Offiziere an den Tag legte, die Offiziere selbst, jetzt so bescheiden und anspruchslos, ein paar Stunden vorher so allmächtig und bedeutungsvoll – das sind einige von den Erinnerungen der meisten Californier, und das muß von den Erfahrungen unseres Freundes im Gedächtniß behalten werden. Doch fühlt er, wie wir alle, daß seine vergangne Erfahrung ihm von Nutzen sein wird, und hat schon das zuversichtliche Wesen eines alten Reisenden.

Wenn wir wieder auf der Werfte stehen und den Rufen der wandernden Obstverkäufer zuhören, fragt man sich, wie es kommt, daß man glaubt, der Schmerz der Trennung und die unangenehmen Neuheiten der Reise würden durch Orangen und Aepfel gemildert, und zwar selbst bei ruinirend niedrigen Preisen. Vielleicht mag es gleichsam die letzte Gabe der fruchtreichen Erde sein, wenn der Passagier sich dem Busen der unfruchtbaren und nichts erzeugenden See anvertraut. Selbst noch, wo die Räder sich schon bewegen und die Taue abgeworfen werden, schließt ein unverzagter Apfelhändler, der die Spitze eines Pfahls bestiegen, ein Geschäft mit einem Zwischendeckspassagier ab – bei einem Zwischenraum von zwanzig Fuß zwischen Käufer und Verkäufer – und bewirkt unter diesen Schwierigkeiten die Ablieferung seiner Waaren. Tücher wehen, hastige Befehle mischen sich mit Segenswünschen beim Scheiden, und der Dampfer ist fort.

Wenn wir dann unser Gesicht der Stadt zuwenden und einen raschen Blick über die sich zurückziehende Menge gleiten lassen, werden wir einen Widerschein unsres eignen gedankenvollen Gesichts in den ihren sehen und die Lösung eines der Probleme lesen, welche den Verehrer Californiens in Verlegenheit setzen. Vor uns liegt San Francisco mit seinen harten, eckigen Umrissen, seinen scharfen, belebenden Winden, seinem hellen, aber unbehaglichen Sonnenscheine, seiner rastlosen und thatkräftigen Bevölkerung; hinter uns verschwimmt die Erinnerung an wechselvolles, aber ehrliches Wetter, an Extreme von Hitze und Kälte, die durch sociale und physische Gesetze gemildert und genießbar gemacht werden, an friedliche Landschaften, an eine zugängliche Natur in ihren freundlichsten Formen, an ererbte Tugenden, an langerprobte Bräuche und Sitten, an alte Freunde und alte Gesichter – mit einem Worte – an die Heimath!


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