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Erstaunliche Abenteuer Musjeh Charles Summertons.

Punkt halb zehn Uhr am Morgen, Sonnabend, den 26. August 1865 verschwand Musjeh Charles Summerton, fünf Jahre alt, auf geheimnißvolle Weise aus seinem Vaterhause, Folsom Street, San Francisco. Fünfundzwanzig Minuten nach neun Uhr hatte ihn noch der Fleischer beobachtet, wie er jene beliebte Jugendübung durchmachte, die unter dem Namen »Radschlagen« bekannt ist, eine Leistung, in der er besonders geschickt war. Vor einem Untersuchungsgericht, welches im Hinterzimmer von Nummer 1015 Sitzung hielt, gab Bridget, Köchin, an, ihn zwanzig Minuten nach neun Uhr über der strafbaren Entfremdung von Zucker aus der Speisekammer betroffen zu haben, was sie, nach derselben Aussage, niemals verhindert haben würde, wenn sie gewußt hätte, was käme. Patsey, ein Knabe mit quäkender Stimme aus einem benachbarten Gäßchen, bezeugte, daß er »Korlchen« um halb zehn Uhr vor dem Fleischerladen um die Ecke gesehen habe; da indeß dieser junge Herr die unerweisbare Ansicht hinzuwerfen beliebte, daß das verloren gegangne Kind vom Fleischer in Würste verwandelt worden, so wurde seine Aussage vom weiblichen Theile des Gerichtshofs mit einiger Vorsicht und von den männlichen Mitgliedern mit offen kundgegebner Geringschätzung und Verhöhnung aufgenommen. Aber was auch die Stunde seines Abhandenkommens sein mochte, sicher war, daß von halb zehn Uhr Vormittags bis neun Uhr Abends, wo er von einem Schutzmann heimgebracht wurde, Charles Summerton im Hause fehlte. Da er von Natur schweigsamer Gemüthsart ist, so hat er seitdem mit einer einzigen Ausnahme jedem Versuche widerstanden, ihm eine Mittheilung über sein Verbleiben während dieser Periode zu entringen. Jene Ausnahme bin ich selbst. Er hat mir das Folgende im strengsten Vertrauen erzählt.

Als er die Thürstufen seiner Wohnung verließ, war seine Absicht, ohne Verzug über die zweite und die Marktstraße nach Van Diemens Land zu gehen. Dieses Project wurde in der Folge insofern modificirt, daß es einen Besuch auf Otahaiti gestattete, wo Kapitän Cook getödtet worden war. Die Ausrüstung für seine Reise bestand in zwei Omnibus-Billets, fünf Cents in Silber, einer Angelschnur, der Messingkuppe einer Baumwollenspule, welche in seinen Augen einige Aehnlichkeit mit Metallgeld hatte, und einem Billet für die Bibliothek einer Sonntagsschule. Seine Kleider, den Bedürfnissen jedes Klimas in bewundernswürdiger Weise angepaßt, waren im Einzelnen ein Strohhut mit einem rothen Bande, ein gestreiftes Hemde, über welches ein Paar im Vergleich mit ihrer Länge ungewöhnlich weiter Hosen geknöpft war, gestreifte Balmoral-Strümpfe, welche seinen jugendlichen Beinen etwas vom Aussehen von Wintergrün-Zuckerkand gaben, und Schuhe mit kupfernen Kappen über den Zehen und eisernen Absätzen, mit denen er jeder Trottoirplatte Feuerfunken entlocken konnte. Diese letztere Eigenschaft mußte, wie Musjeh Karlchen zu fühlen nicht umhin konnte, ihm unendlich gute Dienste in den Wildnissen von Van Diemens Land leisten, welche, so malerisch sie auch seine Geographie darstellte, Mangel an Eck-Victualienhandlungen und Zündhölzchen zu leiden schienen.

Genau als die Uhr die halbe Stunde schlug, verschwanden die kurzen Beine und der Strohhut Musjeh Charles Summertons um die Ecke. Er lief rasch, theils um sich für die Strapazen der vor ihm liegenden Reise einzuüben, und theils um seine Schnelligkeit an der eines Wagens der Nordufer-Bahn zu messen, der in seiner Richtung hinfuhr. Der Schaffner, der von diesem großherzigen und erhabnen Wetteifer nichts ahnte und beim Anblick zweier sehr kurzer daherstrampelnder Beine weit hinter dem Wagen einige Theilnahme empfand, hielt seinen Omnibus an und half großmüthig dem jugendlichen Summerton auf den Wagentritt. Von diesem Punkt an zieht sich ein Hiatus in der Dauer mehrerer Stunden durch die Erzählung Charles'. Er lebt unter dem Eindruck, daß er nicht nur seine beiden Billets »verfahren« hat, sondern bei der Gesellschaft auch in Schuld für mehrere Fahrten hin und zurück von den gegenüberliegenden Endstationen gerathen, und daß er zuletzt, indem er entschlossen jede Auskunft über sein Betragen verweigert, an einer Straßenecke an die Luft gesetzt worden ist. Obwohl er nach seiner Mittheilung an uns vollkommen zufrieden mit diesem Arrangement war, sah er sich doch unter den Umständen genöthigt, dem Schaffner eine schimpfliche Bezeichnung nachzuschleudern, die, wie er von Patsey erfahren, das correcte Verfahren in solchen Fällen war und besonders stark ärgernde Eigenschaften besaß.

Wir nähern uns jetzt einem schauderhaften Theil der Erzählung, vor welchem die meisten der Abenteuer in »Des Knaben Lieblingsbuch« zur Bedeutungslosigkeit erbleichen. Es giebt Zeiten, wo die Erinnerung an dieses Abenteuer bei Musjeh Charles den kalten Schweiß ausbrechen läßt, und mehrmals seit dem Vorkommniß ist er von Klagerufen und Aufschreien in der Nacht erweckt worden, lediglich indem er davon träumte. An der Ecke der Straße lagen mehrere große leere Zuckerfässer. Einige junge Herren vergnügten sich darin, bewaffnet mit Stöcken, mit welchen sie den Zucker abkratzten, der noch zwischen den Fugen der Dauben saß, und ihn nach ihrem Munde führten. Indem Musjeh Charles ein noch nicht in Beschlag genommnes Faß fand, machte er sich an die Arbeit und schwelgte für einige Augenblicke in einem tollen Traum voll Zucker, aus welchem er schließlich durch eine zornige Stimme und die rasch retirirenden Fußtritte seiner Kameraden geweckt wurde. Ein unheilverkündender Laut schlug an sein Ohr, und im nächsten Augenblicke fühlte er, wie das Faß, in welchem er lag, aufgehoben und aufrecht an die Wand gestellt wurde. Er war ein Gefangner, aber bis jetzt noch unentdeckt. Ueberzeugt in seinem Gemüthe, daß Hängen die systematische und gesetzmäßig feststehende Strafe für das Verbrechen sei, welches er begangen, hielt er mannhaft den Schrei zurück, der ihm auf die Lippen stieg.

Nach einigen Minuten fühlte er, wie das Faß wieder von einer gewaltigen Hand emporgehoben wurde, die über ihm am Rande seines Gefängnisses erschien, und welche, wie er schloß, dem wildherzigen Riesen Blunderbore angehörte, dessen Gesichtszügen und Gliedmaßen er häufig auf colorirten Bildern begegnet war. Bevor er sich von seinem Staunen erholen konnte, wurde sein Faß mit mehrern andern auf einen Karren gestellt und rasch davongefahren. Die Fahrt, welche folgte, beschreibt er als über die Maßen furchtbar. Herumgewälzt wie eine Pille in einer Schachtel, erlitt er eine Seelenangst, die sich andeuten, aber nicht aussprechen läßt. Beweise für diesen langwierigen Kampf waren an seinen Kleidern sichtbar, welche zäh wie Syrup aneinander klebten, und an seinem Haar, welches mehrere Stunden hindurch unter der Behandlung mit heißem Wasser eine dünne Zuckerbrühe abfließen ließ. Endlich hielt der Karren an einer der Werften, und der Kärrner begann abzuladen. Als er das Faß umstülpte, in welchem Charles lag, entfuhr seinen Lippen ein Ausruf, und der Rand des Fasses entfiel seinen Händen, wobei sein letzter Insasse auf die Werfte rutschte. Wieder auf seine kurzen Beine zu springen und die möglichst große Entfernung zwischen sich und den Kärrner herzustellen, waren seine ersten Regungen, als er seine Freiheit wiedergewonnen hatte. Er stand nicht eher still, als bis er die Ecke der Front Street erreicht hatte.

Nun folgt in dieser wahren Geschichte eine zweite leere Stelle. Er kann sich nicht besinnen, wie und wann er sich vor dem Zelt mit dem Circus wiederfand. Er hat eine unbestimmte Erinnerung, wie wenn er durch eine lange Straße mit Läden gegangen sei, die alle geschlossen waren, und die ihn fürchten ließen, daß es Sonntag sei, und daß er eine traurige Nacht in dem Zuckerfasse verbracht habe. Aber er besinnt sich, daß er den Schall von Musik im Zelte gehört, und daß er, als niemand aufgepaßt habe, auf Händen und Knien gekrochen, bis er unter der Leinwand durch gewesen sei. Seine Beschreibung von den Wundern, die jener Kreis einschloß, von den schreckbaren Kunststücken, die ein Mann auf einer Stange ausführte, und die er selbst seitdem im Hinterhofe einübte, von den Pferden, unter welchen eins gefleckt war und einem Thier in seiner Noaharche glich, welches bisher von der Naturforschung noch nicht erkannt und beschrieben wurde, von den weiblichen Mitgliedern der Reitkünstlergesellschaft, deren Kleider in ihrer Pracht nur mit den Röcken der Puppe seiner Schwester zu vergleichen waren, von dem bunten Hanswurst, dessen Späße eine Heiterkeit hervorriefen, die ein wenig mit einer unbestimmten Furcht gemischt war, war eine Sprachleistung, welche diese Feder nur schwach nachschreiben, und welche auch die größte Menge von Ausrufungszeichen nicht genügend zur Anschauung bringen könnte.

Er ist nicht ganz sicher in Betreff dessen, was folgte. Er erinnert sich, daß es unmittelbar nachdem er den Circus verlassen, dunkel wurde, und daß er einschlief, dann aber in Zwischenpausen an Straßenecken, auf Stufen zu einer Hausthür, in jemandes Armen und schließlich in seinem eignen Bette erwachte. Er war sich nicht bewußt, Bedauern über seine Aufführung empfunden, er besinnt sich nicht, jemals Neigung, nach Hause zu gehen, gefühlt zu haben, er erinnert sich bestimmt, daß er Hunger hatte.

Er hat diese Aufschlüsse im Vertrauen gegeben. Er wünscht, daß es geachtet werde. Er möchte wissen, ob Sie fünf Cents bei sich haben.


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