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Ein Knabenhund

Wenn ich meine Augen von dem Papier erhebe, so bemerke ich einen Hund, der auf den Stufen zu dem Hause gegenüber liegt. Seine Haltung könnte Vorübergehende und zufällige Beobachter zu dem Glauben veranlassen, daß er zu den dort wohnenden Leuten gehöre, und sie bewegen, ihm eine gewisse feste Stellung zuzuschreiben. Ich habe gesehen, wie Besucher ihn unter dem Eindrucke streichelten, daß sie seinem Herrn damit eine Höflichkeit erwiesen, wobei er die Täuschung durch heuchlerische Zusammenziehungen des Leibes unterstützte. Aber seine Haltung ist Trug und Verstellung. Er hat weder Herrn noch Wohnung. Er ist ein echter Pariah und Auswürfling, kurz und gut: »Der Knabenhund«.

In dieser Bezeichnung ist ein Grad hoffnungsloser und unverbesserlicher Vagabondage ausgesprochen, welcher vielleicht nicht allgemein verstanden werden wird. Nur Die, welche mit der Lust am Herumschweifen und der Beutegier der Knaben in großen Städten bekannt sind, werden ihre Bedeutung würdigen. Es ist die niedrigste Stufe auf der socialen Leiter, auf welche ein achtbares Glied der Familie canis hinabsteigen kann. Der Hund eines Blinden oder der Gefährte eines Scheerenschleifers ist vergleichsweise vornehm. Er ist wenigstens nur einem Herrn Gehorsam schuldig. Aber der Knabenhund ist der Knecht einer ganzen jugendlichen Gemeinde, gehorsam dem Wink und Ruf des kleinsten Gassenjungen der Gegend, und nicht so sehr das Zubehör und der Diener eines einzelnen Knaben, als der gesammten Knabenschaft und dem Knabenthum. Bei ihren activen Vergnügungen, kleinen Diebstählen, Einbrüchen in Hinterhöfe, Fenstereinwerfen und andern kleineren Jugenderholungen nimmt er seinen vollen Antheil. In dieser Weise ist er das Spiegelbild der Ruchlosigkeit vieler Herren, ohne die Tugenden oder Eigenthümlichkeiten eines einzelnen zu besitzen.

Wenn der Ausdruck »ein Hundeleben führen« als eine besondre Phase menschlichen Elends betrachtet wird, so ist das Leben eines Knabenhundes noch unglücklicher. Er wird mit allen Plänen, die auf Uebelthat hinauslaufen, in Verbindung gebracht, und wenn er nicht ein Hund von Erfahrung ist, so ist er stets der Sündenbock. Nie theilt er mit seinen Genossen die Beute. Fehlt es an erlaubten Vergnügen, so muß er seinen Gefährten als vogelfrei herhalten, und ich habe ihn zu der Schmach heruntergebracht gesehen, daß man ihm einen Kessel an den Schwanz gebunden hatte. Seine Ohren und sein Schwanz sind gewöhnlich gestutzt, um der Laune der gottlosen Rotte zu entsprechen, deren Mitglied er ist, und wenn er irgend Muck hat, so wird er unaufhörlich auf größere Hunde zu tödtlichem Kampfe gehetzt. Er wird kärglich gefüttert und stündlich geschimpft, der Ruf seiner Genossen schließt ihn von Sympathien der übrigen Welt aus, und einmal zum Knabenhunde geworden, kann er seine Stellung nicht mehr mit einer andern vertauschen. Nicht selten wird er von seinen unmenschlichen Spießgesellen in die Sklaverei verkauft. Ich entsinne mich, eines Tages auf meinen eignen Thürstufen von ein paar frühreifen Jungen angeredet worden zu sein, die mir einen Hund zum Kauf anboten, welchen sie an einer Leine führten. Der Preis war außerordentlich mäßig, indem er, wenn ich mich recht erinnere, nur fünfzig Cents betrug. Indem ich glaubte, das unglückliche Thier sei erst neuerdings ihnen in die gottlosen Hände gefallen, und ihn vor der Erniedrigung, ein Knabenhund zu werden, zu retten wünschte, war ich dabei, das Geschäft abzuschließen, als ich plötzlich einen Blick des Einverständnisses zwischen dem Hunde und seinen beiden Herren hin und her gehen sah. Ich machte sofort aller Negotiation ein Ende und vertrieb die jugendlichen Schwindler und ihren vierfüßigen Mitschuldigen aus meiner Gegenwart. Die ganze Sache lag klar am Tage. Der Hund war ein alter, erfahrner, verhärteter Knabenhund, und ich war vollständig überzeugt, daß er bei der ersten Gelegenheit weglaufen und sich seinen alten Spießgesellen wieder anschließen würde. Dies that er denn, wie ich erfuhr, später auch, indem ein gutherziger, aber mit ihren Schlichen nicht vertrauter Nachbar ihn kaufte, und vor ein paar Tagen sah ich ihn von jenen beiden Arkadiern in einer andern Nachbarschaft zum Verkauf ausgestellt, nachdem er in dieser ein halb Dutzend Mal gekauft und bezahlt worden war.

Aber, so wird man fragen, wenn das Leben eines Knabenhundes so unglücklich ist, warum gehen sie auf eine so unbeneidenswerthe Situation ein, und warum lösen sie das Geschäftsverhältniß nicht auf, wenn es unerfreulich wird? Ich will gestehen, daß diese Frage mir oft Kopfzerbrechen verursacht hat. Einige Zeit war ich unschlüssig, ob ihre gottlose Verbindung die Wirkung des Einflusses des Knaben auf den Hund oder ob das Umgekehrte der Fall, und welche von beiden Naturen die schwächste und am leichtesten zu beeinflussende sei. Ich bin jetzt überzeugt, erstens, daß der Hund unzweifelhaft von dem Knaben beeinflußt und, während er noch ein Hündchen ist, durch verschmitzte und ränkesüchtige Knaben gleichsam vom Pfade hündischer Rechtschaffenheit verleitet wird. Wenn er älter und erfahrener in den Wegen seiner zigeunerischen Freunde wird, läßt er sich willig als Verlockung brauchen und findet Vergnügen daran, die knabenhafte Unschuld auf Irrwege zu führen, Kinder zum Müßiggehen zu verlocken und so seine eigne Erniedrigung an der Knabennatur im Allgemeinen zu rächen. In dieser Beziehung und in Betreff gewisser ruchloser Praktiken, über denen ich ihn betroffen habe, halte ich es für passend, Eltern und Vormündern die Gefahr darzulegen, der ihre Nachkommenschaft durch den Knabenhund ausgesetzt ist.

Der Knabenhund stellt seine Fallen arglistig. Er beginnt damit, daß er durch den Hinweis auf unbeschränkte Freiheit und Vergnüglichkeit, den er in seiner eignen Person darbietet, Einfluß auf das jugendliche Gemüth gewinnt. Er liegt an der Gartenthür nach einem sehr kleinen Knaben auf der Lauer und bemüht sich, ihn aus deren geheiligtem Umkreis zu locken, indem er ein wenig in die Einzäunung hineintanzt und hüpft. Er beginnt eine eingebildete Hetzjagd und rennt in völlig toller Weise um das Häuserviereck herum, um dann athemlos in seine frühere Position zurückzukehren und eine Miene anzunehmen, als wollte er sagen: »Da siehst Du, wie ganz leicht sich die Sache macht.« Sollte das unglückliche Kind es schwierig finden, der Wirkung zu widerstehen, welche dieser kurze Blick in die Bahn der Freiheit hervorbringt, und über die Thür hinaustreten, so ist es von dem Augenblicke an gänzlich demoralisirt. Der Knabenhund nimmt dann von seinem Leib und seiner Seele Besitz. Geradenwegs wird er von dem betrügerischen Vieh in den ruchlosen Kreis seiner zigeunerischen Herren geführt. Bisweilen verwandelt sich der unglückliche Knabe schließlich auf der Polizeistation in ein verlornes Kind. Wo ich nur auf der Straße einen umherirrenden Knaben treffe, der ganz verblüfft und verwirrt aussieht, sehe ich gemeiniglich einen Knabenhund an der Ecke lauern. Wenn ich die Anzeigen von verlornen Kindern lese, setze ich stets im Geiste der Beschreibung hinzu: »wurde zuletzt in Gesellschaft eines Knabenhundes gesehen.« Auch beschränkt sich sein Einfluß nicht ganz auf kleine Jungen. Ich habe ihn geduldig auf größere Knaben auf ihrem Wege zur Schule warten und sie durch schlau berechnete und sophistische Praktiken bewegen sehen, sich dem Müßiggange zu ergeben. Ich habe ihn vor der Schulthür liegen sehen, in der Absicht, die Kinder auf dem Heimwege nach fernen und abgelegnen Gegenden zu verlocken. Er hat manchen arglosen Knaben nach den Werften und Quais geführt, indem er den Charakter eines Wasserhundes annahm, der er doch nicht war, und er hat ferner andere zu einem Schießausfluge mit ihm bewogen, indem er sich für einen Jagdhund ausgab, von welcher Eigenschaft er doch wußte, daß sie ihm abging. Gewissenlos, heuchlerisch und arglistig hat er die Herzen vieler Kinder gewonnen, indem er auf jeden Namen hörte, bei dem sie ihn rufen mochten, wobei er sich ihnen anschloß, bis sie in Noth geriethen, und sie gerade in dem Augenblicke verließ, wo sie seines Beistandes am meisten bedurften. Ich habe gesehen, wie er kleinen Schulknaben ihr Mittagsbrot raubte, indem er that, als stieße er sie aus Zufall um, und dann wieder gesehen, wie größere Knaben ihm seine übel erworbne Beute abnahmen, um sich selbst vergnüglich darüber herzumachen. Aus einem Werkzeug ist er zu einem Mitschuldigen herangewachsen, vielfach getäuscht, hat er gelernt, Andere zu täuschen; geben wir ihm das beste Zeugniß, so ist er einfach der Bummler eines Bummlers.

Ich könnte es über's Herz bringen, ihn zu bemitleiden, wie er so daliegt, den langen Sommernachmittag und sich der kurzen Pausen von Ruhe und Behagen freut, die er sich verstohlen von den Thürstufen eines Fremden wegschnappt. Denn ein schrilles Pfeifen läßt sich in den Straßen vernehmen, und er wird aus seinen Träumen von einer unversehens geworfnen Kartoffel aufgeschreckt, die ihn an den Kopf trifft und ihn zu der harten Wirklichkeit erweckt, daß er jetzt und für immer – ein Knabenhund ist.


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