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Kapitel II.
Wie ich Shakespeare und die deutschen Studentensitten kennenlernte

Warum ich nach Heidelberg und nicht nach Berlin zum Studieren ging, kann ich kaum sagen. Wahrscheinlich umspielte ein Hauch von Romantik den Namen und zog mich an. Ich besaß über tausendfünfhundert Pfund in der Bank und dachte, ich könnte damit fünf Jahre leben, um dann nach den Staaten zurückzukehren und meine Lebensarbeit mit mindestens tausend Pfund in der Tasche zu beginnen. Aber würde ich denn nach Amerika zurückkehren? Ich mußte mir selbst gestehen, daß das Malariafieber in den Staaten mich schreckte. Außerdem gefiel mir England besser, und so verschob ich jeden Entschluß.

Heidelberg faszinierte mich. Ich liebte seine Schönheit, die großen bewaldeten Hügel, seinen Fluß, sein zerstörtes Schloß, seine schlichte, sachliche Universität, sein Café Leer, seine Buchhandlungen – alles in dieser Stadt. Ich wohnte eine Woche lang im »Hôtel de l'Europe« und fand es sehr teuer. Aber die Rheinweine waren herrlich und nicht zu kostspielig. Die zehnjährigen Markobrunner und Liebfrauenmilch lehrten mich, welche Blume und welchen Duft Weine besitzen können.

Eines Tages ging ich an den Fluß, um mir ein Ruderboot zu mieten. Ein stämmiger junger Bursche zahlte gerade für seinen Kahn. »Kann ich ihn haben?« fragte ich zögernd und wies auf sein Fahrzeug hin. – »Jawohl,« antwortete er mir laut und jovial, »aber Sie sind wohl Engländer?« fügte er auf Englisch hinzu. »Eher Amerikaner«, erwiderte ich. Und mein Bekannter stellte sich als ein junger Amerikaner namens Treadwell vor, der mit seinem jüngeren Bruder in einer deutschen Schule aufgewachsen war, Chemie studierte und bereits Assistent des berühmten Professors Bunsen war, des Mannes, der als erster die chemische Komposition der Sterne entdeckte und das Spektroskop erfand. Hier boten sich mir Wunder. Ich war Feuer und Flamme, mehr zu lernen und Bunsen zu sprechen. War es denn möglich? »Sicherlich!« Ich schauerte vor Erwartung.

Dieser ältere Treadwell war ein präsentabler Kerl, vielleicht fünf Fuß neun groß und sehr stämmig, glattrasiert mit starken Zügen und einem wachen Ausdruck. Aber ich entdeckte bald, daß er trotz seiner Kenntnis der qualitativen und quantitativen Analyse keineswegs intellektuell in meinem Sinne des Wortes war. Sein jüngerer Bruder, der gerade die Universitätsstudien begonnen hatte und Philologe war, gefiel mir besser. Er war ungefähr ebenso mittelgroß wie ich und kannte bereits Latein, Griechisch, Deutsch und Französisch. Er war auch nachdenklich und hatte nach innen gekehrte, tiefe, graue Augen. »Ein feiner Kopf,« dachte ich, »obwohl noch unreif.« Und wir freundeten uns bald an. Er empfahl mir die Pension, in der er und sein Bruder lebten, die mich weniger als ein Pfund in der Woche kosten sollte. Das Essen war ausgezeichnet, weil die Pension von einer dicken mütterlichen Engländerin, der Witwe eines deutschen Professors, gehalten wurde, die eine der klügsten und gütigsten Frauen des Typus maîtresse femme war.

Dort traf ich auch einen gewissen Onions, der sich in Oxford manche Ehren geholt hatte und sich bald mit mir anfreundete, denn auch er liebte die Literatur wie ich und schien mir über alle Maßen klug. Er schrieb herrliche lateinische und griechische Gedichte, und in drei Monaten hatte er das Deutsch beherrscht, obwohl er es nicht sehr gut sprach. Onions gestand mir, daß er vier Stunden jeden Morgen Deutsch studierte, und so tat ich dasselbe und gab noch drei oder vier Stunden am Nachmittage dazu. Eines Tages erstaunte und erfreute er mich, indem er mir sagte, ich müßte ein Sprachgenie besitzen, denn mein Deutsch sei schon besser als das seinige. Jedenfalls sprach ich es fließender, denn ich sprach es, so oft ich Gelegenheit dazu hatte, während er sich meistens schweigend verhielt.

Der junge Treadwell führte mich in die Universität ein. Ich belegte dieselben Vorlesungen wie er und arbeitete Tag und Nacht ohne Rücksicht auf Schlaf oder Erholung. In drei Monaten sprach ich Deutsch fließend und korrekt und hatte bereits Lessing, Schiller, Heine und die üblichen Romane, hauptsächlich »Soll und Haben«, gelesen.

Aber ich hatte nicht viel durch die Universitätsvorlesungen gelernt. Ich hatte eine Vorlesung über das Griechische belegt, aber nach zwei Monaten war der Professor noch immer im Sanskrit verwickelt, und da ich kein Wort vom Sanskrit oder seiner Bedeutung wußte, fand ich es schwierig, ihm zu folgen. Ich wurde immerzu an Heines Erfahrung erinnert. Er hat, wie er erzählt, Vorlesungen über Weltgeschichte gehört, aber nach drei Jahren fleißigen Studiums mußte er sie aufgeben, weil der Professor noch nicht die Zeit von Sesostris erreicht hatte.

Kuno Fischer war zu jener Zeit vielleicht der populärste Professor in Heidelberg. Er hatte eine Reihe von Vorlesungen über Shakespeare und Goethe angekündigt, und die Aula war nicht nur von Studenten, sondern auch von Damen und Herren aus der Stadt überfüllt. Fischer hatte ein Gesicht wie eine Bulldogge, und seine Nase, die in einem Duell zerhauen wurde, steigerte die Ähnlichkeit noch. Er begann eine Vorlesung damit, daß er Shakespeare und Goethe die Zwillingsblüten der germanischen Rasse nannte. Ich war noch immer Engländer genug, um diesen Satz als eine Blasphemie aufzufassen, und so scharrte ich laut zum Zeichen meines Mißfallens. Fischer hielt verblüfft inne. Es war, wie er mir später sagte, das erstemal, daß man ihn überhaupt unterbrochen hatte; er beherrschte sich mühsam und sagte: »Wenn der Herr, der so offensichtlich mit mir nicht übereinstimmt, abwarten möchte, bis ich geendet habe, werde ich ihn bitten, mir den Grund seiner Mißbilligung zu erklären.« Die Zuhörerschaft klatschte Beifall, und die Umgebenden sahen mich erstaunt und erbost an.

Fischer fuhr fort und sagte: »Sogar der Name Shakespeare zeugt von seinem teutonischen Ursprung, er war ebenso deutsch wie Goethe.«

Ich lächelte vor mich hin, konnte jedoch nicht leugnen, daß der Rest der Vorlesung interessant war, trotzdem der Professor sich kaum bemühte, einen der beiden Dichter lebendig zu machen. Am Schluß setzte er ihre Ausbildung gegeneinander und beglückwünschte seine Zuhörer zu der Tatsache, daß Goethe viel größere Erziehungsmöglichkeiten hatte und sie so glänzend ausnützen konnte. Die Zuhörer klatschten begeistert, als er sich hinsetzte. Aber Fischer erhob sich sofort, bat um Schweigen und sagte: »Wenn der Kritiker, der beim Anfang meiner Vorlesung sein Mißfallen so offen äußerte, jetzt mit der Erklärung beginnen will, sind wir bereit, ihm zuzuhören.«

Ich stand auf und stammelte ein wenig wie in Verlegenheit, während ich die Zuhörerschaft und den Professor bat, mein fehlerhaftes Deutsch zu entschuldigen. »Aber als walisischer Kelte«, sagte ich, »fühle ich, daß der Professor mit seiner ganzen Beredsamkeit die Teutonen und hauptsächlich ihre überlegene Erziehung überschätzte. Überlegen! Shakespeare hatte uns das Drama der ersten Liebe in »Romeo und Julia« gegeben, das Drama der reichen Leidenschaft in »Antonius und Kleopatra«, der Eifersucht im »Othello«, der intellektuellen Schwäche in »Hamlet«, des Wahnsinns im »Lear«, und dagegen hat uns Goethe nur allein den Faust als Beweis seiner überlegenen Vorteile hinterlassen.

Es wurde uns gesagt, daß »Shake« und »speare« teutonisch sind. Nun ist das Englische eine Mischung von Niederdeutschem und Französischem, aber seltsamerweise sind alle komplizierten Worte französischen und nur die armen, einsilbigen teutonischen Ursprungs. So ist zum Beispiel »mutton« französisch, während »sheep« vom deutschen Schaf abstammt. Ich hatte mir immer vorgestellt,« fügte ich nach einer Pause hinzu, »daß Shakespeare aus dem Französischen stammt und eine offensichtliche Verstümmelung des Namens Jacques Pierre ist.« – Hier begannen die Zuhörer zu lachen, und Fischer selbst ging auf den Witz ein und klatschte Beifall. Da ich meine Wirkung erreicht hatte, setzte ich mich sofort hin.

Als ich den Saal verließ, kam Fischers Diener auf mich zu und sagte mir, der Professor wollte mich auf seinem Zimmer sehen. Ich folgte ihm sofort und Fischer kam mir lachend entgegen. »Ein genialer Streich,« sagte er, »und nicht schlimmer als viele unserer etymologischen Ableitungen.« Und er fügte ernst hinzu: »Sie haben Shakespeare auf eine herrliche Weise verteidigt, obwohl ich der Ansicht bin, daß man Goethe mehr als nur den ›Faust‹ zugute halten sollte.«

Dies war der Anfang eines Gespräches, das mein ganzes Leben ändern sollte. Als ich Fischer von den mir unverständlichen Vorlesungen über die griechischen Verben und von ähnlichen Schwierigkeiten erzählte, fragte er mich nach meinen Studien aus und sagte mir, daß die meisten amerikanischen Studenten in Deutschland keine genügende Vorbildung in Latein und Griechisch besitzen, um die Vorteile auszunützen, die ihnen eine deutsche Universität bietet. Schließlich riet er mir höchst eindringlich, meinen Schnurrbart abzurasieren und für ein Jahr ins Gymnasium zu gehen – ich mit zwanzig Jahren in die Schule! Meine ganze Natur revoltierte dagegen – Fischer war jedoch eindringlich und überzeugend. Er lud mich in sein Haus ein, stellte mich einem Professor Ihne vor, der Professor bei den kaiserlichen Prinzen oder Ähnliches gewesen war und der ausgezeichnet Englisch sprach. Er stimmte mit Fischer überein, der dann mit folgender Bemerkung den Ausschlag gab: »Harris hat einen hellen Kopf, seine Rede hat es uns heute bewiesen, und Sie sind sicher derselben Meinung, daß er, je begabter er ist, desto notwendiger eine gründliche Unterlage braucht.« Schließlich ging ich auf den Vorschlag ein, verließ meine Pension, quartierte mich bei einer Familie ein, besuchte regelmäßig das Gymnasium und vergrub mich für acht oder zehn Monate in Latein und Griechisch und arbeitete daran zwölf Stunden täglich.

In vier oder fünf Monaten gehörte ich zu den Besten des Gymnasiums, und nur ein Junge war mir überlegen. Wenn wir einen lateinischen Aufsatz bekamen, pflegte er oben am Rande Livius, Tacitus oder Caesar zu schreiben und gebrauchte keine Wendung und kein Wort, die er bei dem besondern Autor, den er imitierte, nicht hätte nachweisen können. Ich freundete mich mit Karl Schurz an. Ich war entschlossen, herauszufinden, wie er zu einer solchen Beherrschung der Sprache gekommen war. Er hatte mit Caesar begonnen, und nachdem er eine Seite gelesen hatte, versuchte er sie wieder in Caesars Sprache zu übertragen. Er fand heraus, daß sein Latein schlecht war, ein bloßes Mischmasch, und so begann er, die besonderen Phrasen bei Caesar zu lernen. Er entdeckte allmählich, daß jeder Schriftsteller seine besondere Tonart und sogar seinen eigenen Wortschatz habe.

Diese Erklärung gab mir einen Schlüssel für manches in die Hand. Ich ging nach Hause und nahm meinen Shakespeare vor. Ich hatte bereits Ähnlichkeiten zwischen Hamlet und Macbeth entdeckt, jetzt begann ich, beide Dramen zu lesen und lernte dabei die poetischen Stellen auswendig. Bald fiel mir der Akzent von Shakespeares Stimme auf. Ich begann zu unterscheiden, wann er aus dem Herzen, und wann bloß mit den Lippen sprach. Ich bekam flüchtige Einblicke in seine Persönlichkeit. Und eines Tages setzte ich mich hin, um Hamlet aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Als ich zu der Szene kam, in der Hamlet seiner schuldigen Mutter Vorwürfe macht, entdeckte ich den Shakespeare, den ich schon dunkel geahnt hatte. Als ich mir die Szene vorstellte, sah ich sofort, wie unmöglich es war, sie zu schreiben. Kein Mann hätte seiner Mutter auf diese Weise Vorwürfe machen können. Hamlet gebraucht die Sprache der geschlechtlichen Eifersucht. Die Untreue einer Mutter hätte einen nie so rasend machen können. Man hätte weder ihre Versuchungen noch das ihr vom Vater angetane Unrecht beurteilen können. Seine Güte müßte ihre Sünde umso unerklärlicher erscheinen lassen. Und Hamlets Mutter macht nicht einmal einen Versuch, sich zu rechtfertigen oder zu erklären. Dieser Lichtstrahl riß vor mir seine ganze Seele auf. Shakespeare malte seine eigene Eifersucht und tobte nicht gegen die Sünde der Mutter, sondern gegen den Verrat seiner Geliebten. Es war ganz klar, der ganze Ausbruch war schwül vor Erotik. Wer war es, der Shakespeare betrogen hatte und in ihm die irrsinnige Eifersucht erweckte, wer? Das Rätsel begann mich zu beschäftigen.

In den langen Ferien, die ich in Flüelen am Vierwaldstädter See verbrachte, las ich Shakespeare immer wieder. Es war sein Richard II., der ihn mir unmißverständlich enthüllte. Richard war so offensichtlich ein jüngerer, noch haltloserer Hamlet, ebenso wie Posthumus und Prospero ältere, gefestigte Hamlets waren. Ich war über die Entdeckung beglückt. Warum hatte keiner die Wahrheit früher erkannt? Ich las ihn immer von neuem, von überall strömten mir Seitenlichter zu, bis sein ganzer seelischer Habitus mir vertraut wurde.

Lange bevor Tylers Buch erschienen war, der Mary Fitton, die Hofdame der Königin Elisabeth, als Shakespeares Geliebte bezeichnete, wußte ich, daß er im Jahre 1596 sich in eine dunkle, blaßhäutige Zigeunerin verliebt hatte, die ihn schlecht behandelte und ebenso witzig wie kokett war. Warum würde er sonst Rosaline, die gar nicht auf der Bühne auftaucht, so genau in »Romeo und Julia« beschrieben haben, während er kein Wort über die äußere Erscheinung der Heldin Julia verliert?

In demselben Jahre schrieb er auch die »Verlorene Liebesmüh« um, die um Weihnachten bei Hofe aufgeführt werden sollte, und die Heldin war wieder Rosaline, und jede Person des Stückes beschreibt ihr Äußeres, während Shakespeare selbst als Biron gegen seine Liebste tobt:

»Ein bläßlich Ding mit samtnen Augenbrauen,
Mit zwei Pechkugeln im Gesicht statt Augen.«

Ich sah sofort, daß es die dunkle Dame der Sonette war – wahrscheinlich irgendeine Dame von Hofe, wie ich zu sagen pflegte, die auf Shakespeare aus den Höhen ihrer aristokratischen Geburt und Erziehung herabsah.

Seltsamerweise ging ich damals nicht so weit, sie mit der falschen Cressida oder mit Kleopatra zu identifizieren. Ich kam darauf erst Jahre später, nachdem ich Tylers Buch gelesen hatte, in dem er Shakespeares Leidenschaft auf die drei Jahre limitiert, die in den Sonetten erwähnt werden. Ich wußte, daß Shakespeare seine Zigeunerin Mary Fitton vom Ende des Jahres 1596 an geliebt hatte, und ich sah bald ein, daß die Geschichte, die in den Sonetten erzählt wird, ebenfalls in seinen Stücken aus dieser Zeit vorkommt, und schließlich zwang sich mir die Erkenntnis auf, daß die falsche Cressida, wie auch die Zigeunerin Kleopatra ebenfalls Porträts von Mary Fitton waren, die er zwölf Jahre lang bis zum Jahre 1608 liebte, als sie heiratete und London für immer verließ.

Ich werde diese großen Monate, die ich in Flüelen verbrachte, nie vergessen, als ich auf den Bergen am See wanderte, zweimal über den St. Gotthard ging und mit des »sanften Shakespeares« süßem Geiste und seinem vornehmen Intellekte lebte.

Diese Entdeckung Shakespeares hatte ein wichtiges Ergebnis für mich: sie stärkte meine Selbstachtung in ungeheurer Weise. Ich las Coleridges Essay über Shakespeare und sah, daß sein Puritanismus ihm die Augen für die Wahrheit verschloß, und ich begann mir vorzustellen, daß ich eines Tages etwas Bemerkenswertes darüber schreiben könnte. Als die Ferien vorbei waren, kam ich nach Heidelberg zurück, schrieb mich wieder auf der Universität ein und beschloß, mit Ausnahme von Tacitus und Catull, kein Latein mehr zu lesen. Ich wußte, daß es herrliche Beschreibungen in Vergil gab, aber ich mochte die Sprache nicht und sah keinen Grund, meine Studien im Seminar allzulange fortzusetzen.

Meine nächste Erfahrung, die mir einen tiefen Einblick in das deutsche Leben gewährte, war besonderer Art. Ich ging über eine der Seitenstraßen mit einem englischen Knaben von vielleicht vierzehn Jahren, der bei Professor Ihne lebte, als plötzlich ein großer Korpsstudent mir entgegenkam und mich roh vom Bürgersteig auf den Damm stieß. »Was für ein roher Kerl«, sagte ich zu meinem Begleiter. – »Nein, nein,« rief der Knabe in wilder Aufregung, »er wollte Sie nur anrempeln.«

»Was heißt das?« fragte ich. – »Es ist seine Art, Sie zu fragen, ob Sie sich mit ihm schlagen wollen.« – »Ausgezeichnet!« rief ich und rannte hinter dem rohen Patron her. Als ich ankam, blieb er stehen.

»Haben Sie mich absichtlich gestoßen?« fragte ich.

»Ich nehme an, ja«, sagte er hochmütig. – »Dann nehmen Sie sich in acht«, erwiderte ich. Im nächsten Moment warf ich meinen Stock auf den Boden und schlug ihm, so fest ich nur konnte, gegen das Kinn. Er sank hin wie ein Klotz und blieb liegen. Als ich mich gerade über ihn beugte, um zu sehen, ob ich ihm wirklich weh getan hatte, strömte aus den umliegenden Geschäften eine Schar aufgeregter Menschen herbei. Der eine war ein dicker Schlächter, der über den Damm rannte und mich am Arm packte. »Geh hin und hol' die Polizei«, rief er seinem Gesellen zu. »Ich halt' ihn inzwischen!«

»Lassen Sie mich los,« sagte ich zu ihm, »er gab zu, daß er mich absichtlich gestoßen hat!«

»Ich sah Sie ja,« rief der Schlächter aus, »Sie haben auf ihn mit dem Stock gehauen. Wie hätten Sie ihn sonst so bewußtlos niedergeschlagen?«

»Wenn Sie mich nicht loslassen und nicht Ihre Hände von mir nehmen, werde ich es Ihnen schon zeigen!«

Als er mich darauf um so fester packte, schob ich ihn mit dem linken Arm weg und zugleich schlug ich ihm, so fest ich konnte, mit meiner rechten Hand gegen die Kinnspitze. Er fiel hin wie ein Kohlensack. Die Menschenmenge teilte sich laut fluchend auseinander, und ich setzte mit meinem kleinen Begleiter unseren Spaziergang fort.

»Wie stark Sie sein müssen!« war seine erste Bemerkung.

»Nicht besonders,« erwiderte ich in gespielter Bescheidenheit, »aber ich weiß, wo zu schlagen und wie zu treffen.«

Ich hielt die ganze Angelegenheit für erledigt, denn ich hatte gesehen, wie der Student aufstand und sich am Kiefer rieb, und ich wußte, daß da nichts Ernsteres geschehen war. Aber am nächsten Morgen, als ich auf meinem Zimmer war und las, kamen sechs deutsche Polizisten und führten mich vor einen Richter. Er stellte mir verschiedene Fragen, und die ganze Angelegenheit wäre, wie mir gesagt wurde, niedergeschlagen worden, wenn nicht der Schlächter gelogen und gesagt hätte, er sei Augenzeuge gewesen, wie ich auf den Studenten mit einem Stock, der noch dazu mit Eisen beschwert war, einhieb. Kein Deutscher zu jener Zeit konnte sich vorstellen, daß ein Faustschlag eines kleinen Mannes eine solche Wirkung haben könnte. Der Student hatte sein Gesicht so verbunden, als ob sein Kiefer gebrochen wäre. Ich kam infolgedessen vors Gericht und wurde wegen »groben Unfugs auf der Straße« zu sechs Wochen Karzer verurteilt und auch von der Universität ausgewiesen.

Mein Leben im Karzer war sehr amüsant. Dank den Trinkgeldern, die ich unter die Gefängnisaufseher austeilte, und Kuno Fischers gütiger Verwendung bei den Behörden konnte ich von zehn Uhr morgens bis sieben Uhr abends meine Freunde empfangen, und später hatte ich noch Licht auf meinem Zimmer und konnte bis Mitternacht lesen und schreiben. Meine Bekannten, hauptsächlich meine englischen und amerikanischen Freunde, brachten mir allerlei schöne Sachen mit, und so wuchsen sich meine Mahlzeiten, die ich mir in einem nahe gelegenen Restaurant bestellte, zu wahren Schlemmereien aus. Ich pflegte eine feste Schnur aus meinem vergitterten Fenster herabzulassen und Rheinweinflaschen heraufzuziehen. Ich lebte in der Tat wie ein »Kampfhahn« nach dem alten englischen Sprichwort und entbehrte höchstens der körperlichen Betätigung. Aber diese Wochen haben meine Abneigung gegen das, was die Menschen Justiz nennen, besonders verstärkt. Bei der Verhandlung hatte der Student, den ich niedergeschlagen hatte, die Wahrheit gesagt, daß er mich roh und absichtlich, ohne provoziert zu werden, vom Bürgersteig herunterstieß. Aber der Richter zog es vor, dem Schlächter zu glauben, der beschwor, ich hätte den Studenten mit dem Stock geschlagen, obwohl er zugeben mußte, daß ich ihn selbst mit der bloßen Faust zu Fall gebracht hatte. Der Knabe, der mich begleitete, sagte genau die Wahrheit aus. Man erwartete allgemein, ich würde mit einem Verweis davonkommen, aber meine Unkenntnis der deutschen Sitten brachte mir diese idiotische, sechswöchentliche Absperrung ein. Und als ich diese Zeit abgesessen hatte, mußte ich Heidelberg verlassen und konnte nicht einmal die Vorlesungen zu Ende hören, für die ich bezahlt hatte. Ich war schon einmal aus der Universität von Kansas ausgewiesen worden, und nun passierte es mir in Heidelberg. Aber Kuno Fischer und die anderen Professoren blieben meine guten Freunde. Fischer riet mir, nach Göttingen zu gehen, »eine rein deutsche Universität«, um die Vorlesungen von Lotze zu hören, der, wie er sagte, der beste deutsche Philosoph jener Zeit war, und er gab mir Briefe mit, die meine sofortige Zulassung bewirkten.

Göttingen hatte einen besonderen Reiz für mich, teils weil es bekannt war, daß dort das beste Deutsch, sowohl was Akzent als Gewähltheit der Sprache anlangt, gesprochen wurde, teils weil Bismarck und Heine dort studiert hatten und beide bereits einen hohen Platz in meiner Bewunderung einnahmen – Bismarck um seiner Charaktereigenschaften willen, Heine wegen seines Intellektes und seines Humors. Es war bereits zum Wesen meiner Religion geworden, große Männer kennenzulernen und, soweit möglich, ihre Wirkungskraft und ihre Fähigkeiten zu verstehen. Und so siedelte ich nach Göttingen über.

Mein Liebesleben in Heidelberg war keineswegs so reich gewesen. Während ich die Sprache lernte, fehlte mir die Gelegenheit zum Flirten, und ich hatte bereits herausgefunden, daß meine redegewandte Zunge meine beste Empfehlung bei den Mädchen war.

In diesen Heidelberger Tagen habe ich den Wert der vollkommenen Keuschheit begriffen. Ich konnte viel länger arbeiten, als ich je dazu imstande gewesen bin. Ich war nicht müde zu kriegen. Ich war von einer so intensiven Energie durchströmt, daß mir die Arbeit ein Vergnügen wurde, und es herrschte eine solche Klarheit in mir, wie ich sie nie vorher empfunden hatte. Ich beschloß, in Zukunft auf viele Vergnügungen zu verzichten und mir diese intensive Energie und dieses Gefühl überströmender Kraft zu erhalten. Ich erkannte, daß ich mich zu oft von der Gelegenheit verleiten ließ und das Vergnügen gesucht hatte, selbst wenn mir die Frau nicht besonders gefiel. Oft tat ich es auch aus falscher Eitelkeit. Ich beschloß, mich jetzt für die wirkliche Liebe aufzusparen. Einmal mußte ich mit den jugendlichen Narreteien ein Ende machen.

Von diesem Zeitpunkt an datieren meine Lehrjahre. Ein Wort Goethes mit seiner ganzen Bedeutungsschwere fiel mir in dieser Krisenzeit auf: »In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.«

Eine meiner Heidelberger Erfahrungen ist bezeichnend für meine neue Einstellung dem Leben gegenüber.

Eines Tages traf ich am Ufer ein hübsches Mädchen. Ich fing ein Gespräch mit ihr an und begleitete sie nach Hause, wo sie mit ihrer Schwester lebte. Es wurde allmählich dunkel, und als wir in den Schatten kamen, küßte ich sie, und mein Kuß wurde mit großer Wärme erwidert. Diese leichte Eroberung kühlte mich ein wenig ab. Als wir ins Haus kamen, stellte sie mich ihren Eltern und ihrer Schwester vor, die mit einem stämmigen Studenten sprach.

Wir freundeten uns schnell an; ich ließ eine Flasche Rheinwein kommen, der Student zog Bier vor und entpuppte sich bald als ein höchst enthusiastischer Bewunderer von Kuno Fischer. Plötzlich sagte er: »Sie wissen, daß ich und Martha sehr gute Freunde sind!«, und er wies auf die ältere Schwester hin. »Ich kam heute abend zu einer Schäferstunde.« – »Lassen Sie sich nicht stören,« erwiderte ich, »oder wollen Sie, daß ich mich entferne?« – »Sie stören uns doch nicht, nicht wahr, Martha?« Und er unterstrich seine Worte durch die Tat, indem er das Mädchen auf das Sofa zuführte. »Geht doch ins Schlafzimmer«, rief mein Mädel Kätchen ihnen zu, und Martha folgte ihrem Rat.

Sie waren kaum zehn Minuten verschwunden, aber ihre Nähe schien Kätchen zu beeinflussen, denn ihre Küsse wurden immer leidenschaftlicher.

Als der Student zurückkam, warf er vier Mark auf den Tisch, küßte sein Mädel flüchtig, sagte: »Ich lasse dir eine Mark für das Bier!« und fragte mich dann: »Kommen Sie mit?« Ich ergriff gern die Gelegenheit. Ich wandte mich an Kätchen, gab ihr zehn Mark, küßte ihre Hände und ihre Augen und folgte dem Studenten. Ich hatte die Flucht ergriffen, ohne Kätchen zu verletzen, denn sie dankte mir warm für mein Goldstück und bat mich mit Blick und Tonfall, zurückzukommen, aber – ich konnte weder den Studenten, noch sein Gespräch vertragen. Es war etwas so Gemeines, so Viehisches in seinem ganzen Verhalten, daß ich mich beeilte, mich von ihm zu verabschieden. Ich war tief angewidert. Ich sah zum ersten Male ganz klar, daß irgendeine Bewunderung, eine geistige Anziehungskraft vorhanden sein muß, sonst würde mich der ganze Akt kalt lassen. Wenn der Kerl wenigstens die Gestalt des Mädchens oder ihr hübsches Gretchengesicht bewundert hätte, würde es die ganze Angelegenheit gemildert haben. Aber diese animalische Brunst, noch durch die vier Mark, die er auf den Tisch warf, und den abrupten Abschied brutalisiert, war zu widerlich und blieb in meiner Erinnerung als ein Flecken auf dem ganzen Begriff der Liebe zurück.


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