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Erinnerungen an die Bettlerzunft.

Da die neue Wohlthätigkeitsgesellschaft die Wirkung gehabt hat, daß die Bettler sich von den Straßen zurückgezogen haben, und da der Kunstbettel hoffen läßt, man werde ihn bald zu den verloren gegangenen Künsten zählen, so habe ich, um einige Aufzeichnungen über diesen edlen Gewerbszweig zu bewahren, mich bemüht, mir gewisse Züge und Eigenthümlichkeiten einzelner Mitglieder des Ordens ins Gedächtniß zurückzurufen, die ich gekannt habe, und deren Gestalten ich jetzt an den Orten, wo sie zu spuken pflegten, vermisse. Indem ich dies thue, bekenne ich mich zu einem gewissen Bedauern über diesen Verfall des handwerksmäßigen Bettelns; denn ich stelle die Theorie auf, daß die Menschheit durch den gelegentlichen Anblick von Elend, gleichviel, ob geheuchelt oder nicht, nach demselben Grundsatz gebessert wird, nach welchem unsere Empfindungen durch die erdichteten Seelenleiden des Dramas bereichert werden, obwohl wir wissen, daß es die Schauspieler nicht so meinen. Vielleicht bin ich indiscret, wenn ich sage, daß ich die geschickt drapirte und gut gespielte Aufführung des bettelnden Betrügers infolge desselben Antriebes belohnt habe, der mich bewog, einen Dollar daran zu wenden, um Zeuge von den erheuchelten Kümmernissen des armen Triplat zu sein, wie ihn Charles Wheatleigh darstellte. Ich war in keinem der beiden Fälle verdrießlich über die Täuschung. Mein Geld wurde als Anerkennung für den Gedanken gegeben, die moralische Verantwortlichkeit verblieb dem Darsteller.

Die Hauptgestalt, welche ich jetzt als für immer verloren betrauere, ist eine, die vielen meiner Leser vielleicht wohl bekannt ist. Es war die eines dunkelfarbigen, schwarzäugigen, fremd aussehenden Weibes, welche in ihren Armen ein kränkliches Kind trug. Als pathologisches Phänomen war das Kind vorzüglich interessant, indem es das hippokratische Gesicht und andere Symptome unmittelbar bevorstehender Auflösung unverändert die letzten drei Jahre hindurch gezeigt hatte. Die Frau bat niemals mit Worten um Almosen. Sie erschien stets stumm, geheimnißvoll und plötzlich. Sie appellirte an das Gefühl durch nichts weiter, als was das dramatische Tableau ihrer selbst und des Kindes errathen ließ, nur kam bisweilen noch eine ausgestreckte Hand und ein bittendes Auge hinzu. Sie stand gewöhnlich in meinem Thorwege still und geduldig und deutete ihre Anwesenheit, wenn meine Aufmerksamkeit von Anderm in Anspruch genommen war, durch ein leises Husten ihres Kindes an, welches, wie ich immer glauben werde, seine Rolle in der kleinen Pantomime zu spielen hatte und gewöhnlich einem geheimen Signal von mütterlicher Hand gehorchte. Es nützte mir nichts, das Almosen zu verweigern, Geschäfte vorzuschützen oder mich zu stellen, als ob ich auf sie nicht Acht hätte. Sie rückte nicht von der Stelle, sie nahm stets mit einer Miene Stellung, die auf latente Fähigkeiten von Ausdauer und Erfahrung im Warten schließen ließ, und die nie verfehlten, mich mit Scheu zu erfüllen und auf mich den Eindruck zu machen, daß hier alle Hoffnung auf Entkommen eitel sei. Ferner lag in dem vorwurfsvollen Ausdruck ihres Auges ein Etwas, welches mir deutlich, wenn ich mich über meine Zeitung beugte, die Worte zurief: »Fahr nur fort mit Deinen gemachten Empfindsamkeiten und Deinem erheuchelten Pathos, portraitire die eingebildeten Leiden Deiner körperlosen Schöpfungen, breite das dünne Gewebe Deiner Philosophie aus, aber sieh hierher, hier ist wahres Elend, hier ist echtes Leiden!« Ich gestehe, daß diese geschickte Andeutung mich gewöhnlich bezwang. Drei Minuten nachdem sie die Festung auf diese Art eingeschlossen hatte, ergab ich mich gewöhnlich auf Gnade und Ungnade, ohne daß von einer oder der andern Seite ein Schuß gefallen war. Sie empfing mein Opfer und zog sich so stumm und geheimnißvoll zurück, wie sie erschienen war. Vielleicht war es gut für mich, daß sie ihre Stärke nicht kannte. Ich hätte, wenn dieses schreckliche Weib, ihrer wirklichen Macht sich bewußt gewesen wäre, leicht dazu gezwungen werden können, mir Geld zu borgen, welches ich nicht bezahlen konnte, oder eine Anweisung zu fälschen, um mir Sicherheit vor ihrer furchterweckenden Gegenwart zu erkaufen. Ich weiß kaum, ob ich mich verständlich mache, und doch bin ich nicht im Stande, meine Meinung klarer auszudrücken, wenn ich sage, daß in ihrem Blicke ein Etwas lag, welches demjenigen, an den sie sich wendete, sobald Andere zugegen waren, die Vorstellung erweckte, er wäre am Ende selbst an ihrer Noth schuld, was, indem es nie verfehlte, ihn mit einer aus Lächerlichkeit und Schrecken gemischten Empfindung zu erfüllen, stets auf die, Gemüther der Dabeistehenden den Eindruck ungemischten Ernstes machte. Da sie im letzten Monat verschwunden ist, so bilde ich mir ein, daß sie in der Wohlthätigkeitsgesellschaft von San Francisco eine Heimstätte gefunden – wenigstens kann ich mir keine Wohlthätigkeit vorstellen, welche jener stummen Erscheinung widerstehen könnte, und wäre dieselbe auch noch so geschützt durch heilsame Einsprüche scharfblickender Armenpfleger. Ich hätte Lust, hinzugehen und mich nach ihr zu erkundigen, und ferner zu erfahren, ob das Kind in der Genesung oder todt ist; aber ich bin überzeugt, daß sie sich erheben würde, eine stumme und vorwurfsvolle Klage, so persönlich in ihren geschickten Andeutungen, daß die Sache damit enden würde, daß die Gesellschaft sie augenblicklich meinen Händen übergäbe.

Die nächste mir wohlbekannte Bettlergestalt war eine Verkäuferin gedruckter Balladen. Diese Ergüsse waren so ledern, abscheulich und unverkäuflich in ihrer Art, daß es leicht war, jene Verstellung zu entdecken, welche mit Nachahmung noch anspruchsvollerer Bettelei die in Wirklichkeit auf Almosen ausgehende Ansprache mit dem durchsichtigen Vorwand verschleierte, ein Aequivalent dafür zu bieten. Diese Bettlerin, eine alte Frau in einem verschimmelten Hute, zog ich mir unversehens in einem übeln Augenblick auf den Hals. Bei unserm ersten Zusammentreffen stieß ich, zerstreut die Balladen durchblätternd, auf eine gewisse Leistung, die, wie ich glaube, den Titel »Der Feuerzuave« führte, und da fiel mir die echt patriotische und amerikanische Art auf, in welcher der »Zuave« in verschiedenen Stanzen sich auf »brave, Ave, Conclave und Agave« hatte reimen müssen. Als ich das Ding sofort mit dem Ausdruck der Befriedigung im Gesicht kaufte, zeigte es sich bald, daß dieser Act von meiner armen Freundin falsch gedeutet wurde, die von diesem Augenblicke an nicht aufhörte, mich zu belästigen. Vielleicht hatte sie im ganzen Verlauf ihrer unsichern Existenz noch nie eine Ballade verkauft. Mein einzeln stehender Kauf machte mich offenbar in ihren Augen zum Kunden und hob gewissermaßen ihren Beruf. So pflegte sie später mit fröhlicher, ihrer Sache sicherer Miene und der Frage: »Noch ein paar Lieder heute?« in meine Thür zu gucken, als ob es ein nothwendiger Gegenstand des täglichen Verbrauchs wäre. Ich nahm nie wieder eins von ihren Liedern, aber dieser Umstand erschütterte ihren Glauben an meinen literarischen Geschmack nicht, indem sie meine Enthaltsamkeit in Betreff dieses spannenden geistigen Futters wahrscheinlich Beweggründen der Barmherzigkeit zuschrieb. Sie wurde schließlich von der Wohlthätigkeitsgesellschaft absorbirt, die vermutlich über ihre Effecten passend verfügt hat. Sie war ein altes Weiblein von keltischer Herkunft, geneigt zur Schwermuth, und sah aus, als ob sie die meisten ihrer Balladen gelesen hätte.

Meine nächste Erinnerung nimmt die Gestalt eines sehr saftigen Individuums an, welches drei oder vier Jahre lang vergeblich versucht hatte, zu seinen Verwandten in Illinois zurück zu gelangen, wo ihn mitfühlende Freunde und ein behagliches Armenhaus erwarteten. Nur ein paar Dollars, so theilte er mir mit – der noch nicht beigesteuerte Rest des zum Ankauf eines Zwischendeck-Billets nothwendigen Betrags – standen ihm im Wege. Diese letzten paar Dollars zu bekommen, scheint am schwierigsten gewesen zu sein, und er war herumgeirrt, eine Art umgekehrter Fliegender Holländer, immer in See zu stechen bereit, doch nie vom Ufer wegkommend. Er war ein »Neunundvierziger« und war vor Kurzem in einem Tunnel in die Luft geflogen oder in einen Schacht hinuntergefallen, ich weiß nicht mehr, was von beiden. Dieses traurige Ereigniß nöthigte ihn, große Quantitäten von Whiskey als Salbe zu verbrauchen, was, wie er mir mittheilte, den milden Duft hervorbrachte, den seine Kleider aushauchten. Obwohl er zu derselben Klasse gehörte, durfte man ihn doch nicht mit dem unglücklichen Bergmann verwechseln, der ohne pecuniäre Unterstützung nicht wieder zu seinem Goldfelde zurückkommen konnte, noch mit dem betrübten Italiener, welcher Einem hoffnungslos ein Document in einer fremden Sprache hinreichte, welches sehr begriffen und unleserlich war, und von dem man bei seiner Unkenntniß der Zunge nicht umhin konnte den Verdacht zu hegen, es könnte am Ende ein Preiscourant sein, welches aber, wie man sehen konnte, als eine Entschuldigung für die Bitte um ein Almosen dargeboten wurde. In der That, jedes Mal wo mir ein Fremder ohne zu sprechen ein offnes Document einhändigte, welches Merkmale an sich trug, im fettigen Futter eines Hutes herumgetragen worden zu sein, so hielt ich's stets für das Sicherste, ihm einen Vierteldollar zu geben und ihn ohne weitere Frage zu entlassen. Ich bemerkte stets, daß diese Beglaubigungsschreiben, wenn sie in der Landessprache geschrieben waren, sich durch ihre schöne Kalligraphie und ihre grammatikalische Ungenauigkeit auszeichneten, und daß sie alle von derselben Hand geschrieben zu sein schienen. Vielleicht übt die Armuth eine eigenthümliche und gleichartige Wirkung auf die Handschrift aus.

Ich besinne mich auf einige gelegentlich erscheinende Bettler, mit deren Gesichtern ich weniger vertraut war. Eines Nachmittags machte mir ein höchst außerordentlicher Irländer mit einem blauen Auge, einem verbognen Hute und andern Spuren vergangner Freuden seine Aufwartung und erzählte mir eine jämmerliche Geschichte von Entblößung und Mangel, worauf er mit der Bitte um die übliche Kleinigkeit schloß. Ich erwiderte mit einiger Härte, wenn ich ihm ein Zehncentstück gäbe, so würde er es vertrinken. »Bi Gorra! Da haben Sie Recht, das würde ich,« antwortete er sogleich. Ich war so verblüfft über diese unerwartete Aeußerung von Offenherzigkeit, daß ich ihm augenblicklich die zehn Cents einhändigte. Es scheint, daß die Wahrhaftigkeit den Schiffbruch seiner andern Tugenden überlebt hatte; er betrank sich wirklich und zeigte sich mir, von einem ähnlichen gewissenhaften Pflichtgefühl getrieben, in diesem Zustande ein paar Stunden später, um mich wissen zu lassen, daß meine Gabe nicht unrecht angewendet worden sei.

Trotz des eigenthümlichen Charakters dieser Erinnerungen kann ich nicht umhin, ein gewisses Bedauern über den Verfall der handwerksmäßigen Bettelei zu empfinden. Vielleicht ist's auf einen Rest jenes Jugendaberglaubens zurückzuführen, welcher von allen Bettlern annahm, es könnte ein Prinz oder eine Fee in ihnen stecken, und ihren Beruf mit einer Art geheimnißvoller Ehrfurcht umgab. Vielleicht kommt es von dem Glauben, daß in der altmodischen Almosenspende und thatsächlichen Berührung mit dem Elend ein Etwas liegt, welches für Geber und Empfänger heilsam ist, und daß jedes System, welches einen Dritten zwischen sie einschiebt, nur die Anlegung eines dicken Handschuhs ist, der uns zwar vor Ansteckung bewahrt, aber den freundlichen Druck der Hand absorbirt und ertödtet. Es ist ein sehr angenehmes Ding, sich Befreiung von dem Aerger und der Mühe zu erkaufen, welche die Abwägung der Ansprüche eines von Noth heimgesuchten Nachbars verursacht. Indem ich diese gedruckten Billets umwende, welche die Artigkeit der Wohlthätigkeitsgesellschaft, indem sie mit einer gelinden Streckung der Einbildungskraft vermuthete, daß doch vielleicht einmal ein bei gesunden Sinnen befindlicher Unglücklicher unüberlegt bei einer Zeitungsexpedition Hülfe suchen könnte, diesen meinen redactionellen Händen hat zukommen lassen, kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob, wenn wir in unsrer letzten Stunde auf die unendliche Güte zu ziehen haben, es nothwendig sein wird, ein Billet vorzuzeigen.


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