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Mliß.

Erstes Kapitel.

Gerade da, wo die Sierra sich zu sanfteren Wellenzügen abzudachen beginnt und die Flüsse weniger reißend und gelb werden, steht an der Seite eines großen rothen Berges Smiths Pocket. Von der rothen Straße bei Sonnenuntergang gesehen, erscheinen seine weißen Häuser in dem rothen Lichte und dem rothen Staube wie Quarzauswüchse an der Bergflanke. Die rothe Postkutsche mit den rothhemdigen Passagieren auf ihrem Dache verliert man auf der gewundnen Bergabfahrt, wo sie plötzlich an entlegnen Stellen sichtbar wird und etwa hundert Yard von der Stadt ganz und gar verschwindet, wohl ein Dutzend Mal aus den Augen. Es schreibt sich wahrscheinlich von dieser plötzlichen Abbiegung der Straße her, wenn die Ankunft eines Fremden in Smiths Pocket gewöhnlich von einem eigenthümlichen Umstande begleitet ist. Wenn man vor dem Postamt von dem Fuhrwerk steigt, so ist der zu sicher sich fühlende Reisende in Gefahr, unter dem Eindrucke, daß die Stadt in ganz andrer Richtung liegt, geradewegs aus ihr hinauszugehen. Es wird berichtet, daß einer der Arbeiter in den Stollen zwei Meilen von der Stadt einen von diesen auf sich selbst vertrauenden Passagieren mit einer Reisetasche, Regenschirm, Harpers Magazin und andern Zeichen von »Gesittung und Bildung« antraf, wie er sich die Straße wieder hinaufplagte, die er soeben heruntergefahren, und vergeblich die Niederlassung von Smiths Pocket zu finden sich bemühte.

Ein aufmerksamer Reisender würde vielleicht in dem räthselhaften Aussehen dieser Gegend einigen Ersatz für seine Enttäuschung gefunden haben. Am Berghange waren gewaltige Spalten und Verschiebungen des rothen Bodens, die mehr dem Chaos einer urzeitlichen Auftreibung durch die Elemente als einem Werk von Menschenhand glichen, während auf halbem Wege abwärts ein langes Mühlengerinne gleich dem riesigen Fossil eines vergessnen vorsündfluthlichen Thieres seinen schmalen Leib und seine dazu in keinem Verhältniß stehenden Beine über die Schlucht ausspreizte. Auf jedem Schritte kreuzten kleinere Gräben die Straße, die in ihren fahlen Tiefen garstige Bäche bargen, welche sich zu heimlicher Vereinigung mit dem großen gelben Bergstrome drunten hinabschlichen, und hier und da waren die Trümmer einer Hütte, von der nur der Schornstein unberührt stehen geblieben war und der Herdstein offen unter dem Himmel lag.

Die Niederlassung von Smiths Pocket verdankte ihren Ursprung dem Umstande, daß ein wirklicher Smith an dieser Stelle ein »Pocket« gefunden hatte Pocket, eigentlich Tasche, dann in der Sprache der californischen Goldgräber ein Loch mit Goldkörnern, die dicht bei einander gebettet sind.. Fünftausend Dollars wurden von Smith demselben in einer halben Stunde entnommen. Dreitausend Dollars wurden von Smith und Andern auf die Errichtung eines Mühlengerinnes und auf Anlegung von Stollen verwendet. Und dann fand sich's, daß Smith Pocket eben nur ein Pocket, eine Tasche, und wie andere Taschen dem Leerwerden unterworfen war. Obgleich Smith die Eingeweide des großen rothen Berges durchbohrte, waren jene fünftausend Dollars der erste und letzte Ertrag seiner Arbeit. Der Berg wurde zurückhaltend mit seinen goldnen Geheimnissen, und das Mühlengerinne spülte unablässig den Rest von Smiths Vermögen hinweg. Dann legte sich Smith auf das Graben nach Quarz, dann auf eine Quarzmühle, dann auf Wasserbauten und die Anlegung von Gräben, und zuletzt sank er rasch von Stufe zu Stufe bis zum Halten eines Salons herab. Bald flüsterte man sich zu, daß Smith viel tränke, dann wurde es bekannt, daß Smith ein Gewohnheitssäufer war, und dann begannen die Leute, wie dies ihre Art ist, zu denken, daß er niemals etwas Anderes gewesen sei.

Aber die Ansiedlung von Smiths Pocket hing, wie die meisten von denen, die durch Goldentdeckungen entstanden waren, glücklicherweise nicht von dem Schicksal ihres Gründers ab, und andere Leute legten Stollen an und fanden Pockets. So wurde Smiths Pocket eine Niederlassung mit zwei Modewaarenhandlungen, zwei Gasthöfen, einem Eilpostbureau und zwei ersten Familien. Gelegentlich wurde seine lange zerstreute Gasse durch Anlegung der neuesten Moden von San Francisco, die als Eilgut ausschließlich für die ersten Familien importirt worden waren, in ehrfurchtsvolles Staunen versetzt, was die gemißhandelte Natur mit den zerfetzten Umrissen ihrer gefurchten Oberfläche nur kläglicher aussehen ließ und jener größern Hälfte der Bevölkerung, welcher der Sonntag mit einem Hemdenwechsel nur die Nöthigung zur Reinlichkeit ohne den Luxus des Schmuckes brachte, eine persönliche Beleidigung zufügte. Dann gab es da eine Methodistenkirche und hart dabei ein Leihhaus und ein Stückchen weiterhin am Berghange einen Friedhof und dann ein kleines Schulhaus.

Der »Meister«, wie ihn seine kleine Herde nannte, saß eines Abends allein im Schulhause, mit einigen offnen Schreibebüchern vor sich, und machte sorgfältig jene kühnen und vollen Buchstaben, von denen man annimmt, daß in ihnen das höchste, was Chirographie und Moral leisten, gemeinsam Ausdruck findet. Er war eben zu dem Satze gelangt: »Reichthum ist trügerisch« und arbeitete das Hauptwort mit einer Unaufrichtigkeit im Federzuge aus, die ganz im Geiste seines Textes war, als er ein leises Klopfen hörte. Die Spechte waren den Tag über auf dem Dache geschäftig gewesen, und das Geräusch störte seine Arbeit nicht. Aber das Aufgehen der Thür und die Fortsetzung des Klopfens drinnen bewogen ihn aufzublicken. Er fuhr ein wenig zusammen über die Gestalt eines jungen, schmutzigen und schäbig gekleideten Mädchens. Und doch waren ihm ihre großen schwarzen Augen, ihr grobes, ungekämmtes und glanzloses Haar, das ihr über ihr sonnverbranntes Gesicht fiel, ihre rothen Arme und Füße, die mit Streifen des rothen Bodens beschmiert waren, allesammt wohlbekannt. Es war Melissa Smith – Smiths mutterloses Kind.

»Was kann die hier wollen?« dachte der Meister. Jedermann weit und breit am Rothen Berge kannte »Mliß«, wie man sie nannte. Jedermann kannte sie als ein unverbesserliches Mädchen. Ihre hitzige, unlenksame Gemüthsart, ihre tollen Streiche und ihr unbotmäßiger Charakter waren in ihrer Art gerade so sprichwörtlich als die Geschichte von den Schwächen ihres Vaters und wurden von den Leuten der Stadt ebenso philosophisch hingenommen. Sie balgte und prügelte sich mit den Schulbuben herum und entwickelte dabei eine Fülle schärferer Schimpfreden und einen ganz ebenso gewaltigen Arm. Sie verfolgte die Pfade mit dem geübten Blick eines Waldgängers, und der Meister hatte sie früher meilenweit hinweg ohne Schuhe und Strümpfe und im bloßen Kopfe auf der Bergstraße angetroffen. Die Lager der Goldgräber versahen sie bei diesen freiwilligen Pilgerfahrten in reichlich dargebotnen Almosen mit Nahrungsmitteln. Nicht, als ob sich auf Mliß nicht vorher schon eine ausgedehntere Gönnerschaft erstreckt hätte. Der hochwürdige Josua Mac Snagley, »stationirter« Prediger, hatte sie im Hotel als Dienstmädchen placirt, um ihr eine vorgängige Verfeinerung angedeihen zu lassen, und sie dann seinen Zöglingen in der Sonntagsschule vorgestellt. Aber sie warf dem Wirthe gelegentlich Teller an den Kopf und gab den Gästen flink ihre wohlfeilen Witzeleien zurück und machte in der Sonntagsschule ein Aufsehen, welches so sehr gegen die orthodoxe Stumpfheit und Gelassenheit dieser Anstalt verstieß, daß der hochwürdige Herr mit gebührlicher Rücksichtnahme auf die gestärkten Röcke und die unbefleckte Moral der beiden Milch- und Blut-Gesichter der Kinder aus den ersten Familien sie mit Schimpf und Schande von dannen jagte. Dies waren die Antecedentien, und dies war der Charakter von Mliß, als sie vor dem Meister stand. Es zeigte sich an der zerlumpten Kleidung, dem wirren Haar und den blutenden Füßen und bat um sein Mitleid. Es blitzte aus ihren schwarzen furchtlosen Augen und gebot ihm Achtung.

»Ich komme heut Abend hierher,« sagte sie rasch und kühn, indem sie ihren harten Blick auf ihn gerichtet hielt, »weil ich weiß, Sie sind allein. Ich würde nicht herkommen, wenn diese Mädels hier sind. Ich hasse sie, und sie hassen mich. Das ist's, warum. Sie halten Schule, nicht wahr? Ich will was lernen.«

Hätte sie mit der Schäbigkeit ihres Anzugs und der Unsauberkeit ihres verfilzten Haares und schmutzigen Gesichts die Demuth von Thränen verbunden, so würde der Meister das übliche Maß von Mitleid ihr zugewandt haben und weiter nichts. Aber bei den natürlichen, wenn auch unlogischen Instincten von Leuten seiner Art erweckte ihre Dreistigkeit etwas von jener Achtung in ihm, die alle originellen Naturen einander unbewußt in gewissem Grade zollen. Und er blickte sie um so unverwandter an, als sie, immer noch rasch, die Hand auf der Thürklinke und ihre Augen auf die seinen geheftet, fortfuhr:

»Mein Name ist Mliß – Mliß Smith! Darauf können Sie Gift nehmen. Mein Vater ist der alte Smith – der alte Bummler Smith – das ist er, Bummler. Mliß Smith – und ich will in die Schule.«

»Nun?« sagte der Meister.

Gewohnt, sich angefahren und zurückgewiesen zu sehen, oft grausam und ohne Noth, zu keinem andern Zwecke, als um die heftigen Triebe ihrer Natur aufzustacheln, war sie durch das Phlegma des Meisters offenbar überrascht. Sie hielt inne, sie begann eine Locke ihres Haares zwischen den Fingern zu drehen, und die trotzige Linie ihrer Oberlippe, die über ihre boshaften Zähnchen gezeichnet war, wurde weicher und zitterte ein wenig. Dann senkten sich ihre Augen, und etwas wie ein Erröthen kämpfte sich nach ihren Wangen herauf und suchte sich durch die Klexe noch rotheren Bodens und den Sonnenbrand von Jahren geltend zu machen. Plötzlich warf sie sich vorwärts, rief Gott an, sie zu erschlagen, und fiel ganz schwach und hülflos mit ihrem Gesicht auf das Pult des Meisters, indem sie weinte und schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte. Der Meister hob sie sanft auf und wartete auf das Vorübergehen des Paroxysmus. Als sie mit noch immer abgewandtem Antlitz zwischen ihrem Schluchzen das mea culpa kindlicher Buße wiederholte, daß sie »folgen wollte«, daß sie »nicht mehr« u.s.w., fiel ihm ein, zu fragen, weshalb sie die Sonntagsschule verlassen hätte.

Warum sie die Sonntagsschule verlassen hätte? Warum? O ja. Warum hätte er (Mac Snagley) ihr sagen müssen, daß sie gottlos sei? Warum hätte er ihr sagen müssen, daß Gott sie haßte? Wenn Gott sie haßte, wozu brauchte sie dann in die Sonntagsschule zu gehen? Sie wollte von niemandem »angeschaut« sein, der sie haßte.

Ob sie das Mac Snagley gesagt hätte?

Ja wohl, das hätte sie.

Der Meister lachte. Es war ein herzliches Lachen und widerhallte so eigen in dem kleinen Schulhause, und schien so wenig zu dem Aechzen der Fichten draußen zu passen und zu stimmen, daß er sich sogleich verbesserte, indem er einen Seufzer that. Der Seufzer war jedoch in seiner Art ganz ebenso aufrichtig, und nach einem Augenblick ernsten Schweigens fragte er nach ihrem Vater.

Ihr Vater? Welcher Vater? Wessen Vater? Was hätte er je für sie gethan? Warum haßten sie die Mädchen? Heraus damit! Was wäre es, wenn die Leute, indem sie vorüberginge, sagten: »Dem alten Bummler Smith seine Mliß?« Ja, o ja. Sie wollte, sie wäre todt – sie wäre todt – alle Welt wäre todt, und ihr Schluchzen brach von Neuem aus.

Der Meister sagte ihr dann, sich über sie beugend, so gut er's vermochte, was die Leser oder ich ihr vielleicht gesagt hätten, wenn wir solche unnatürliche Theorien von Kinderlippen gehört hätten. Nur blieb er dabei vielleicht besser als die Leser und ich der unnatürlichen Thatsachen ihres zerlumpten Kleides, ihrer blutenden Füße und des allgegenwärtigen Schattens ihres betrunknen Vaters eingedenk. Dann hob er sie auf ihre Füße, wickelte sie in seinen Shawl, hieß sie früh am Morgen kommen und ging mit ihr die Straße hinab. Dort bot er ihr gute Nacht.

Der Mond schien hell auf den schmalen Pfad vor ihnen. Er blieb stehen und beobachtete die gebeugte kleine Gestalt, wie sie die Straße hinab schwankte, und wartete, bis sie an dem kleinen Friedhofe vorüber war und die Krümmung des Hügels erreicht hatte, wo sie sich umwendete und einen Augenblick stillstand, ein bloßes Atom von Leiden, das sich gegen die fernen geduldigen Sterne abhob.

Dann ging er zurück zu seiner Arbeit. Aber die Linien des Schreibebuchs dehnten sich jetzt vor ihm in lange Parallelen einer nie endenden Straße aus, über welche Kindergestalten hinschritten und in die Nacht hineinschluchzten und weinten. Dann schloß er, da ihm das kleine Schulhaus einsamer als zuvor erschien, die Thür ab und ging nach Hause.

Am nächsten Morgen kam Mliß in die Schule. Ihr Gesicht war gewaschen, und ihr grobes schwarzes Haar legte Zeugniß ab von neuerdings bestandnen Kämpfen mit dem Kamme, in denen augenscheinlich beide gelitten hatten. Der alte trotzige Blick blitzte gelegentlich aus ihren Augen, aber ihr Benehmen war zahmer und unterwürfiger. Dann folgte eine Reihe von kleinen Prüfungen und Opfern, an welchen Lehrer und Schülerin sich in gleichem Maße betheiligten, und welche ihr Vertrauen auf einander und ihr Gefallen an einander steigerten. Obwohl gehorsam unter dem Auge des Meisters, pflegte Mliß in den Stunden zwischen dem Unterricht zu Zeiten, wenn man ihr in die Quer kam oder sie sich durch eingebildete Geringschätzung verletzt fühlte, mit unbändiger Wuth zu toben, und gar mancher junge Wilde, dem sein Herz keine Ruhe ließ, suchte, nachdem er in ihr mit seinen eignen Peinigungswerkzeugen seinen Meister gefunden, den Lehrer mit zerrissner Jacke, zerkratztem Gesicht und Klagen über diese furchtbare Mliß auf.

Unter den Leuten der Stadt herrschte in Betreff der Angelegenheit eine ernstliche Meinungsverschiedenheit. Einige drohten ihre Kinder aus so übler Kameradschaft wegzunehmen, und Andere verteidigten ebenso warm den Weg, den der Meister in seiner Arbeit zur Wiedergewinnung eines verlornen Kindes eingeschlagen hatte. Inzwischen zog der Lehrer mit einer standhaften Ausdauer, die ihm nachher ganz erstaunlich vorkam, als er später auf sie zurückblickte, Mliß allmählig aus dem Schatten ihres vergangnen Lebens, wie wenn es blos der natürliche Fortschritt herab auf dem schmalen Pfade gewesen wäre, auf den er in der Mondscheinnacht ihres ersten Zusammentreffens ihre Füße gestellt hatte. Indem er sich der Erfahrung des evangeliumskundigen Mac Snagley erinnerte, vermied er sorgfältig jenen »ewigen Felsen«, an welchem jener ungeschickte Lootse ihren jungen Glauben zum Scheitern gebracht hatte. Aber wenn sie im Verlauf ihres Studirens zufällig jene wenigen Worte im Wege fand, welche Leute wie sie über die Stufe der Aelteren, Weiseren und Bedächtigeren erhoben haben – wenn sie etwas von einem Glauben lernte, der durch Dulden symbolisirt wird, und das alte Licht in ihren Augen sich milderte, so nahm es nicht die Gestalt einer Lection an. Einige von den einfacheren Leuten hatten eine kleine Summe zusammengesteuert, durch welche die zerlumpte Mliß in den Stand gesetzt wurde, das Gewand der Achtbarkeit und Gesittung anzulegen, und oft schickten ein rauher Händedruck und Worte einfach ehrlicher Anerkennung von einer stämmigen Gestalt in rothem Hemde ein Erglühen auf die Wange des jungen Schullehrers und ließen ihn nachdenken, ob sie wohl irgendwie verdient wären.

Drei Monate waren seit der Zeit ihrer ersten Begegnung verflossen, und der Lehrer saß eines Abends spät über den Moralsprüchen des Schreibebuchs, als es an die Thür klopfte, und wiederum Mliß vor ihm stand. Sie war sauber gekleidet und rein im Gesicht, und nichts vielleicht war an ihr, was ihn an ihre frühere Erscheinung erinnert hätte, als ihr langes schwarzes Haar und ihre hellen schwarzen Augen.

»Sind Sie beschäftigt?« fragte sie. »Können Sie mit mir kommen?« – und als er seine Bereitwilligkeit andeutete, sagte sie in ihrer alten eigensinnigen Weise: »Na dann kommen Sie rasch!«

Sie schritten zusammen aus der Thür und hinaus auf die dunkle Straße. Als sie in die Stadt eintraten, fragte sie der Lehrer, wohin sie gehen wollte. Sie erwiderte: »Meinen Vater will ich besuchen.«

Es war das erste Mal, daß er sie ihn bei diesem töchterlichen Titel nennen hörte, oder überhaupt anders als »der alte Smith« oder »mein Alter«. Es war das erste Mal seit drei Monaten, daß sie überhaupt von ihm gesprochen, und der Lehrer wußte, daß sie sich seit ihrer großen Veränderung entschlossen von ihm fern gehalten hatte. Durch ihr Benehmen überzeugt, daß es fruchtlos war, nach ihrer Absicht zu fragen, folgte er ihr gelassen. In abgelegnen Orten, gemeinen Grogschenken, Restaurationen und Salons, in Spielhöllen und auf Tanzböden trat der Lehrer unter Vortritt von Mliß ein und ging wieder. In dem Qualm und Rauch und dem gotteslästerlichen Geschrei gemeiner Kneipen stand das Kind, des Lehrers Hand festhaltend, und starrte begierig in die Menge, offenbar ohne Bewußtsein von Allem, da die Natur ihres Nachsuchens sie ganz in Anspruch nahm. Einige der Zechbrüder, die Mliß erkannten, riefen dem Kinde zu, vor ihnen zu singen und zu tanzen, und würden ihr Schnaps aufgenöthigt haben, wenn der Lehrer nicht dazwischen getreten wäre. Andere, die ihn stumm anerkannten, machten ihnen Platz zum Durchgehen.

So verging eine Stunde. Dann flüsterte ihm das Kind ins Ohr, daß sich auf der andern Seite des Baches, über den sich das lange Mühlengerinne streckte, eine Hütte befände, wo er vielleicht noch wäre. Dorthin gingen sie – ein mühsamer Weg von einer halben Stunde – aber umsonst. Sie kehrten durch den Graben am Widerlager des Mühlengerinnes zurück und blickten gerade auf die Lichter der Stadt am gegenüberliegenden Ufer, als plötzlich ein scharfer kurzer Knall durch die klare Nachtluft hallte. Die Echos fingen ihn auf und trugen ihn wiederholt um den Rothen Berg herum und ließen die Hunde an den Bächen entlang bellen. Lichter schienen ein paar Augenblicke zu tanzen und rasch hin und her zu huschen an den äußersten Häusern der Stadt, der Bach kräuselte sich ganz hörbar neben ihnen, einige Steine lösten sich vom Berghange und patschten in den Bach, ein schwerer Wind schien die Zweige der düstern Fichten wie eine Brandung zu bewegen, und dann schien das Schweigen dichter, schwerer und tödtlicher niederzufallen.

Der Lehrer wendete sich zu Mliß mit einer unbewußten Geberde, wie wenn er sie beschützen wollte. Aber das Kind war fort. Von einer seltsamen Furcht bedrückt, lief er rasch den Pfad nach dem Bette des Flusses hinab und erreichte, von Felsbrocken zu Felsbrocken springend, den Fuß des Rothen Berges und die ersten Häuser der Stadt. Als er in der Mitte des Uebergangs über das Wasser war, blickte er empor und hielt vor Staunen und Schrecken den Athem an. Denn hoch über sich auf dem schmalen Mühlengerinne sah er die flatternde kleine Gestalt seiner vorherigen Begleiterin rasch in der Dunkelheit hinübergehen.

Er kletterte am Ufer hinauf und befand sich, geleitet von einigen Lichtern, die sich um einen Mittelpunkt am Berge bewegten, in Kurzem athemlos unter einem Gedränge erschrockner und bekümmerter Männer. Aus ihrer Mitte erschien das Kind, ergriff des Lehrers Hand und führte ihn schweigend vor Etwas, was wie ein zackiges Loch im Berge aussah. Ihr Gesicht war ganz bleich, aber ihr aufgeregtes Wesen verschwunden und ihr Blick derjenige eines Menschen, dem ein lange schon erwartetes Ereigniß endlich eingetroffen ist – ein Ausdruck, der dem Lehrer in seiner Bestürzung fast wie eine Herzenserleichterung vorkam. Die Wände der Höhle waren zum Theil gestützt durch vermodernde Balken. Das Kind zeigte auf ein Ding, welches wie ein Haufen zerlumpte und weggeworfne Kleidungsstücke aussah, die in dem Loche von seinem letzten Insassen zurückgelassen worden. Der Lehrer trat mit seiner flammenden Talgkerze näher und beugte sich über den Haufen. Es war Smith, bereits kalt. Mit einem Pistol in seiner Hand und einer Kugel im Herzen lag er neben seiner leeren Tasche.

*

Zweites Kapitel.

Die Meinung, welche Mac Snagley in Bezug auf eine »Herzensänderung« aussprach, die Mliß nach seiner Vermuthung erfahren hatte, wurde in den Gräben und Stollen mit kräftigeren Worten ausgedrückt. Man war dort der Ansicht, daß Mliß »auf eine Ader gestoßen sei, die sie zu was Ordentlichem führen werde«. So ging denn, als in der kleinen Einfriedigung ein neues Grab hinzugekommen und auf Kosten des Schullehrers ein Bretchen mit Inschrift darauf angebracht worden war, das »Banner vom Rothen Berge« ganz flott ins Zeug und that dem Gedächtniß »eines unsrer frühesten Bahnbrecher« die gebührende Ehre an, wobei es anmuthig auf »jenes Gift für edle Geister« anspielte und sonst unsern theuren Bruder sanft mit der Vergangenheit abkanzelte. »Er hinterläßt ein einziges Kind, um seinen Verlust zu betrauern,« sagte das Banner, »welches jetzt eine ausgezeichnete Schülerin ist, Dank den Bemühungen des hochwürdigen Herrn Mac Snagley.«

Der hochwürdige Mac Snagley machte in der That viel Wesens mit Mliß' Bekehrung und spielte, indem er den Selbstmord ihres Vaters indirect dem unglücklichen Kinde zuschrieb, mit rührenden Worten in der Sonntagsschule auf die wohlthätigen Wirkungen des »schweigsamen Grabes« an und jagte durch diese heitere Betrachtung den meisten Kindern ein sprachloses Entsetzen ein, so daß er bewirkte, daß die roth und weißen Sprößlinge der ersten Familien in schauerliches Geheul ausbrachen und sich nicht trösten lassen wollten.

Der lange trockne Sommer kam. Als jeder grimmig heiße Tag sich auf den Berggipfeln in kleinen Wölkchen perlgrauen Rauchs verbrannte, und die aufspringende Brise seine rothen Aschenstäubchen über das Gelände verstreute, wurde die grüne Welle, die sich in den ersten Tagen des Frühlings über Smiths Grab erhoben hatte, dürr und trocken und hart. In jenen Tagen fand der Lehrer zu seinem Erstaunen bisweilen, wenn er an Sonntagsnachmittagen über den kleinen Friedhof schlenderte, einige wilde Blumen, die in den feuchten Fichtenwäldern gepflückt waren, dort hingestreut und noch häufiger Kränze auf das kleine Kreuz aus Fichtenholz gehangen. Die meisten dieser Kränze waren aus einem süßduftenden Grase gemacht, das die Kinder in ihren Pulten aufzubewahren liebten, und durchflochten mit den Blüthen der Roßkastanie, des Flieders und der Waldanemone, und hier und da bemerkte der Lehrer die dunkelblaue Glocke des Sturmhuts oder giftigen Aconits. Es lag in der wunderlichen Verbindung dieser schädlichen Pflanze mit diesen Erinnerungszeichen ein Etwas, was dem Lehrer ein schmerzliches Gefühl erweckte, welches tiefer ging als seine ästhetische Empfindung bei der Sache.

Eines Tages, während eines langen Spazierganges stieß er, indem er einen waldigen Bergkamm überstieg, im Herzen des Waldes auf Mliß, die auf einer hingestreckten Fichte auf einem phantastischen Throne, gebildet von den niederhängenden Nadelbüscheln lebloser Zweige, saß. Sie hatte den Schooß voll Gräser und Fichtenzapfen und trällerte sich eine der Negermelodien ihrer jüngeren Jahre vor. Als sie ihn in der Ferne erkannte, machte sie auf ihrem erhabnen Throne Raum für ihn, und indem sie eine ernste Miene der Gastlichkeit und Gönnerschaft annahm, die lächerlich gewesen sein würde, wenn sie nicht so fürchterlich ernst ausgesehen hätte, fütterte sie ihn mit Fichtennüssen und Waldäpfeln. Der Lehrer ergriff diese Gelegenheit, um ihr die schädlichen und todbringenden Eigenschaften des Sturmhuts auseinanderzusetzen, dessen dunkle Blumen er in ihrem Schooße sah, und nahm ihr das Versprechen ab, sich nie mit ihm zu befassen, so lange sie seine Schülerin bliebe. Nachdem dies geschehen – der Lehrer hatte vorher sich ihrer Aufrichtigkeit versichert – war er beruhigt, und das seltsame Gefühl, welches ihn beim Anblick derselben beschlichen, verlor sich.

Von den Heimstätten, welche Mliß angeboten wurden, als ihre Besserung bekannt geworden, zog der Lehrer die der Mrs. Morpher vor, eines braven Weibes und gutherzigen Exemplars südwestlicher Efflorescenz, die in ihrer Mädchenzeit unter dem Namen »die Prairierose« bekannt gewesen war. Zu Denen gehörend, die entschlossen gegen ihre eigne Natur ankämpfen, hatte Mrs. Morpher in einer langen Reihe von Opfern und Anstrengungen endlich ihre natürliche Unbekümmertheit um Grundsätze der »Ordnung«, die sie in Uebereinstimmung mit Herrn Pope als »des Himmels oberstes Gesetz« betrachtete, unter das Joch gezwungen. Aber sie konnte, wie regelmäßig auch ihre eignen Bewegungen waren, die Bahnen ihrer Satelliten nicht ganz beherrschen, und selbst ihr lieber »Jeemes« stieß bisweilen mit ihr zusammen. Wieder machte sich ihre alte Natur in ihren Kindern geltend. Lykurgus griff »zwischen den Mahlzeiten« in den Eßschrank, und Aristides kam aus der Schule ohne Schuhe heim, indem er diese wichtigen Bekleidungsstücke auf der Schwelle stehen ließ, um das Vergnügen eines barfüßigen Ganges die Gräben hinab zu genießen. Octavia und Kassandra waren »schlumpig« mit ihren Kleidern. So wuchsen, wie sehr auch die »Prairierose« ihre eigne gereifte Fülle schniegelte und ausputzte und in das rechte Maß zwang, die kleinen Nebenschößlinge mit einer einzigen Ausnahme der Ordnung trotzend wild und unregelmäßig herauf. Diese einzige Ausnahme war Klytämnestra Morpher, fünfzehn Jahre alt. Sie war die Verwirklichung der unbefleckten Empfängniß ihrer Mutter – sauber, ordnungsliebend und langweilig.

Es war eine liebenswürdige Schwäche von Mrs. Morpher, sich einzubilden, daß »Klytchen« ein Augentrost und Musterbild für Mliß sei. Indem Mrs. Morpher dieser Täuschung folgte, ritt sie Klytchen stets Mliß vor, wenn diese »garstig« war, und stellte sie dem Kinde in den Augenblicken, wo es bereute, zu frommer Verehrung hin. Es überraschte daher den Lehrer nicht, als er hörte, daß Klytchen offenbar als eine Gunst für ihn selbst und als ein gutes Exempel für Mliß und Andere in die Schule kam. Denn »Klytchen« war schon völlig eine junge Dame. Indem sie die Erbin der körperlichen Eigenschaften ihrer Mutter war, und indem sie den klimatischen Gesetzen der Gegend um den Rothen Berg folgte, war sie eine früh aufblühende Schönheit. Die Jugend von Smiths Pocket, für welche diese Art Blume etwas Seltnes war, seufzte nach ihr im April und schmachtete nach ihr im Mai. Verliebte Jünglinge spukten um das Schulhaus herum, wenn die Stunde kam, wo die Schüler entlassen wurden. Einige waren eifersüchtig auf den Lehrer.

Vielleicht war es dieser letztere Umstand, der dem Lehrer die Augen für eine Andere öffnete. Er konnte nicht umhin, zu bemerken, daß Klytchen romanhafte Neigungen hatte, daß sie in der Schule viel Aufmerksamkeit verlangte, daß ihre Federn unaufhörlich schlecht schrieben und geschnitten werden mußten, daß sie die Bitte stets mit einer gewissen Erwartung in ihrem Auge begleitete, welche mit der Art von Dienstleistung, die sie mit Worten beanspruchte, nicht recht im Verhältniß stand, daß sie bisweilen den Wellenlinien eines runden, drallen, weißen Armes auf dem seinen zu ruhen erlaubte, wenn er ihr vorschrieb, daß sie stets roth wurde und ihre blonden Locken zurückwarf, wenn sie dies that. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon bemerkt habe, daß der Lehrer ein junger Mann war – es will indeß nicht viel bedeuten, er war streng erzogen in der Schule, in der Klytchen ihre erste Lection nahm, und widerstand im Ganzen den biegsamen Wellenlinien und dem coquettirenden Blicke wie der wackere junge Spartaner, der er war. Vielleicht mag die unzureichende Beschaffenheit der Nahrung, die er genoß, zu diesem Ascetenthum mitgewirkt haben. Er vermied im Allgemeinen Klytchen; aber eines Abends, wo sie nach irgend einer Sache, die sie vergessen, ins Schulhaus zurückkehrte und sie nicht finden konnte, bis der Lehrer sie nach Hause begleitete, versuchte er, wie ich höre, sich besonders angenehm zu machen, ich glaube, zum Theil deshalb, weil sein Betragen den bereits übervollen Herzen von Klytämnestra's Bewunderern noch mehr Galle und Bitterkeit einflößte.

Den Morgen nach diesem rührenden Zwischenfall kam Mliß nicht zur Schule. Der Mittag kam, aber keine Mliß. Als er Klytchen über die Sache befragte, ergab sich's, daß sie das Haus zusammen verlassen hatten, die eigensinnige Mliß aber einen andern Weg eingeschlagen hatte. Auch der Nachmittag brachte sie nicht zur Stelle. Am Abend sprach er bei Mrs. Morpher vor, deren mütterliches Herz ernstlich beunruhigt war. Mr. Morpher hatte den ganzen Tag damit verbracht, sie zu suchen, ohne eine Spur zu finden, die zu ihrer Entdeckung führen konnte. Aristides wurde als wahrscheinlicher Mitschuldiger herbeigerufen, aber dieses unparteiische Kind überzeugte den Haushalt erfolgreich von seiner Unschuld. Mrs. Morpher bewahrte die lebhafte Ueberzeugung, daß das Kind noch ertrunken in einem Graben aufgefunden werden würde, oder, was schier ebenso schrecklich war, beschmutzt und besudelt, daß Seife und Wasser sie nicht davon erlösen könnten. Kranken Herzens kehrte der Lehrer nach dem Schulhause zurück. Als er seine Lampe anzündete und sich an sein Pult setzte, fand er vor sich einen Zettel liegen, der von Mliß' Hand und an ihn selbst adressirt war. Es schien auf ein aus einem alten Notizbuche gerissenes Blatt geschrieben zu sein und war, um ruchloses Spötteln zu verhüten, mit sechs zerbrochnen Oblaten versiegelt. Indem der Meister es schier zärtlich öffnete, las er, wie folgt:

»Geehrter Herr, wenn Sie dieses lesen, bin ich dafongelaufen. Um niemals wiederzukommen. Niemals, niemals, niemals. Meine Glasberlen können Sie der Mary Jennings geben und meinen Stolz Amerikas (eine grell bunt ausgemalte Lithographie von einer Tabaksbüchse) der Sally Flanders. Aber daß sie mir der Klytchen Morpher nicht das Geringste geben. Daß sie das ja nicht wagen. Wissen Sie, was meine Meunung von der ist, es ist die, sie ist ganz und gahr ökelhafft. Damit Punctum und nun nichts weiter von

Ihrer ergebnen
Melissa Smith.«

Der Lehrer saß sinnend über dieser seltsamen Epistel, bis der Mond sein glänzendes Antlitz über den fernen Bergen erhob und den Pfad erleuchtete, welcher, vom Kommen und Gehen kleiner Füße hart getreten, nach dem Schulhause führte. Dann zerriß er den Zettel in Stücke und streute sie auf die Straße hin.

Am nächsten Morgen mit Sonnenaufgang suchte er sich seinen Weg durch das palmenartige Farnkraut und das dichte Unterholz des Fichtenwaldes, wobei er den Hasen von seinem Lager aufscheuchte und einen kläglichen Protest von Seiten einiger liederlicher Krähen veranlaßte, die hier eine vergnügte Nacht durchschwärmt hatten, und kam auf diese Weise nach dem bewaldeten Bergkamm, wo er einst Mliß gefunden hatte. Dort fand er die umgestürzte Fichte mit ihren nadelbefranzten Armen, aber der Thron war vacant. Als er sich näherte, fuhr etwas, was ein aufgeschrecktes Thier hätte sein können, durch die prasselnden Zweige. Es lief an den emporstehenden Armen des gefallnen Waldmonarchen hinauf und verbarg sich in einem freundlich bereiten Wipfeltheil. Der Lehrer fand, als er den alten Sitz erreichte, das Nest noch warm, und als er durch die verflochtenen Zweige hinaufblickte, begegnete er den schwarzen Augen der herumschweifenden Mliß. Sie sahen sich einander an, ohne zu sprechen. Sie war die Erste, die das Schweigen brach.

»Was wollen Sie?« fragte sie kurz angebunden.

Der Lehrer hatte sich einen Feldzugsplan entworfen. »Ich möchte ein paar Waldäpfel,« sagte er demüthig.

»Kriegen keine nicht! Gehen Sie weg. Warum lassen Sie sich nicht von Klytämnerestera welche geben?« (Es schien Mliß wohlzuthun, ihrer Verachtung durch Hinzufügung weiterer Sylben zu dem ohnehin langgedehnten Titel jenes klassischen jungen Frauenzimmers Ausdruck zu geben.) »O Sie garstiges Ding!«

»Aber mich hungert, Lißchen. Ich habe seit gestern Mittag nichts gegessen. Ich bin ganz ausgehungert!« und der junge Mann lehnte sich in einem Zustande merkwürdiger Erschöpfung an den Baum.

Melissa's Herz war gerührt. In den bittern Tagen ihres Zigeunerlebens hatte sie die Empfindung wirklich kennen gelernt, die er jetzt so schlau heuchelte. Ueberwältigt von seinem kläglichen Tone, aber noch nicht ganz alles Mißtrauens ledig, sagte sie:

»Graben Sie da unter dem Baume nahe bei den Wurzeln nach, und Sie werden eine Menge finden, aber nehmen Sie sich in Acht, daß Sie's nicht erzählen;« denn Mliß hatte ihre Vorrathskammern gerade wie die Ratten und Eichhörnchen.

Aber der Lehrer war natürlich nicht im Stande, sie zu finden, indem vermuthlich die Wirkungen des Hungers seine Sinne verblendeten. Mliß wurde unruhig. Endlich guckte sie wie eine Elfe durch die Blätter und fragte:

»Wenn ich nun herunterkomme und Ihnen welche gebe, wollen Sie mir versprechen, mich nicht anzurühren?«

Der Lehrer versprach es.

»Hoffe, daß Sie auf der Stelle sterben, wenn Sie's thun!«

Der Lehrer fügte sich in augenblickliche Auflösung als Strafe für etwaiges Nichtworthalten. Mliß glitt am Baum herab. Ein paar Augenblicke geschah nichts, als daß die Fichtennüsse geknabbert wurden. »Ist Ihnen jetzt besser zu Muthe?« fragte sie mit einiger Besorgniß. Der Lehrer gestand, daß er sich wieder zu Kräften gekommen fühle, und schickte sich dann, nachdem er ihr mit ernster Miene gedankt, an, seine Schritte zurückzulenken. Wie er erwartet, war er noch nicht weit gegangen, als sie ihn rief. Er drehte sich um. Sie stand da ganz blaß mit Thränen in ihren weit geöffneten runden Augen. Der Lehrer fühlte, daß der rechte Augenblick gekommen war. Er ging auf sie zu, ergriff sie bei beiden Händen und sagte, indem er ihr in die thränenerfüllten Augen blickte, ernst:

»Lißchen, erinnerst Du Dich des ersten Abends, wo Du mich besuchtest?«

Lißchen erinnerte sich an ihn.

»Du fragtest mich, ob Du in die Schule kommen dürftest, denn Du wolltest etwas lernen und besser werden, und ich sagte –«

»Komm,« antwortete das Kind rasch.

»Was würdest Du nun sagen, wenn der Lehrer zu Dir käme und sagte, daß er sich einsam fühle ohne seine kleine Schülerin und daß er wünschte, sie käme und lehrte ihn, besser zu werden?«

Das Kind hing schweigend einige Augenblicke seinen Kopf. Der Lehrer wartete geduldig. Durch die Stille in Versuchung geführt, lief ein Hase bis dicht vor die Beiden, erhob seine hellen Aeuglein und seine sammtweichen Vorderpfoten, blieb sitzen und schaute sie an. Ein Eichhörnchen lief an der gefurchten Rinde des umgefallnen Baumes halb herunter und hielt dann inne.

»Wir warten, Lißchen,« sagte der Lehrer in einem Geflüster, und das Kind lächelte. Angeweht von einem vorübergehenden Lufthauch schwankten die Baumwipfel, und durch ihre verwobnen Büsche fuhr unverhofft ein langer Lichtbüschel voll auf das in Zweifeln befangne Gesicht und die unentschlossne kleine Gestalt. Plötzlich ergriff sie in ihrer hastigen Weise die Hand des Lehrers. Was sie sagte, war kaum vernehmbar, aber der Lehrer strich ihr das schwarze Haar von der Stirn zurück und küßte sie, und so schritten sie Hand in Hand aus den feuchten Stammgewölben und Walddüften hinaus in die offne, sonnenbeschienene Straße.

*

Drittes Kapitel.

Etwas weniger feindselig in ihrem Verkehr mit andern Schülern, nahm Mliß noch immer eine Offensivstellung in Betreff Klytämnestra's ein. Vielleicht war das eifersüchtige Element in ihrer leidenschaftlichen kleinen Brust noch nicht ganz eingeschläfert. Vielleicht war es nur, weil die runden Wellenlinien und die drallen Umrisse eine ausgedehntere Fläche und damit mehr Gelegenheit zum Kneipen darboten. Aber während solche Aufwallungen vom Lehrer controlirt werden konnten, nahm ihre Feindschaft gelegentlich eine neue Form an, wo ihr nicht Einhalt gethan werden konnte.

Der Lehrer konnte, als er den Charakter des Kindes zuerst abschätzte, sich nicht vorstellen, daß sie jemals eine Puppe besessen habe. Aber der Lehrer war, gleich vielen andern Charakterstudirern von Profession, sicherer im Schließen a posteriori als a priori. Mliß besaß eine Puppe, aber es war im strengen Sinne Mliß' Puppe – ein kleineres Abbild ihrer selbst. Die unglückliche Existenz derselben war ein Geheimniß, welches zufällig von Mrs. Morpher entdeckt wurde. Sie war in alten Zeiten die Begleiterin von Mliß auf ihren Irrfahrten gewesen und trug deutliche Zeichen von Leiden an sich. Ihre ursprüngliche Gesichtsfarbe war seit Langem schon vom Wetter abgewaschen und mit dem Schlamm von Gräben übersalbt. Sie sah so aus, wie Mliß in vergangnen Tagen ausgesehen hatte. Ihr einziges Kleid von verblichnem Stoff war schmutzig und zerlumpt, wie das ihrige gewesen war. Nie hatte man gehört, daß Mliß auf sie, wie Kinder pflegen, einen zärtlichen Ausdruck angewendet hätte. Nie ließ sie sie in Gegenwart von andern Kindern sehen. Mit rauher Hand wurde sie in einem hohlen Baume in der Nähe des Schulhauses zu Bett gebracht und ihr nur während der Streifzüge von Mliß Bewegung gestattet. Indem Letztere eine strenge Pflicht gegen ihre Puppe erfüllte, wie sie sie gegen sich selbst erfüllt haben würde, kannte sie nichts, was zum Luxus gehörte.

Nun kaufte Mrs. Morpher, indem sie einem lobenswerthen Antriebe folgte, eine andre Puppe und gab sie Mliß. Das Kind nahm sie ernst und neugierig in Empfang. Der Lehrer glaubte, als er sie sich eines Tages besah, in ihren runden rothen Wangen und ihren sanften blauen Augen eine leise Aehnlichkeit mit Klytämnestra zu erkennen. Es dauerte nicht lange, so zeigte es sich, daß Mliß diese Aehnlichkeit auch bemerkt hatte. Infolge dessen hämmerte sie, wenn sie allein war, mit ihrem wächsernen Kopfe auf die Felsen und schleppte sie bisweilen mit einem Bindfaden um ihren Hals nach der Schule und wieder zurück. Zu andern Zeiten setzte sie sie aufrecht auf ihr Pult und machte aus ihrem geduldigen und harmlosen Körper ein Nadelkissen. Ob dies aus Rache dafür geschah, daß sie die Puppe als eine zweite, figürliche Aufdringung der Trefflichkeiten Klytchens betrachtete, die ihr angethan worden, oder ob sie eine unmittelbar empfundne Werthschätzung der Bräuche gewisser andrer Heiden dazu trieb, und sie, indem sie jene Fetisch-Ceremonie vornahm, sich einbildete, das Original ihres Wachsmodells würde dahinsiechen und schließlich sterben, ist eine metaphysische Frage, die ich jetzt nicht in Betracht ziehen werde.

Trotz dieser moralischen Abirrungen konnte der Lehrer nicht umhin, in ihren verschiedenen Schularbeiten das Arbeiten einer raschen, rastlosen und kräftigen Auffassung zu bemerken. Sie kannte weder das Zögern noch die Zweifel des Kindesalters. Ihre Antworten in der Klasse waren stets von einer gewissen Keckheit gefärbt. Natürlich war sie nicht unfehlbar. Aber ihr Muth und ihre Waghalsigkeit im Hineingehen über ihre eigne Höhe und die der um sie herumpudelnden kleinen Schwimmer wog in deren Gemüthern alle Irrthümer des Urtheils auf. Kinder sind, glaube ich, in dieser Hinsicht nicht besser als Erwachsene, und jedes Mal wenn die kleine rothe Hand über ihrem Pulte emporfuhr, herrschte ein erwartungsvolles Schweigen, und selbst der Lehrer empfand mitunter schweren Zweifel an seiner eignen Erfahrung und Beurtheilung.

Trotzdem begannen gewisse Eigenschaften, die Anfangs seine Phantasie ergötzten und unterhielten, ihn mit ernsten Bedenken zu quälen. Er konnte nicht umhin, zu sehen, daß Mliß rachsüchtig, unehrerbietig und eigenwillig war, und daß es in ihrer halbwilden Gemüthsart nur eine bessere Eigenschaft gab, die Fähigkeit physischen Muthes, der sich selbst zu opfern im Stande ist, und eine zweite, die jedoch nicht immer das Attribut des edlen Wilden ist – Wahrhaftigkeit. Mliß war ebenso furchtlos als aufrichtig; vielleicht waren in einem solchen Charakter diese Adjective synonym.

Der Lehrer hatte über diesen Gegenstand ziemlich ernsthaft nachgedacht und war zu jenem allen aufrichtigen Denkern ganz gemeinsamen Schlusse gekommen, daß er gewöhnlich der Sklave seiner eignen Vorurtheile sei, als er sich vornahm, sich bei dem hochwürdigen Mac Snagley Raths zu erholen. Dieser Entschluß demüthigte seinen Stolz ein wenig, da er und Mac Snagley keine Freunde waren. Aber er dachte an Mliß und den Abend ihrer ersten Begegnung, und vielleicht in einem verzeihlichen Aberglauben, daß nicht blos der Zufall ihre eigenwilligen Füße nach dem Schulhause geführt, vielleicht auch in dem wohlthuenden Bewußtsein der seltnen Großherzigkeit des Acts, schluckte er seine Abneigung hinter und ging zu Mac Snagley.

Der hochwürdige Herr war erstaunt, ihn zu sehen. Ferner bemerkte er, daß der Lehrer »elend« aussähe, und hoffte, daß er die »Neuralgie« und den »Rheumatismus« überstanden hätte. Er selber sei von einem schleichenden Fieber geplagt gewesen seit letzter Conferenz. Aber er hätte gelernt, »zu ringen und zu beten«.

Indem er einen Augenblick innehielt, um den Lehrer in den Stand zu setzen, sich seine sichere Methode, wie das schleichende Fieber zu curiren war, in Buch und Band seines Gehirns zu notiren, verschritt Mr. Mac Snagley zur Erkundigung nach Schwester Morpher. »Sie ist ein Schmuck der Christenheit und hat eine zu gleicher Würdigkeit aufwachsende junge Familie,« fügte Mr. Mac Snagley hinzu, »und da ist dieses manierliche junge Mädel – so wohl erzogen – Miß Klytchen.« In der That, Klytchens Vollkommenheiten schienen ihm in dem Maße ans Herz zu gehen, daß er sich mehrere Minuten mit ihnen zu thun machte. Der Lehrer war in doppelter Verlegenheit. Erstens lag in all diesem Lobe Klytchens ein mit Gewalt herbeigezogner Contrast mit der armen Mliß. Zweitens war in dem Tone, in welchem er von Mrs. Morphers Erstgeborner sprach, etwas unangenehm Vertrauliches. So fand es der Lehrer nach einigen schwachen Versuchen, etwas Natürliches zu sagen, passend, sich der Verpflichtung zu einem andern Besuche zu erinnern, und ging, ohne sich die gewünschte Auskunft erbeten zu haben, schob aber in seinen späteren Betrachtungen, einigermaßen mit Unrecht, Mr. Mac Snagley, Hochwürden, die volle Schuld zu, sie ihm verweigert zu haben.

Vielleicht brachte diese Zurückweisung Lehrer und Schülerin wieder in das alte innige Verhältniß zu einander. Das Kind bemerkte die Veränderung in dem Verhalten des Lehrers, welches in der letzten Zeit etwas Gezwungnes gehabt hatte, und auf einem ihrer langen Spaziergänge nach Tische blieb sie plötzlich stehen und blickte ihm, indem sie auf einen Baumstumpf gestiegen, mit großen forschenden Augen ins Gesicht.

»Sie sind doch nicht verrückt?« sagte sie mit einem fragenden Schütteln ihrer schwarzen Zöpfe.

»Nein.«

»Auch nicht verdrießlich?«

»Nein.«

»Auch nicht hungrig?« (Hunger war für Mliß eine Krankheit, die jedermann in jedem Augenblicke befallen konnte.)

»Nein.«

»Denken auch nicht an sie?«

»An wen, Lißchen?«

»An das weiße Mädchen.« (Dies war das neueste Epitheton, welches Mliß, eine sehr dunkle Brünette, erfunden hatte, um Klytämnestra zu bezeichnen.)

»Nein.«

»Auf Ihr Wort?« (Ein Substitut für: »Hoffe, daß Sie auf der Stelle sterben«, was der Lehrer vorschlug.)

»Ja.«

»Und auf Ihre heilige Ehre?«

»Ja.«

Darauf gab ihm Mliß ein feuriges Küßchen, hüpfte herunter und flatterte davon. Zwei oder drei Tage lang nach diesem Vorfall ließ sie sich herab, mehr wie andere Kinder zu erscheinen und, wie sie es ausdrückte, »gut zu sein«.

Zwei Jahre waren verflossen seit der Ankunft des Lehrers in Smiths Pocket, und da sein Gehalt nicht groß und die Aussicht des Oertchens, endlich die Hauptstadt des Staates zu werden, keine ganz und gar ausgemachte Sache war, so dachte er an eine Veränderung. Er hatte die Schulvorsteher privatim von seinen Absichten in Kenntniß gesetzt; da indeß gebildete junge Leute von tadellosem Rufe damals selten waren, so willigte er ein, den Winter hindurch bis zu den ersten Tagen des Frühlings weiter Schule zu halten. Niemand Anderes wußte von seinem Vorhaben, ausgenommen sein einziger Freund, der Doctor Duchesne, ein junger kreolischer Arzt, der dem Volke von Wingdam unter dem Namen »Duchesny« bekannt war. Niemals erwähnte er es gegen Mrs. Morpher, Klytchen oder irgend einen von seinen Schülern. Seine Schweigsamkeit war theils die Folge angeborner Abneigung vor Lärm, theils der Wunsch, sich mit den Fragen und Vermuthungen vulgärer Neugier verschont zu sehen, und theils ein Zug seiner Denkart, nach dem er niemals wirklich glaubte, er werde etwas thun, bevor es gethan war.

Er mochte nicht gern an Mliß denken. Es war vielleicht eine selbstsüchtige Regung, die ihn versuchen ließ, sich einzubilden, seine Neigung zu dem Kinde sei thöricht, romanhaft und unpraktisch. Er versuchte es sogar mit der Vorstellung, daß sie unter Aufsicht eines älteren und strengeren Lehrers besser gedeihen werde. Dann war sie fast elf Jahr alt, und in wenigen Jahren würde sie nach den Regeln des Rothen Berges zum Weibe gereift sein. Er hatte seine Pflicht gethan. Nach Smiths Tode richtete er Briefe an dessen Verwandte und empfing eine einzige Antwort von einer Schwester der Mutter Melissa's. Dieselbe dankte dem Lehrer und meldete ihm ihre Absicht, in einigen Monaten mit ihrem Manne die Atlantischen Staaten zu verlassen und nach Californien zu ziehen. Dies war ein gebrechlicher Unterbau für das Luftschloß, welches der Lehrer sich gemalt, damit Mliß drin wohne; aber es ließ sich leicht vorstellen, daß ein liebreiches, mitfühlendes Weib, welches überdies die Ansprüche einer Verwandten erheben konnte, ihre launische Natur vielleicht besser lenken werde. Als der Lehrer indeß den Brief gelesen hatte, hörte Mliß unachtsam auf ihn, nahm ihn unterwürfig hin und schnitt später mit ihrer Scheere Figuren daraus, die Klytämnestra vorstellen sollten, klebte, um Mißverständnisse zu verhüten, Papierstreifen mit den Worten: »Das weiße Mädchen« daran und spießte sie an die Außenwände des Schulhauses.

Als der Sommer ziemlich vorüber und die letzten Herbstfrüchte im Thale eingeheimst waren, gedachte der Lehrer auch ein paar gereifte Schößlinge der jungen Idee einzuheimsen und sein Erntefest oder Examen abzuhalten. So wurden die Gelehrten und Würdenträger von Smiths Pocket zusammenberufen, um Zeugen zu sein von jener altehrwürdigen Sitte, schüchterne Kinder in eine Zwangslage zu bringen und sie wie Leute auf der Zeugenbank ins Bockshorn zu jagen. Wie üblich bei solchen Gelegenheiten waren die, welche die meiste Dreistigkeit und Selbstbeherrschung besaßen, die glücklichen Empfänger der Ehren. Der Leser wird sich denken, daß im gegenwärtigen Falle Mliß und Klytchen vor Allen hervorragten und die öffentliche Aufmerksamkeit theilten, Mliß mit ihrer Klarheit in der Auffassung materieller Dinge und ihrem Verlaß auf sich selbst, Klytchen mit ihrer gelassenen Selbstachtung und ihrer an Heilige gemahnenden Correctheit in der Haltung. Die andern Kleinen waren schüchtern und faselig. Das schnell fertige und brillante Wesen von Mliß gewann ihr natürlich die Mehrzahl und rief den größten Applaus hervor. Ihr Vorleben hatte unbewußt die stärksten Sympathien einer Menschenklasse erweckt, deren athletische Gestalten sich an den Wänden hin aufgepflanzt hatten, oder deren hübsche bärtige Gesichter zu den Fenstern hereinschauten. Aber die Beliebtheit von Mliß wurde durch einen unerwarteten Umstand umgestoßen.

Mr. Mac Snagley hatte sich selbst eingeladen und sich die angenehme Unterhaltung verschafft, die ängstlicheren Schüler durch die unbestimmtesten und doppeldeutigsten Fragen zu erschrecken, die in einem eindrucksvollen Leichenbittertone vorgetragen wurden. Mliß war in die Astronomie hinaufgeschwebt und verfolgte den Lauf unseres gefleckten Erdballs durch den Raum, hielt sich im Takt mit der Musik der Sphären und beschrieb die feststehenden Bahnen der Planeten, als Mac Snagley sich mit eindrucksvoller Geberde erhob.

»Melissa! Du sprachest da von den Umdrehungen dieser Erde hinieden und den Bewegungen der Sonne, und ich glaube, Du sagtest, daß dies von Anbeginn der Schöpfung also gewesen sei, he?«

Mliß bejahte die Frage mit einem spöttischen Kopfnicken.

»Nun denn, war dieses die Wahrheit?« sagte Mac Snagley, indem er seine Arme übereinanderschlug.

»Ja,« sagte Mliß, indem sie ihre kleinen rothen Lippen fest aufeinanderpreßte. Die hübschen Umrisse an den Fenstern guckten tiefer in die Schulstube und ein frommes Raphaelsgesicht mit einem blonden Barte und sanften blauen Augen, welches dem größten Taugenichts in den Goldgräben angehörte, wendete sich dem Kinde zu und flüsterte: »Bleib dabei, Mliß.«

Der hochwürdige Herr that einen tiefen Seufzer und warf einen mitleidigen Blick auf den Lehrer, dann auf die Kinder, und dann ruhte sein Auge auf Klytchen.

Dieses junge Frauenzimmer erhob sanft ihren runden, weißen Arm. Seine verführerischen Curven wurden noch gehoben durch ein prachtvolles und massives Probe-Armband, die Gabe eines ihrer demüthigsten Verehrer, getragen zu Ehren der Gelegenheit. Einen Augenblick herrschte Stillschweigen. Klytchens runde Wangen waren sehr roth und weich. Klytchens große Augen waren sehr hell und blau. Klytchens tief ausgeschnittnes weißes Organdinkleid ruhte sanft auf Klytchens weißen, drallen Schultern. Klytchen blickte nach dem Lehrer hin, und der Lehrer nickte. Dann sprach Klytchen sanft:

»Josua gebot der Sonne, still zu stehen, und sie gehorchte ihm!«

Man hörte ein dumpfes Summen von Beifall im Schulzimmer, man sah einen triumphirenden Ausdruck auf Mac Snagleys Gesicht, einen ernsten Schatten auf dem des Lehrers und den Reflex einer komischen Miene der Enttäuschung an den Fenstern. Mliß strich rasch ihre Astronomie glatt und schloß dann das Buch mit einem lauten Klaps. Ein Stöhnen entfuhr Mac Snagley, ein Ausdruck des Staunens ging durch die Schulstube, ein gellendes Jubelgeschrei kam von den Fenstern her, als Mliß mit ihrer rothen Faust auf das Pult schlug und die emphatische Erklärung abgab:

»Das ist 'ne verdammte Lüge. Ich glaube es nicht!«

*

Viertes Kapitel.

Die lange nasse Jahreszeit hatte sich ihrem Ende genähert. Zeichen des Frühlings waren sichtbar in den schwellenden Knospen und rauschenden Bergwassern. Die Fichtenwälder hauchten frischere Würzdüfte aus. Die Azaleen setzten bereits Knospen an, der Ceanothus machte sich seine Frühlingslivree zurecht. Auf dem grünen Hochland, welches den Rothen Berg an seiner südlichen Abdachung hinaufklimmte, schoß der lange Stiel des Sturmhuts von seinem breitblätterigen Stamm empor und schüttelte wieder seine dunkelblauen Glocken. Wieder war die Welle über Smiths Grabe weich und grün, ihr Kamm schwoll gerade vom Schaum von Maasliebchen und Butterblumen. Der kleine Friedhof hatte im vergangnen Jahre einige neue Bewohner aufgenommen, und die Grabhügel waren paarweise neben dem kleinen Staket angebracht, bis sie Smiths Grab erreichten, wo nur eins war. Der Volksaberglaube hatte es gemieden, und der Fleck neben Smith war leer.

In der Stadt waren verschiedene Zettel angeschlagen worden, welche die Anzeige enthielten, daß in einer gewissen Periode eine berühmte Schauspielergesellschaft einige Tage lang eine Reihe Possen »zum Bauchzerplatzen und Hellaufschreien vor Lachen« aufführen werde, daß in anmuthigem Wechsel hiermit es etwas Melodrama und ein großartiges Divertissement geben würde, welches Gesang, Tanz u. dgl. in sich begreifen solle. Diese Ankündigungen riefen unter dem kleinen Volke große Aufregung hervor und waren das Thema vieler lebhafter Besprechung und großer Speculation unter den Schülern des Lehrers. Der Letztere hatte Mliß, der solche Dinge etwas Seltnes und Geheiligtes waren, versprochen, daß sie hingehen solle, und als der bedeutungsvolle Abend kam, waren der Lehrer und Mliß zugegen.

Die Aufführung trug das gewöhnliche Gepräge schwerfälliger Mittelmäßigkeit. Das Melodrama war nicht schlecht genug, um Lachen zu erwecken, und nicht gut genug, um die Seelen zu erheben. Aber der Lehrer war, als er sich dem Kinde zuwendete, erstaunt und fühlte etwas wie Selbstanklage, als er bemerkte, welche eigenthümliche Wirkung es auf ihre erregbare Natur ausübte. Das rothe Blut schoß ihr in die Wangen bei jedem Schlage ihres hastig klopfenden Herzchens. Ihre dünnen leidenschaftlichen Lippen waren ein wenig geöffnet, um ihrem rasch gehenden Athem Luft zu geben. Ihre weit aufgerissenen Lider drängten ihre schwarzen Augenbrauen zu Wölbungen empor. Sie lachte nicht über die traurigen Späße des Komikers; denn Mliß lachte selten. Auch war sie nicht gerade tief gerührt über die zarten Andeutungen tiefsten Leides in der Ecke eines weißen Taschentuches, wie das mit dem weichherzigen »Klytchen« der Fall war, welches im selben Augenblicke mit ihrem »Burschen« plauderte und dem Lehrer coquette Blicke zuwarf. Aber als das Spiel vorüber war und der grüne Vorhang vor der kleinen Bühne fiel, that Mliß einen langen tiefen Seufzer und wandte sich dem ernsten Gesichte des Lehrers mit einem halb um Entschuldigung bittenden Lächeln und einer Geberde der Ermüdung zu.

Dann sagte sie: »Nun bringen Sie mich heim!« und senkte die Lider ihrer schwarzen Augen, als wollte sie im Geiste noch einmal auf der Theaterbühne verweilen.

Auf ihrem Wege zu Mrs. Morphers Haus hielt es der Lehrer für passend, die ganze Darstellung lächerlich zu machen. Jetzt würde er sich nicht wundern, wenn Mliß dächte, daß die junge Dame, die so schön gespielt, es wirklich ernsthaft gemeint hätte und in den Herrn verliebt gewesen wäre, der solche schöne Kleider angehabt. Na, wenn sie in ihn verliebt wäre, so wäre das ein sehr unglückliches Ding.

»Warum denn?« sagte Mliß, indem sie rasch die gesenkten Augenlider hob.

»O, nun er könnte bei seiner jetzigen Gage seine Frau nicht ernähren und wöchentlich so viel für seine schönen Kleider bezahlen, und dann würden sie nicht so viel Lohn kriegen, wenn sie verheirathet wären als jetzt, wo sie bloße Liebesleute wären. Das heißt,« fügte der Lehrer hinzu, »wenn sie nicht etwa schon mit jemand Anderes verheirathet sind. Aber ich denke, der Gemahl der hübschen jungen Gräfin nimmt an der Thür die Billets ein oder zieht den Vorhang auf oder schnäuzt die Lichter oder besorgt etwas ebenso Elegantes und Vornehmes. Was den jungen Mann mit den schönen Kleidern betrifft, die jetzt in der That schön sind und mindestens ihre dritthalb oder drei Dollars kosten, gar nicht zu sprechen von jenem Mantel von rothem Droguet, von dem ich zufällig den Preis weiß; denn ich kaufte einmal welchen für meine Stube, – was diesen jungen Mann betrifft, Lißchen, so ist er ein ziemlich guter Kerl, und wenn er gelegentlich trinkt, so denke ich nicht, daß die Leute sich das zu Nutze machen, ihm blaue Augen schlagen und ihn in den Schmutz werfen sollten. Nicht wahr? Wahrhaftig, er könnte mir lange Zeit dritthalb Dollars schuldig bleiben, bevor ich's ihm ins Gesicht schmisse, wie der Bursch neulich in Wingdam.«

Mliß hatte seine Hand in ihre beiden genommen und versuchte ihm in die Augen zu sehen, die er ebenso beharrlich abgewendet hielt. Mliß hatte eine leise Idee von Ironie, indem sie selbst bisweilen in eine Art spöttischen Humors verfiel, der in ihren Handlungen und ihrer Rede ganz bemerkbar war. Aber der junge Mann fuhr in dieser Melodie fort, bis sie das Haus der Mrs. Morpher erreicht und er Mliß ihrer mütterlichen Obhut übergeben. Indem er die Einladung der Mrs. Morpher, sich auszuruhen und eine Erfrischung zu genießen, ablehnte und seine Augen mit der Hand beschattete, um die Sirenenblicke der blauäugigen Klytämnestra abzuhalten, entschuldigte er sich und ging nach Hause.

Zwei oder drei Tage hindurch nach Ankunft der Schauspielergruppe kam Mliß zu spät in die Schule, und der gewöhnliche Freitagsspaziergang des Schullehrers wurde infolge der Abwesenheit seiner vertrauenswürdigen Führerin unterlassen. Als er seine Bücher weglegte und sich zum Verlassen des Schulhauses anschickte, piepte eine feine Stimme an seiner Seite: »Bitte, Herr Meister.« Der Lehrer drehte sich um, und da stand Aristides Morpher vor ihm.

»Nun, mein Männchen,« sagte der Lehrer ungeduldig, »was giebt es? Rasch!«

»Bitte, Herr Meister, ich und Kerg, wir denken, Mliß will wieder weglaufen.«

»Was ist das für Zeug, Junge?« sagte der Lehrer mit jener ungerechten Verdrießlichkeit, mit der wir stets unangenehme Nachrichten aufnehmen.

»Je nun, Herr Meister, sie bleibt nicht mehr zu Hause, und ich und Kerg, wir sehen sie mit einem von diesen Theaterkerls reden, und sie ist jetzt wieder bei ihm, und bitte, Herr Meister, gestern sagte sie zu Kerg und mir, sie könnte ebenso gut eine Rede halten wie Fräulein Cellerstina Montmoressy, und sie plapperte gleich drauflos aus dem Kopfe,« und der kleine Bursch hielt in zusammengesunkner Stellung inne.

»Was für ein Schauspieler ist's?« fragte der Lehrer.

»Der den Glanzhut trägt. Und das glänzende Haar. Und die goldne Nadel. Und die goldne Kette,« sagte der gerechte Aristides, indem er Punkte statt Kommas setzte, um Zeit zum Athemholen zu haben.

Der Lehrer zog seine Handschuhe an und setzte seinen Hut auf, indem er eine unbehagliche Beklemmung in seinem Brustkasten und Rücken empfand, und schritt auf die Straße hinaus. Aristides trabte neben ihm her und versuchte mit seinen kurzen Beinen mit dem weitausschreitenden Lehrer Schritt zu halten. Da hielt der Lehrer plötzlich inne, und Aristides stieß gegen ihn an.

»Wo sprachen sie mit einander?« fragte der Lehrer, als ob er die Unterredung fortsetzte.

»In der Arkade,« sagte Aristides.

Als sie die Hauptstraße erreichten, blieb der Lehrer stehen. »Lauf hinunter nach Hause,« sagte er zu dem Knaben. »Wenn Mliß dort ist, so komm nach der Arkade und berichte mir's. Wenn sie nicht da ist, so bleib zu Hause, lauf!« Und fort trabte der kurzbeinige Aristides.

Die Arkade lag gerade über der Straße – ein lang gestrecktes Gebäude, welches eine Schenkstube, ein Billardzimmer und einen Speisesaal enthielt. Als der junge Mann über die Piazza ging, bemerkte er, daß zwei oder drei Vorübergehende sich umdrehten und ihm nachblickten. Er sah nach seinen Kleidern, nahm sein Taschentuch heraus und wischte sich das Gesicht ab, bevor er in die Schenkstube trat. Dieselbe enthielt die gewöhnliche Zahl von Lungerern, die ihn anstierten, als er eintrat. Einer von ihnen sah ihn so starr an und mit einer so seltsamen Miene, daß der Lehrer stehen blieb und nochmals hinsah, und da fand er, daß es nur sein eignes Bild in einem großen Spiegel war. Dies brachte ihn auf den Gedanken, daß er ein Bischen aufgeregt sein möge, und so nahm er eine Nummer des »Banners vom Rothen Berge« von einem der Tische und versuchte seine Fassung wieder zu gewinnen, indem er die Annoncenspalte las.

Er schritt dann durch die Schenkstube, durch den Speisesaal und in das Billardzimmer. Das Kind war nicht da. In dem letzten Gemache stand bei einem der Billards ein Mensch, der einen breitrandigen Glanzhut auf dem Kopfe hatte. Der Lehrer erkannte in ihm den Agenten der Schauspielertruppe. Er hatte ihm durch die eigenthümliche Weise, in der er seinen Bart und sein Haar trug, Abneigung eingeflößt. Ueberzeugt, daß der Gegenstand seines Suchens nicht zugegen war, wendete er sich an den Mann mit dem Glanzhute. Derselbe hatte den Lehrer bemerkt, versuchte es aber mit der gemeinen Finte, zu thun, als wisse er nichts von ihm, welche ordinären Naturen stets mißglückt. Indem er ein Billardqueue in seiner Hand wog, that er, als wollte er mit einem Ball in der Mitte des Tisches spielen. Der Lehrer blieb ihm gegenüber stehen, bis er seine Augen erhob. Als ihre Blicke sich begegneten, ging der Lehrer auf ihn zu.

Er hatte sich vorgenommen, einen Auftritt oder Zank zu vermeiden, aber als er zu sprechen anhob, stieg ihm immer etwas in die Kehle herauf und hinderte ihn am Reden, und seine eigne Stimme erschreckte ihn, so fern, dumpf und bebend klang sie.

»Ich höre,« begann er, »daß Melissa Smith, eine Waise und eine von meinen Schülerinnen, mit Ihnen davon gesprochen hat, Ihrem Gewerbe sich zu widmen. Ist das so?«

Der Mann mit dem Glanzhute lehnte sich über die Bande und that einen Stoß auf's Gerathewohl, welcher den Ball rings um die Kissen wirbeln ließ. Dann ging er um den Tisch herum, holte sich den Ball wieder und stellte ihn auf den Punkt. Nach Erfüllung dieser Aufgabe, sagte er, sich zu einem zweiten Stoße auslegend:

»Glaube, ja.«

Dem Lehrer stockte es wieder in der Kehle, aber indem er das Kissen des Billards mit seiner behandschuhten Hand zusammenpreßte, sagte er:

»Wenn Sie ein Mann von Ehre sind, so habe ich Ihnen nur zu sagen, daß ich ihr Vormund bin und verantwortlich für ihren Lebensgang. Sie kennen die Art Leben, die Sie ihr bieten, so gut wie ich. Wie Sie hier von jedermann erfahren können, habe ich sie bereits aus einer Existenz schlimmer als der Tod herausgebracht – aus den Straßen und der Befleckung durch das Laster. Ich versuche das wieder zu thun. Lassen Sie uns wie Männer sprechen. Sie hat weder Vater, noch Mutter, Schwester oder Bruder. Beabsichtigen Sie ihr dafür einen Ersatz zu geben?«

Der Mann mit dem Glanzhut prüfte die Spitze seines Queues und sah sich dann um, ob niemand da sei, der sich an dem Spaße mit ihm ergötzen könnte.

»Ich weiß, daß sie ein seltsames, eigensinniges Mädchen ist,« fuhr der Lehrer fort, »aber sie ist besser als sie war. Ich glaube, daß ich noch einigen Einfluß auf sie habe. Ich bitte und hoffe deshalb, daß Sie in dieser Angelegenheit keine weiteren Schritte thun, sondern sie als ein Mann, als ein Mann von Ehre mir überlassen werden. Ich bin willens –« aber hier stieg dem Lehrer wieder etwas in die Kehle, und der Satz blieb unvollendet.

Der Mann mit dem Glanzhut erhob, indem er das Schweigen des Lehrers mißverstand, den Kopf zu einem groben, brutalen Lachen und sagte mit lauter Stimme:

»Wollen sie für sich selber, nicht wahr? Auf diesen Zopf beißen wir hier nicht, junger Mann!«

Die Beleidigung lag mehr in dem Tone als in den Worten, mehr in dem Blick als in dem Tone, und mehr in des Mannes thierartig empfindenden Natur als in diesem Allen. Die am besten verstandne Rhetorik bei dieser Art Vieh ist ein Schlag. Der Lehrer fühlte dies, und indem seine zurückgestaute wuchtige Energie in dem einen Act sich Luft machte, schlug er den Lümmel voll in sein feixendes Gesicht. Der Schlag ließ den Glanzhut dahin und das Queue dorthin fliegen und riß Handschuh und Haut von des Lehrers Hand vom Knöchel bis zu den Fingerspitzen. Er schlitzte die Mundwinkel des Kerls auf und verdarb ihm für einige Zeit die eigenthümliche Form seines Bartes.

Man hörte einen Aufschrei, einen Fluch, eine Balgerei und das Trampeln vieler Füße. Dann trat die Menge rechts und links auseinander, und zwei scharfe, kurze Knalle folgten rasch aufeinander. Dann schloß es sich wieder um seinen Gegner, und der Lehrer stand allein. Er erinnerte sich später, Flocken brennender Watte mit seiner linken Hand aus seinem Rockärmel gezupft zu haben. Jemand hielt seine andere Hand. Indem er nach ihr hinblickte, sah er, daß sie noch immer von dem Schlage blutete, aber seine Finger umklammerten den Griff eines blitzenden Messers. Er konnte sich nicht entsinnen, wann oder wie er es bekommen.

Der Mann, der seine Hand hielt, war Mr. Morpher. Er zog den Lehrer hastig nach der Thür, aber der Lehrer stemmte sich und versuchte, so gut er's mit seiner vertrockneten Kehle vermochte, ihm von Mliß zu erzählen.

»Alles in der Ordnung, mein Junge,« sagte Mr. Morpher. »Sie ist zu Hause.« Und sie gingen mit einander auf die Straße hinaus. Und als sie so hinschritten, sagte Mr. Morpher, daß Mliß vor ein paar Augenblicken ins Haus hereingerannt sei und ihn fortgezogen habe, indem sie gesagt, daß Jemand den Meister in der Arkade umbringen wollte. Indem er allein zu sein wünschte, versprach der Lehrer Mr. Morpher, den Agenten diesen Abend nicht wieder aufzusuchen, und schied von ihm, um die Straße nach dem Schulhause einzuschlagen. Er war überrascht, die Thür offen zu finden – noch mehr überrascht, zu finden, daß Mliß dort saß.

Die Natur des Lehrers hatte, wie ich früher schon angedeutet habe, wie die der meisten empfindsamen Organisationen, eine selbstsüchtige Basis. Die brutale Stichelei, die sein Gegner ihm soeben zugeschleudert, fraß ihm noch immer am Herzen. Er hielt es für möglich, daß man sich seine Neigung zu dem Kinde so zurechtlegte, und etwas der Art war im besten Falle Thorheit und Donquixoterie. Außerdem, hatte sie nicht freiwillig seine Autorität und Zuneigung verläugnet? Und was hatte sonst alle Welt von ihr gesagt? Warum sollte er allein gegen die Meinung Aller ankämpfen und zuletzt sich gezwungen sehen, stillschweigend einzugestehen, daß Alles wahr sei, was sie vorausgesagt? Und er hatte sich an einer gemeinen Schenkstuben-Prügelei mit einem ordinären Lümmel betheiligt und sein Leben gewagt, um – was denn zu beweisen? Was hatte er bewiesen? Nichts. Was würden die Leute sagen? Was würden seine Freunde sagen? Was würde Mac Snagley sagen?

In seiner Selbstanklage war Mliß die Letzte, der er zu begegnen gewünscht hätte. Er trat durch die Thür herein und sagte, indem er auf sein Pult zuschritt, dem Kinde, daß er zu thun habe und allein zu sein wünschte. Als sie sich erhob, nahm er ihren leeren Sitz ein, setzte sich nieder und begrub seinen Kopf in seine Hände. Als er wieder aufblickte, stand sie immer noch da. Sie sah ihm mit dem Ausdruck der Angst ins Gesicht.

»Haben Sie ihn todtgemacht?« fragte sie.

»Nein,« sagte der Lehrer.

»Darum gab ich Ihnen ja das Messer!« sagte das Kind hastig.

»Du gabst mir das Messer?« wiederholte der Lehrer im höchsten Erstaunen.

»Ja, ich gab Ihnen das Messer. Ich steckte da unter dem Schenktische. Sah, wie Sie ihm eins hineinhauten. Sah Sie Beide fallen. Er verlor sein altes Messer. Ich gab es Ihnen. Warum stachen Sie ihn denn nicht damit?« sagte Mliß in rascher Folge mit einem ausdrucksvollen Blinzeln ihrer schwarzen Augen und einer Geberde ihrer kleinen rothen Hand.

Der Lehrer konnte seine Verwunderung nur durch Blicke kundgeben.

»Ja,« sagte Mliß. »Wenn Sie mich gefragt hätten, so hätte ich Ihnen gesagt, ich gehe fort mit den Theater-Schauspielern? Warum wollte ich fort mit den Theater-Schauspielern? Weil Sie mir nichts davon sagen wollten, daß Sie weggehen wollten. Ich wußte es. Ich hörte, wie Sie's dem Doctor erzählten. Ich hatte keine Lust hier zu bleiben allein mit diesen Morphers. Eher wollte ich sterben.«

Mit einer dramatischen Geberde, die ganz und gar mit ihrem Charakter übereinstimmte, zog sie aus ihrem Busen einige welke grüne Blätter, und indem sie dieselben auf Armslänge vor sich hinhielt, sagte sie in ihrer raschen lebhaften Weise und mit der wunderlichen Aussprache ihres früheren Lebens, in welche sie zurückverfiel, wenn sie über Gebühr aufgeregt war:

»Das ist die Giftpflanze, von der Sie sagten, daß sie mich tödten würde. Ich will mit den Theater-Schauspielern gehen oder Dieses hier essen und sterben. Welches von beiden ist mir gleich. Ich will nicht hier bleiben, wo sie mich hassen und verachten. Und auch Sie würden mich nicht dableiben lassen, wenn Sie mich nicht ebenfalls haßten und verachteten.«

Die leidenschaftliche kleine Brust hob sich, und zwei große Thränen guckten über den Rand von Mliß' Augenlidern, aber sie schnellte sie hinweg mit der Ecke ihrer Schürze, als ob sie Wespen wären.

»Wenn Sie mich in's Gefängniß sperren,« sagte Mliß grimmig, »um mich von den Theater-Schauspielern fernzuhalten, so werde ich mich vergiften. Vater hat sich selber umgebracht – warum sollte ich's nicht auch? Sie sagten, ein Mundvoll von dieser Wurzel würde mich tödten, und ich trage es stets hier,« und sie schlug sich mit geballter Faust auf die Brust.

Der Lehrer dachte an die leere Stelle neben Smiths Grabe und an die leidenschaftliche kleine Gestalt neben ihm. Indem er ihre Hände mit den seinen ergriff und ihr voll in die wahrhaftigen Augen schaute, sagte er:

»Lißchen, willst Du mit mir gehen?«

Das Kind schlang seine Arme um seinen Hals und sagte freudenvoll: »Ja.«

»Aber jetzt gleich – heut Abend noch?«

»Heut Abend noch.«

Und Hand in Hand schritten sie in die Straße hinaus – auf die schmale Straße, die einst ihre müden Füße zur Thür des Lehrers gebracht hatte, und welche sie, wie es schien, nicht wieder allein betreten sollte. Die Sterne funkelten hell über ihnen. Mochte es gut kommen oder übel, die Lection war gelernt, und hinter ihnen schloß sich die Schule vom Rothen Berge für immer.


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