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Nachwort

Die kindische Unvernunft der Welt erfüllt mich mit Angst um die Zukunft der Menschheit. Von allen Seiten höre ich die idiotische Verteidigung des Weltkrieges trotz seiner fünfzig Millionen vorzeitiger Todesfälle und des darauffolgenden Elends und der Verarmung unserer ganzen Generation. Das lügnerische Schlagwort: »der Krieg als Ende der Kriege«, hat nicht einmal den Rüstungen oder Munitionsfabriken ein Ende bereitet. Die alten Lügen sind ebenso populär wie immer, und man nimmt sie fast ohne Widerspruch hin.

Das Wissen gibt uns jeden Tag eine neue Macht in die Hand, und mit dem Verdämmern der Religion hat sich unsere Moral positiv vermindert, ja, man kann fast sagen, daß sie aufgehoben wurde. Die Völker werden von Tag zu Tag stärker und selbstsüchtiger. Der Kampf zwischen den Nationen um die Beherrschung der Welt hatte seinen ersten Akt im Weltkriege. Es sieht so aus, als ob die Vereinigten Staaten und die englische Konföderation als die mächtigsten Gebilde aus ihm auftauchen würden, mit Rußland als nächstes im Rennen. Aber wenn der kämpferische Geist im einzelnen nicht zurückgedrängt wird, können noch Vernichtungskriege vorkommen, in der die jetzigen Menschenrassen ausgetilgt werden. Es ist unsere Aufgabe, so weit es uns gelingt, eine neue Religion oder mindestens eine neue Moral zu schaffen. Und die neuen Moralgesetze müssen Gesetze der Gesundheit und Gesetze der Vernunft sein. Es wurde uns soviel über unsere Pflicht an unserm Nächsten erzählt. Aber zuerst müßten wir die Pflicht gegen uns selbst lernen und müssen unsere Körper mindestens so sorgfältig studieren wie unsern Geist.

Das englische und amerikanische Volk hat eine ungeheure, überwiegende Macht, eine Macht des Reichtums, eine Macht der Zahl, eine Macht einer fast unangreifbaren Lage. Aber wer kann sich dem verschließen, daß seine Kraft in gar keinem Verhältnis zu seinem Geiste steht. Die beiden Völker stehen an der Spitze der industriellen Welt. Aber sie haben keine entsprechende Lage in der Welt der Wissenschaft, der Kunst oder der Literatur. Wir müssen den Deutschen nacheifern und die Wissenschaft unterstützen. Wir müssen den Franzosen nacheifern und die Künste pflegen und nach ihrem Beispiel die Literatur von den albernen Verboten eines abgetragenen Puritanismus befreien. Das ist die reifste Ansicht, zu der ich mich durchgerungen habe. Und infolgedessen habe ich es unternommen, auf diesem Felde selbst ein Beispiel zu setzen. Stellt man sich denn wirklich vor, daß man einen größeren Balzac hervorbringen kann, während man die Konventionen unserer Sonntagsschulen respektiert?

Es wird heute den Malern und Bildhauern allgemein die Freiheit zugestanden, die nackte menschliche Gestalt nachzubilden. Aber in dem Augenblick, in dem ein Schriftsteller eine ähnliche Freiheit für sich in Anspruch nimmt, wird er boykottiert und verachtet, seine Bücher werden beschlagnahmt und vernichtet, und er kann noch von Glück sprechen, wenn er der Strafe und dem Gefängnis entgeht. Und doch sind die üblen Ergebnisse dieser Vogelstraußpolitik offensichtlich genug und allgemein bekannt. In diesem Bande, in dem ich die Lebensgeschichte einiger berühmter Zeitgenossen erzählt habe, schilderte ich, wie die drei größten und berühmtesten in der Blütezeit ihrer Jahre an der Syphilis starben, und zwei davon waren Engländer. Im Weltkriege kam auf vier amerikanische Offiziere je ein Lueskranker. Die Verbreitung der Krankheit wird durch Verheimlichung und Prüderie gefördert. Voltaire wußte es: »Wenn der Anstand aus den Sitten verschwindet, flüchtet er in die Sprache.«

Keiner braucht unsere Bücher zu lesen, wenn es ihm nicht paßt. Die Konventikel und Kirchen werden immer imstande sein, uns ihr Mißtrauen auszusprechen; aber warum sollte man ihnen gestatten, ihre Vorurteile zum Gesetz zu erheben, und die andern strafen, die sich ihrer Blindheit nicht erfreuen? Man lasse Miltons Bitte gelten: »Wahrheit solle immer mit Lüge kämpfen.«

In dieser Hinsicht stehen der Zeitgeist und die höchsten Autoritäten auf meiner Seite. In Frankreich wurde Flaubert nach der Veröffentlichung von »Madame Bovary« gerichtlich verfolgt, eine Generation später konnte Zolas »Nana« unbehelligt erscheinen, und die dritte Generation nahm die »Garçonne« von Victor Marguerite ohne weiteres auf.

In England gibt es auch einen Fortschritt, aber im Krebsgang. Vor dreißig Jahren konnte Burton seine »Arabischen Nächte« privat veröffentlichen, heute würde er für das Verbrechen im Gefängnis sitzen; und doch traten alle größten Schriftsteller für die Freiheit ein. Ich will dem Unvoreingenommenen einige der angesehensten Autoritäten zitieren.

Eines Abends las Goethe zum Nachtisch Eckermann einige Szenen von »Hanswursts Hochzeit« vor, die in der Frühzeit des Dichters geschrieben oder wenigstens begonnen waren. Eckermann vergleicht sie mit »Faust« in ihrer »gewaltigen, produktiven Kraft« und Freiheit, aber er fügt zugleich hinzu, daß er »über alle Grenzen hinausgehe, daß selbst die Fragmente sich nicht mitteilen lassen«. Goethe selbst gibt zu, daß er es nicht in Deutschland veröffentlichen könne. »Auf einem breiten Terrain, wie Paris, mag dergleichen sich herumtummeln, welches in Frankfurt oder Weimar gleichfalls nicht zu denken wäre.«

Dies zeigt uns klar, wie Goethe über die Freiheit der Sprache urteilte. Denn die Grenzen in Deutschland sind und waren viel weiter als in England oder Amerika. Ich möchte noch einen anderen und ebenso großen Dichter zitieren. Hier ist eine kleine Stelle aus den Ausführungen Montaignes über dieses Thema, und Montaigne war, wie Sainte Beuve erklärt, der klügste aller Franzosen.

»Non pudeat dicere quod non pudat sentire – wir dürfen uns nicht schämen auszusprechen, was wir uns nicht schämen zu denken ... Ich für mein Teil will es wagen auszusprechen, was ich zu denken wage. Ich mag keine Gedanken, die sich nicht veröffentlichen lassen. Die schlimmsten meiner Taten oder Zustände scheinen mir nicht so häßlich, wie ich es häßlich und gemein finde, nicht den Mut zu haben, sie einzugestehen ...« Und an anderer Stelle: »Sowohl wir wie sie (Männer und Frauen) sind tausend schädlicherer und unnatürlicherer Korruptionen fähig als Begierde und Sinnlichkeit. Aber wir ordnen Laster und wägen Sünden nicht nach ihrer Natur, sondern nach unserem Interesse ...« Und in demselben Kapitel: »Welch ein Ungeheuer ist der, dem seine Freunde mißfallen ...« Und am Schluß: »Einige Menschen, die ich kenne, werden über die Freiheit meiner Schriften höhnen, und zwar Menschen, die mehr Grund haben, über ihre eigene Gedankenschlüpfrigkeit zu murren.«

Und nicht nur die größten deutschen und französischen Schriftsteller sind auf meiner Seite, sondern auch die besten Amerikaner. Ich habe mich schon mehr als einmal auf Whitman berufen. Trotz der seltsamen Gebundenheit seiner Sprache betrachte ich ihn als einen der größten Amerikaner. Man stellt hartnäckig Poe an seine Seite, und nun will ich die so sehr geschätzte Meinung von Poe anführen. Hier sind seine Worte:

»Wenn irgendein ehrgeiziger Mensch es unternehmen würde, mit einem Schlage die universelle Welt des menschlichen Gedankens, der menschlichen Gefühle und der menschlichen Meinungen zu revolutionieren, böte sich ihm die Gelegenheit – der Weg zum unsterblichen Ruhm breitete sich vor ihm offen und unbehindert aus. Alles, was er zu tun hätte, wäre nur, ein ganz kleines Buch zu schreiben und zu veröffentlichen. Es müßte einen höchst einfachen Titel haben – nur einige ganz ungeschminkte Worte: Mein nacktes Herz. Aber dieses kleine Buch müßte seinem Titel gerecht werden.

»Ist es nun nicht seltsam, daß bei dem wütenden Durst nach Ruhm, der so manche Menschen auszeichnet – so manche, die sich nicht einen Deut darum kümmern, was man nach ihrem Tode von ihnen denken wird –, sich bis jetzt noch keiner gefunden hat, der genügend Mut gehabt hätte, dieses kleine Buch zu schreiben? Zu schreiben, sage ich. Es gibt zehntausend Männer, die, sobald das Buch einmal geschrieben wäre, den Gedanken lächerlich fänden, daß eine Veröffentlichung bei Lebzeiten sie stören sollte, und denen unvorstellbar wäre, daß sie gegen die Veröffentlichung nach ihrem Tode etwas einzuwenden haben könnten. Aber es zu schreiben – das ist das Schwierige! Kein Mann wagt es. Kein Mann könnte es schreiben, auch wenn er es wagen würde. Das Papier würde unter jedem Zug der feurigen Feder knistern und flammen.«

Ich frage mich, ob sogar Poe sich ganz klar war, wie schwer es ist, die Wahrheit über sich selbst zu sagen. Es ist nicht bloß eine Frage der Angst, wie er zu denken scheint. Das Papier könnte meinetwegen knistern, und ich würde mich nicht daran kehren. Deutschamerikanische Mittelmäßigkeiten könnten nach Belieben über meinen moralischen und literarischen Selbstmord schwatzen und die amerikanischen Behörden ein öffentliches Autodafé meiner Bücher veranstalten und dabei so viel Exemplare aus den Flammen retten, wie notwendig ist, um ihre Taschen zu füllen oder ihren Geschmack im geheimen zu befriedigen, es würde mich nicht stören. Aber ist mein Versuch nicht vergeblich? Das ist die Frage. Ist es möglich, in Worten die ganze Seele eines Menschen und dieses magisch unverständliche Geheimnis einer Welt zu spiegeln?

Ich dachte mir, daß, wenn ich der Wahrheit folgend den intensiven Geschlechtstrieb meiner Jugend einfach schildern und zu gleicher Zeit zeigen würde, wie leidenschaftlich eifrig ich immer darauf bedacht war, etwas zu lernen und mich um jeden Preis zu entwickeln, wenigstens die Pforte des Tempels sich lockend und bedeutungsvoll gestalten würde.

Ich habe jedoch eingesehen, daß die Wahrheit eine Todfeindin der Schönheit ist. Ich erinnere mich, daß ich einmal die Entfernung zwischen den Säulen des Parthenon und der Akropolis maß und fand, daß sie immer verschieden war. Es sah aus, als ob die Säulen von gleicher Größe wären, in gleicher Entfernung voneinander gestellt, aber es war alles eine Täuschung, und die rhythmische Schönheit des Säulenganges läßt sich sicher auf die Ungenauigkeit zurückführen.

Hatte Goethe aus diesem Grunde »Wahrheit und Dichtung« geschrieben? Wußte er, daß er die nackte Wahrheit nicht schreiben konnte, und hat deswegen die Dichtung aufgenommen?

Soll ich seinem Beispiel folgen?

Seine Autobiographie ist farblos, ja sogar langweilig. Und wie faszinierend wäre sie gewesen, wenn er uns die Wahrheit erzählt hätte. Wie würden wir Friederike, Mignon, Frau von Stein und andere leidenschaftliche Frauen bis in die verborgensten Seelenfalten durchschaut haben, selbst die gute Christiane hätte ein neues Licht auf alles, was in ihm prosaisch und deutsch-sentimental war, geworfen. Wir würden Goethe unendlich viel besser gekannt haben, und es war schon der Mühe wert; denn wie er selbst sagt:

»Willst du ins Unendliche schreiten,
Geh nur im Endlichen nach allen Seiten.«

Sobald ich das gelesen hatte, wußte ich, daß es mein Lebensmotto ist. Tatsache ist, daß wir Menschen nicht mit dem Absoluten operieren können, die Wahrheit ist nicht für uns. Wir sind nicht einmal imstande, das Licht zu sehen. Aber wir sollten uns bemühen, immer näher und näher an die Wahrheit zu kommen.

Man hätte eigentlich denken können, daß der Weltkrieg uns die Gefahr unseres gewöhnlichen aggressiven Ideals klar genug gezeigt hätte. Und doch war der Weltkrieg mit seinen Millionen junger, geopferter Leben nicht schlimmer als dieses Hasten, Bellen und Zuschnappen der Dachshunde, Pudel und Bulldoggen, die jetzt Europa zu einer Hölle auf Erden machen, während Amerika, das Amerika Whitmans und Lincolns, abseits steht, seine Taschen füllt und zusieht, wie die Ungerechtigkeit ihren Lauf nimmt.

Welche Hoffnung gibt es da für die Menschheit, wenn nicht in Reue und Umkehr, in Wahrheit und in Liebe? Wir müssen uns ein neues Lebensideal aufrichten und einen neuen Glauben schaffen. Die arroganten, kampflustigen, prüden Ideale der Vergangenheit müssen endgültig abgetan werden.

Und wenn mir alle Wege der Liebe schön erscheinen, warum sollte ich es nicht gestehen? Alle Frauen und Mädchen, die ich traf und liebte, haben mich etwas gelehrt. Sie waren für mich der Zauber und das Wunder, das Geheimnis und die Romantik des Lebens. Ich kenne die Welt vom Kap bis Kairo, von Wladikaukas bis Wladiwostok, aber eine Frau hat mich mehr gelehrt, als zwei Kontinente. Es gibt in den Tiefen eines Frauengeistes mehr zu lernen und zu lieben als in allen Ozeanen. Und ihr Körper ist – Gott sei Dank – ebenso faszinierend wie ihre Seele. Die Lehren, die ich ihnen verdanke, waren die der Güte und Großzügigkeit, der Liebe und des Mitgefühls, der blumenweichen Fingerspitzen und haftenden Lippen; und der Duft ihres Fleisches ist süßer als alle Wohlgerüche Arabiens, und sie sind verschwenderisch in ihrem Geben wie Königinnen. Alles, was liebenswert, süß und gut im Leben war, alles, was adelt und ertüchtigt, habe ich von Frauen gelernt. Warum sollte ich nicht ihr Lob singen oder mindestens meine Dankbarkeit zeigen, indem ich vom Rausche ihrer Liebe spreche, die mein Leben zu einem einzigen romantischen Abenteuer gesteigert hat? Die Seele des Lebens war für mich immer die Liebe für Frauen und die Bewunderung für große Männer.

Jahre hindurch wirkten nur zwei Menschen als Führer im Labyrinth des Lebens für mich: Jesus und Shakespeare, Zwillingsgeister von zwingendster Kraft. Dann in meiner Reifezeit andere wie Goethe und Heine, Leopardi, Keats und Blake, Nietzsche, Wagner, Cervantes, Cézanne, Monet, Rodin und eine Schar meiner Zeitgenossen, die mich lehrten, daß sie ebenfalls mein Streben teilten, und die auf ihre besondere Erfüllung stolz waren: diese Bewunderung der großen Männer und hauptsächlich der großen Künstler ist die andere Seite meiner Religion.

Ich habe im Leben viele Freunde gewonnen und eine Güte mindestens der meinen gleich gefunden. Sonnige Freudentage und Nächte, vom Geheimnis mondbeschienen, und keinen Feind mit Ausnahme von Unkenntnis, keinen Gegner mit Ausnahme von Korsetts, Verboten und Konventionen, keine Pein mit Ausnahme von Heuchelei und Gedankenlosigkeit, keinen Gott mit Ausnahme meiner eigenen Liebe des Höchsten, keinen Teufel mit Ausnahme meiner eigenen erschütternden Begrenzungen an Mitleid und Gefühl.

Das Leben in meinen Lehrjahren war für mich leider so interessant, daß ich mir nur wenige Notizen machte und mich jetzt selbst bei wichtigen Tatsachen auf mein Gedächtnis verlassen muß.

Es klingt wie ein Paradoxon und ist doch eine sehr nützliche Wahrheit, daß ein ausgezeichnetes Gedächtnis die Quelle vieler Irrtümer ist. Als ich einmal mit meinem Freunde Professor Churton Collins sprach, fand ich, daß seine außerordentliche Exaktheit sich auf sein schlechtes Gedächtnis zurückführen ließ. Er konnte sich weder ein Datum noch eine Tatsache noch eine Gedichtzeile merken, und war daher gezwungen, alle seine Darlegungen nachzuprüfen. Ich verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis, das jedoch, wie ich schon sagte, hauptsächlich verbal war. Aber schon in meiner Jugend merkte ich, daß sogar mein Gedächtnis für Poesie und Prosa unter der Einwirkung der Zeit litt. Hie und da änderte mein Gedächtnis dies oder jenes Wort in einem Gedicht, wobei manchmal das Original verbessert wurde, jedoch noch viel öfter der Wert des Wortes dem Klange zuliebe geopfert. Eine meiner natürlichen Gaben, eine sehr starke und klingende Baßstimme, schadete meinem Gedächtnis.

Als ich in meine Reifezeit kam, fand ich, daß mein Gedächtnis auf andere Weise gelitten hatte. Es begann, die Ereignisse dramatisch zu färben. So zum Beispiel, wenn mir jemand eine Geschichte erzählte, lag sie jahrelang schlafend in meinem Gedächtnis. Plötzlich rief mir irgendeine auffallende Tatsache die Geschichte in die Erinnerung zurück, und ich erzählte sie, als ob ich dabei gewesen wäre, und färbte sie mit dramatischen Effekten weit über die erste Erzählung hinaus ...

Ich bin kein verläßlicher Zeuge mehr und doch, schwöre ich, ehrlicher als irgendein Rousseau oder ein Casanova. Hamlet erklärt, er könne sich der größten Fehler bezichtigen, aber er vermeidet sorgfältig, auch nur die wilde Sinnlichkeit und die irrsinnige Eifersucht anzudeuten, die er über seine unglückliche Mutter ergießt, in der ihm sein lüstern verwirrter Blick seine treulose Geliebte malt. Ich beabsichtige, mich der schlimmsten Fehler zu bezichtigen, denn ich beginne zu merken, daß mein Geist so parteiisch ist, daß, wenn ich nicht alle Schatten einzeichne, mein selbstgefärbtes Bildnis wenig Menschenähnlichkeit besitzen wird. Wenn man wahrheitsgemäß sein Leben beschreiben will, müßte man ein vollkommenes Tagebuch führen und nicht nur die Tatsachen aufschreiben, sondern auch Motive, Ängste, Hoffnungen und Vorstellungen – Tag für Tag mit ziemlicher Ausführlichkeit. Es ist für mich zu spät, diese Arbeit zu beginnen. Aber von heute an (wir haben den 22. November des Jahres 1923) will ich mir genaue Aufzeichnungen machen, damit ich diesen letzten Abschnitt des Rennens bis in alle Einzelheiten genau schildern kann. Und doch vermag kein Menschengeist die Wahrheit vollkommen zu spiegeln.

Aber ob ich die Wahrheit sagen kann oder nicht, ändert nichts an der Tatsache, daß ich mich so nah an die Wahrheit gehalten habe, wie es mir nur möglich ist.

In der ersten Zeit meines Lebens habe ich meinen Willen hie und da gestärkt, um meinen Körper dem Geiste untertan zu machen. In dem zweiten Zeitraum habe ich ungeheure Vorteile aus dieser Selbstzucht eingeheimst.

Ich habe auch nicht davon geträumt, daß ich einst auf meine alten Tage das Loblied der Keuschheit singen werde. Aber jetzt erkenne ich klar genug, daß die Keuschheit die Mutter vieler Tugenden ist. Ich fand zwar, daß die Keuschheit nicht zu lange fortgesetzt werden darf, sonst vergiftet sie das Blut und trübt den gesunden Strom des Lebens; aber Selbstzucht oder Keuschheit muß von allen geübt werden, die die Erfüllung ihrer höchsten Möglichkeiten anstreben und ein spätes Lebensalter erreichen wollen.

Neben den Vorteilen der Keuschheit lernte ich auch im Laufe meines Lebens, daß die größte Freudenekstase durch das Glück, das man andern vermittelt, erreicht wird.

Schließlich entscheidet man über den Pudding beim Essen. Wenn irgendeiner eine so wahre Wiedergabe seiner Zeit zu schreiben vermag oder so tiefe und intime Porträts großer Männer zu malen, wie ich es tat, ohne die gleiche Freiheit für sich in Anspruch zu nehmen, mag er mich verdammen. Wenn keiner es getan hat oder tun kann, dann bin ich gerechtfertigt, finde einmal die Anerkennung und mein Beispiel Nachahmung.

Nachbemerkung des Verlags

Unsere Leser empfangen mit diesem Buch eine der interessantesten Autobiographien, die wohl überhaupt jemals geschrieben worden sind. Wir wären jedoch nicht in der Lage gewesen, das Werk ungekürzt herauszugeben, weil die Gesetze unseres Landes uns dies verboten hätten, wie denn auch die englische Originalausgabe nur im Selbstverlage des Verfassers erscheinen konnte. Für Harris, eine naturhaft hinreißende Persönlichkeit, war es bei der Niederschrift seiner Autobiographie ein Bedürfnis, die Wege und Umwege seines erotischen Trieblebens hemmungslos ausführlich und deutlich darzustellen; er verfocht damit das Recht auf eine unbefangene und wahrhaftige Äußerung seiner ungebrochenen Natur. Dieses Verfahren ist, von dem elementarisch gesunden und unsentimentalischen Charakter des Verfassers aus gesehen, unanfechtbar. Von der Öffentlichkeit aus gesehen, ändert sich der Eindruck der explosiven Stellen: sie können mißverstanden werden, sie wirken tendenziös und herausfordernd.

Wir hätten indessen auf das ganze Buch verzichtet, wenn die Streichungen es menschlich eingeengt und schriftstellerisch geschädigt hätten. Das ist zweifellos nicht der Fall. Weder die Fülle und Farbigkeit der Erlebnisse, noch der volle Ausdruck einer merkwürdigen, vehementen und geschlossenen Persönlichkeit ist gelähmt worden, und der prachtvolle, rasante Vorstoß des in Harris verkörperten modernen Geistes, der sich freimütig, arbeitsfreudig und praktisch die ganze Welt erobert, gelangt jetzt erst recht zu gesammelter Wirkung. Vielleicht wird das Buch in seiner deutschen Form die Möglichkeit eröffnen, nunmehr auch in seiner Ursprache der Öffentlichkeit zugänglich zu werden.

Die Hauptrichtlinien seiner Darstellung zeichnet Harris selbst in seinem Vor- und Nachwort auf.

 

Gedruckt bei Poeschel & Trepte in Leipzig

 


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