Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Argonauten-Geschichten.
(Fortsetzung.)

Mr. Thompsons verlorner Sohn.

Wir alle wußten, daß Mr. Thompson sich nach seinem Sohne umsah, und zwar nach einem ziemlich schlechten Sohne. Daß er nach Californien aus diesem einzigen Grunde ging, war für seine Reisegefährten kein Geheimniß, und die körperlichen Eigenthümlichkeiten wie die moralischen Schwächen des verlornen Sohnes wurden uns durch die offenherzige Geschwätzigkeit des Vaters gleich klar gemacht.

»Sie sprechen da von einem jungen Manne, der im Rothen Hunde wegen Diebstahls in einer Goldwäscherei gehenkt wurde,« sagte Mr. Thompson zu einem Zwischendecks-Passagier, »wissen Sie wohl, von was für Farbe seine Augen waren?«

»Schwarz,« erwiderte der Passagier.

»Ah!« sagte Mr. Thompson, indem er im Notizbuch seines Geistes nachschlug, »Karln seine Augen waren blau.«

Er ging dann hinweg. Vielleicht kam es von dieser unangenehmen Art des Ausfragens, vielleicht war es jene Vorliebe des Westens, jeden Grundsatz oder Spruch, der Einem immer und immer wieder vor Augen gebracht wird, vom humoristischen Gesichtspunkte aus zu betrachten, wenn Mr. Thompsons Nachfrage unter den Passagieren der Gegenstand einiger Satire war. Eine umsonst vertheilte Anzeige wegen des verloren gegangnen Charles, die sich an »Gefängnißwärter und Wächter« wendete, circulirte insgeheim unter ihnen; jedermann erinnerte sich, Charles unter betrübenden Umständen begegnet zu sein. Doch ist es nur Schuldigkeit gegen meine Landsleute, wenn ich bemerke, daß, als bekannt wurde, Thompson habe für dieses traumhafte Project viel Geld mitgenommen, nur wenig von dieser Satire seinen Weg zu seinen Ohren fand, und nichts innerhalb Gehörsweite von ihm geäußert wurde, was ein Vaterherz hätte schmerzlich berühren oder irgend einen möglichen pecuniären Vortheil des Satirikers hätte gefährden können. In der That, Mr. Bracy Tibbets' scherzhafter Vorschlag, eine Actien-Gesellschaft zur Aufsuchung des verloren gegangnen Jünglings zu gründen, wurde eine Zeitlang ganz ernsthaft erwogen.

Vielleicht war für eine oberflächliche Kritik Mr. Thompsons Natur nicht malerisch oder liebenswürdig. Seine Geschichte, wie er sie selbst eines Tages über Tische erzählte, war praktisch selbst in ihrer Eigenthümlichkeit. Nach einer harten und eigensinnigen Jugend und einem Mannesalter derselben Art, in welchem er eine Frau mit gebrochnem Herzen begraben und seinen Sohn auf die See getrieben hatte – versuchte er's plötzlich mit der Religion.

»Ich bekam es in New Orleans im Jahre neunundfünfzig,« sagte Mr. Thompson, indem er allgemein die Vermuthung erweckte, daß er sich auf eine Epidemie bezöge. »Tretet ein durch die enge Pforte. Ach, geben Sie mir doch die Bohnen her.«

Vielleicht hielt ihn dieser praktische Gleichmuth bei seinem anscheinend hoffnungslosen Suchen aufrecht. Er hatte keinerlei Schlüssel in Betreff des Aufenthaltes seines weggelaufenen Sohnes – in der That, kaum einen Beweis dafür, daß er noch existirte. Nach seiner schwachen Erinnerung an den zwölfjährigen Knaben dachte er jetzt einen Mann von fünfundzwanzig Jahren wieder zu erkennen.

Es wollte scheinen, als ob er Erfolg gehabt. Wie er zu diesem Erfolg kam, war eines der wenigen Dinge, die er nicht erzählte. Es giebt, wie ich glaube, zwei Versionen der Geschichte. Die eine ging dahin, daß Mr. Thompson beim Besuch eines Hospitals seinen Sohn infolge eines eigenthümlichen Gesangbuchliedes entdeckt habe, welches der Leidende in einem Fiebertraum von seiner Jugend gesungen haben sollte. Diese Version, die den edleren Gefühlen des Herzens weiten Spielraum gewährte, war ganz allgemein beliebt und verfehlte, wenn Mr. Gushington nach seiner Rückkehr aus Californien sie erzählte, niemals, die Zuhörer zu befriedigen. Die andere war weniger einfach und verdient, da ich sie hier adoptiren werde, mehr Ausarbeitung. Es war, nachdem Mr. Thompson seine Nachforschung nach seinem Sohne unter den Lebenden aufgegeben und sich an die Prüfung der Friedhöfe und eine sorgfältige Inspection der kalten »Hier liegt« der Todten gemacht hatte. Zu dieser Zeit war er ein häufiger Besucher des »Einsamen Berges«, einer trübseligen Hügelkuppe, die schon in ihrer ursprünglichen Abgelegenheit öde genug und noch öder durch die weißen Marmorplatten aussah, mit welchen San Francisco seine abgeschiednen Bürger festankerte und sie einem Flugsande, der sie nicht bedecken wollte, und einem heftigen und anhaltenden Winde gegenüber, der sie ganz wegzuwehen strebte, drunten in der Erde erhielt. Diesem Winde stellte der alte Mann einen ganz ebenso anhaltenden Willen entgegen – ein graubärtiges hartes Gesicht und einen hohen mit Flor umwundenen Hut, der tief in die Augen gezogen war – und verbrachte so Tage damit, sich selbst hörbar die Grabinschriften vorzulesen. Die Häufigkeit von Citaten aus der Schrift gefiel ihm, und er liebte es, dieselben aus einer Taschenbibel zu bekräftigen.

»Das ist aus den Psalmen,« sagte er eines Tages zu einem neben ihm arbeitenden Todtengräber.

Der Mann antwortete nicht.

Nicht im mindesten irre gemacht, glitt Mr. Thompson sofort in das offne Grab hinab und stellte die praktischere Frage: »Sind Sie jemals bei Ihrer Profession auf einen Charles Thompson gestoßen?«

»Zur Hölle mit Ihrem Thompson!« sagte der Todtengräber mit großer Deutlichkeit.

»Da wird er, denk' ich, sein, wenn er keine Religion gehabt hat,« erwiderte der alte Mann, als er aus dem Grabe herauskletterte.

Es war vielleicht bei dieser Gelegenheit, daß Mr. Thompson sich länger wie gewöhnlich aufhielt. Als er sein Gesicht der Stadt zukehrte, blinzelten vor ihm schon Lichter, und ein heftiger Wind, durch Nebel sichtbar gemacht, trieb ihn vorwärts oder griff ihn, im Hinterhalt liegend, grimmig von den Ecken verlassner Vorstadt-Straßen an. An einer dieser Ecken geschah es, daß etwas Anderes, ganz ebenso undeutlich und bösartig, mit einem Fluche auf ihn lossprang, ihm ein Pistol vorhielt und ihm Geld abforderte. Aber ihm begegnete ein Wille von Eisen und ein Griff von Stahl. Der Angreifer und der Angegriffne kollerten miteinander auf den Boden. Aber im nächsten Augenblick war der alte Mann wieder auf den Füßen, eine Hand hielt das jenem entrissne Pistol umklammert, die andere hatte auf Armslänge die Kehle einer finsterblickenden, jugendlichen, grimmigen Gestalt umspannt.

»Junger Mann,« sagte Mr. Thompson, indem er seine schmalen Lippen zusammenpreßte, »wie heißen Sie wohl?«

»Thomson.«

Die Hand des alten Mannes glitt von der Kehle nach dem Arme seines Gefangnen, ohne an seiner Festigkeit nachzulassen.

»Charles Thompson, komm mit mir,« sagte er bald nachher und brachte seinen Gefangnen nach dem Gasthofe. Was dort stattfand, ist nicht bekannt geworden, aber am nächsten Morgen wußte man, daß Mr. Thompson seinen Sohn gefunden hatte.

Es gebührt sich, daß ich der obigen unwahrscheinlichen Geschichte hinzufüge, daß in der äußern Erscheinung und den Manieren des jungen Mannes nichts lag, was sie bestätigt hätte. Ernst, schweigsam und hübsch, seinem neugefundenen Erzeuger ergeben, nahm er die Erträge und Verantwortlichkeiten seines neuen Verhältnisses mit einer gewissen ernsten Behaglichkeit hin, die sich derjenigen mehr näherte, welche die Gesellschaft in San Francisco nicht besaß und – verwarf. Einige liebten es, diese Eigenschaft als Neigung zum »Psalmensingen« zu verachten. Andere sahen darin die vom Vater auf ihn vererbten Eigenthümlichkeiten und waren bereit, dem Sohne dasselbe harte Alter zu weissagen. Aber alle gaben zu, daß sie nicht unverträglich mit den Gewohnheiten des Geldverdienens war, wegen dessen Vater und Sohn geachtet waren.

Und doch schien der alte Mann nicht glücklich zu sein. Vielleicht war es deshalb, weil die vollständige Erfüllung seiner Wünsche ihn ohne praktische Aufgabe ließ, vielleicht – und dies ist das Wahrscheinlichere – weil er wenig Liebe zu dem wiedergewonnenen Sohne empfand. Der Gehorsam, den er forderte, wurde ihm reichlich gewährt, die Besserung, die sein Herzenswunsch gewesen, war vollständig, und doch schien die Sache irgendwie nicht zu gefallen. Indem er seinen Sohn wieder gewann, hatte er alle Obliegenheiten erfüllt, welche seine religiöse Pflicht von ihm verlangte, und doch schien der Act noch der Heiligung zu ermangeln. In dieser Verlegenheit las er das Gleichniß vom verlornen Sohn wieder durch – welches er seit lange schon als seinen Leitstern sich erwählt hatte – und fand, daß er das schließliche Versöhnungsfest vergessen hatte. Dies schien die richtige Art darzubieten, wie die Ceremonie des Sacraments zwischen ihm und seinem Sohne zu vollziehen sei, und so nahm er sich ein Jahr nach dem Erscheinen Charles' vor, ihm ein Fest zu geben.

»Lade jedermann ein, Char-les,« sagte er trocken, »jeden, der da weiß, daß ich Dich von den Träbern der Gottlosigkeit und aus der Gesellschaft der Huren herausgeholt habe, und heiße sie essen, trinken und guter Dinge sein.«

Vielleicht hatte der alte Mann noch einen andern Grund, der noch nicht klar auseinandergesetzt ist. Das schöne Haus, das er auf die Sandhügel gebaut, schien einsam und öde. Oft betraf er sich über dem Versuche, sich aus den ernsten Zügen Charles' den kleinen Knaben zu reconstruiren, dessen er sich nur dunkel erinnerte, und an den er in der letzten Zeit viel gedacht hatte. Er glaubte, daß dies ein Zeichen des nahenden Greisenalters und Kindischwerdens sei; aber als er eines Tages in seinem steifen Salon das Kind eines der Dienstleute traf, welches sich dahin verlaufen hatte, würde er es auf den Arm genommen haben, wenn das Kind nicht vor seinem graubärtigen Gesichte geflohen wäre. So schien es ihm außerordentlich an der Zeit, eine Anzahl von Leuten in sein Haus zu laden und aus der Blüthe der Jungfrauenschaft San Franciscos sich eine Schwiegertochter zu wählen. Und dann würde es ein Kind geben, einen Knaben, den er von Anfang an erziehen und lieben konnte, wie er Charles nicht liebte.

Wir waren Alle bei dem Feste. Auch die Smiths, die Jones, die Browns und die Robinsons kamen, und zwar in jener schönen, von keinerlei Respect vor dem Festgeber zurückgedrängten Erregung ihrer Lebensgeister, welche die meisten von uns so bezaubernd zu finden geneigt sind. Das Treiben würde, wenn die gesellschaftliche Stellung der Betheiligten nicht dagegen gesprochen hätte, etwas überlaut gewesen sein. In der That, Mr. Bracy Tibbets, der von Natur schon mit einer feinen Würdigung humoristischer Situationen begabt war, aber außerdem durch die hellen Augen der Mädchen der Jones angeregt wurde, führte sich so merkwürdig auf, daß er die ernste Aufmerksamkeit Mr. Charles Thompsons auf sich lenkte, welcher sich ihm näherte und ruhig sagte:

»Sie sehen übel aus, Mr. Tibbets, erlauben Sie, daß ich Sie nach Ihrer Kutsche führe. Einen Mux dagegen, Du Hund, und ich schmeiße Dich aus jenem Fenster. Bitte, diesen Weg, das Zimmer ist eng und es wird Einem übel darin.«

Es ist kaum nöthig, zu sagen, daß nur ein Theil dieser Rede der Gesellschaft hörbar war, und daß das Uebrige von Mr. Tibbets nicht weiter verbreitet wurde, der später das plötzliche Unwohlsein bedauerte, das ihn abgehalten, einem gewissen ergötzlichen Vorfalle beizuwohnen, welchen die flotteste der Fräulein Jones als den »kostbarsten Theil des Schwindels« bezeichnete, und den ich mich zu berichten beeile.

Es war beim Abendessen. Es war klar, daß Mr. Thompson in seiner zerstreuten Betrachtung eines bevorstehenden Ereignisses viel Ungebühr in der Aufführung der jüngeren Leute übersehen hatte. Als das Tischtuch weggenommen wurde, erhob er sich auf seine Füße und klopfte grimmig auf den Tisch. Ein Kichern, welches unter den Mädchen der Jones ausbrach, wurde auf der einen Seite der Tafel epidemisch. Charles Thompson blickte in zärtlicher Verlegenheit vom Ende des Tisches herauf. »Er will den Segen singen« – »Er will beten« – »Ruhe, es giebt eine Predigt,« lief es rund im Zimmer um.

»Es ist heute ein Jahr, Brüder und Schwestern in Christo,« sagte Mr. Thompson mit grimmer Ueberlegtheit, »ein Jahr ist's heute, daß mein Sohn heimkehrte, nachdem er Träbern gegessen und sein Gut mit Huren vergeudet hatte.« (Das Kichern hörte plötzlich auf.) »Sehet ihn jetzt an. Char-les Thompson, erhebe Dich.« (Charles Thompson erhob sich.) »Heute vor einem Jahre – und jetzt sehet ihn an.«

Es war wirklich ein hübscher verlorner Sohn, wie er so dastand in seinem allerliebsten Ballanzuge – ein reuiger verlorner Sohn, wie er so seine traurigen, gehorsamen Augen auf den harten und liebeleeren Blick seines Vaters gerichtet hielt. Die jüngste Miß Smith rückte, aus den reinen Tiefen ihres thörichten Herzchens angeregt, unwillkürlich nach ihm hin.

»Es ist fünfzehn Jahre her, seit er mein Haus als ein Taugenichts und verlorner Sohn verließ,« sagte Mr. Thompson. Ich war damals selbst ein Mann der Sünde, o christliche Freunde, ein Mann des Zornes und der Bitterkeit.« (»Amen!« sagte die älteste Miß Smith.) »Aber Preis sei Gott, ich floh vor dem zukünftigen Zorne. Es ist fünf Jahre her, daß ich den Frieden gewann, der über alles Verständniß geht. Habet Ihr diesen Frieden, Freunde?« (Ein leises Geflüster im Chor der Mädchen antwortete »Nein, nein«, und Midshipman Core von der Vereinigten Staaten-Schaluppe Wethersfield sagte: »Umfrage halten darnach.«) »Klopfet, und es wird Euch aufgethan werden.

»Und als ich den Irrthum meines Treibens und die Kostbarkeit der Gnade fand,« fuhr Mr. Thompson fort, »so kam ich hierher, um meinen Sohn derselbigen theilhaftig zu machen. Ueber See und Land suchte ich ihn in der Ferne und ließ nicht ab. Ich wartete nicht darauf, bis er zu mir käme – was ich hätte thun können und Rechtfertigung hätte finden können im Buche der Bücher, sondern ich suchte ihn auf bei seinen Träbern und –« (der Rest des Satzes ging in dem Davonrauschen der Damen verloren.) »Werke, christliche Freunde, ist mein Wahlspruch. An ihren Werken sollt Ihr sie erkennen, und da ist das meinige.«

Das Hauptwerk, worauf Mr. Thompson anspielte, war ganz bleich geworden und blickte starr auf eine offne Thür, die nach der Verandah führte, welche vorher von gaffenden Dienstleuten gefüllt gewesen und jetzt der Schauplatz eines nicht recht verständlichen Tumults war. Als der Lärm fortdauerte, bahnte sich ein schäbig gekleideter und offenbar benebelter Mann seinen Weg durch die ihm entgegentretenden Wächter und stolperte in das Zimmer. Der Uebergang aus dem Nebel und der Finsterniß draußen in das helle Licht und die Hitze drinnen blendete und verblüffte ihn augenscheinlich. Er nahm seinen zerknüllten Hut ab und hielt ihn ein oder zwei Mal sich vor die Augen, indem er sich ohne Erfolg an der Lehne eines Stuhles einigen Halt zu verschaffen suchte. Plötzlich fiel sein umherirrender Blick auf das bleiche Gesicht Charles Thompsons, und mit einem Aufleuchten, wie wenn ein Kind jemand wiedererkennt, und einem schwachen Lachen durch die Fistel schoß er vorwärts, hielt sich am Tische fest, warf die Gläser um und fiel buchstäblich dem verlornen Sohne um den Hals.

»Ka-arlchen! Ei Du verf-fluchtiger alter Schweinigel, wie geht's?

»Bst! Setze Dich nieder! Bst!« sagte Charles Thompson, indem er hastig sich aus der Umarmung seines unerwarteten Gastes loszumachen versuchte.

»Sieh mal an!« fuhr der Fremde fort, indem er die Ermahnung nicht beachtete, sondern plötzlich den unglücklichen Charles in liebender und unverhüllter Bewunderung seines festlichen Aussehens auf Armslänge vor sich hinhielt. »Seht ihn mal an. Der ist doch nicht garstig anzusehen. Ka-arlchen, ich bin stolz auf Dich.«

»Verlassen Sie das Haus!« sagte Mr. Thompson aufstehend mit einem gefährlichen Blicke in seinen kalten grauen Augen. »Charles, wie kannst Du Dich unterstehen?«

»Setzen Sie sich nieder, Alterchen. Ka-arlchen, wer ist denn der alte Schafskopf? He?«

»Bst, alter Junge, hier, nimm das!« Mit bebender Hand füllte Charles Thompson ein Glas mit Branntwein. »Trink's und geh – bis morgen – irgendwenn, aber – verlaß uns – geh nun.« Aber gerade jetzt, ehe der erbärmliche Mensch trinken konnte, war der alte Mann, blaß vor Leidenschaft, ihm auf den Leib gerückt. Halb trug er ihn in seinen gewaltigen Armen, halb schleppte er ihn durch die sie umkreisende Masse der erschreckten Gäste, bis er die von den aufwartenden Dienstleuten aufgestoßne Thür erreichte. Da fuhr Charles Thompson von einem dumpfen Hinbrüten, wie es schien, auf und schrie:

»Halt!«

Der alte Mann hielt inne. Durch die offne Thür fuhr fröstelnd der Wind und Nebel herein. »Was soll das heißen?« fragte er, indem er Charles einen finstern Blick zuwarf.

»Nichts – aber halt ein – um Gottes willen! Warte bis morgen, aber nicht heut Abend. Ich bitte Dich inständig, thue dies nicht.«

Es war etwas im Tone der Stimme des jungen Mannes – vielleicht etwas in der Berührung des sich wehrenden Elenden, den er in seinen gewaltigen Armen hielt, daß eine dunkle, unbestimmte Furcht vom Herzen des alten Mannes Besitz nahm. »Wer ist dieser Mensch?« flüsterte er heiser.

Charles antwortete nicht.

»Tretet zurück da, Ihr, Alle miteinander,« donnerte Mr. Thompson den ihn umdrängenden Gästen zu. »Charles, komm hierher! Ich befehle Dir – ich – ich – ich bitte Dich – sage mir, wer ist dieser Mensch?«

Nur zwei Personen hörten die Antwort, die leise von den Lippen Charles Thompsons kam:

» Ihr Sohn.«

*

Als der Tag über den öden Sandhügeln anbrach, hatten die Gäste Mr. Thompsons Banketthalle verlassen. Die Lichter brannten noch trübe und kalt in den verlassenen Zimmern, die von Allen, ausgenommen drei Gestalten, verlassen waren, die in dem frostigen Salon zusammenhockten, wie wenn sie sich an einander wärmen wollten. Die eine lag im Schlaf der Trunkenheit auf einem Sofa, zu seinen Füßen saß der, welcher bis dahin für Charles Thompson gegolten hatte, und neben ihnen, eingefallen und zur Hälfte ihrer Größe eingeschrumpft, beugte sich die Gestalt Mr. Thompsons zusammen. Sein graues Auge starrte vor sich hin, seine Ellbogen stützten sich auf seine Knie, und seine Hände schlossen sich über seinen Ohren, wie wenn sie die traurige bittende Stimme von ihm fern halten wollten, welche das Zimmer zu füllen schien.

»Gott weiß es, ich ging nicht auf absichtliche Täuschung aus. Der Name, den ich jene Nacht angab, war der erste, der mir in den Sinn kam – der Name jemandes, den ich für todt hielt – der liederliche Genosse meiner Schande. Und als Sie weiter fragten, so benutzte ich das Wissen, das ich von ihm erlangt hatte, um Ihr Herz zu rühren, daß Sie mich frei ließen – nur zu dem Zwecke, ich schwöre es Ihnen! Aber als Sie mir sagten, wer Sie wären, und ich sah, wie sich ein anderes Leben vor mir öffnen wollte – dann – dann. O Herr, wenn ich hungrig, heimathlos und rücksichtslos war, als ich Sie Ihres Goldes berauben wollte, so war ich kranken Herzens, hülflos und verzweiflungsvoll, als ich Ihnen Ihre Liebe rauben wollte.«

Der alte Mann regte sich nicht. Der neu aufgefundne verlorne Sohn schnarchte friedlich auf seinem prächtigen Sofa.

»Ich hatte keinen Vater, auf den ich Anspruch erheben konnte. Ich kannte nie eine andere Heimath als diese. Ich gerieth in Versuchung. Ich bin glücklich gewesen – sehr glücklich.«

Er erhob sich und trat vor den alten Mann hin.

»Fürchten Sie nicht, daß ich zwischen Ihren Sohn und sein Erbtheil mich eindrängen werde. Heute noch verlass' ich diesen Ort auf Nimmerwiederkehr. Die Welt ist weit, Herr, und Dank Ihrer Güte sehe ich jetzt den Weg, auf dem man sich ehrlich seinen Unterhalt erwerben kann. Leben Sie wohl. Sie wollen meine Hand nicht nehmen? Gut, gut, so leben Sie wohl.«

Er wendete sich zum Gehen. Aber als er die Thür erreicht hatte, kam er plötzlich zurück, hob mit beiden Händen das graue Haupt empor und küßte es ein oder zwei Mal.

»Charles.«

Keine Antwort.

»Charles!«

Der alte Mann erhob sich mit erschrockner Miene und taumelte matt nach der Thür. Sie stand offen. Es drang ihm der Lärm einer erwachten großen Stadt entgegen, in dem sich die Fußtritte des verlornen Sohnes auf immer verloren hatten.


 << zurück weiter >>