Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel V.
Die Liebe in Athen und die heilige Schar

Ich wohnte ungefähr eine Woche im Hotel d'Athènes, als ich ein hübsches Mädchen auf der Treppe erblickte. Sie nahm meinen Blick gefangen. Ein Hausmädchen sagte mir, daß es Frau M. sei, die in dem Zimmer neben mir wohne. Ich fand bald heraus, daß ihre Mutter, eine Frau D., den großen Salon im ersten Stock bewohnte. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Bekanntschaft der Mutter machte, jedenfalls fand ich sie liebenswürdig und leicht zugänglich, und ich erfuhr, daß sie einen Sohn Jacques D. im Pagenkorps besaß, mit dem ich mich einige Jahre später in Paris anfreundete, wie ich noch im Verlaufe meiner Lebensgeschichte erzählen werde. Auch mit der Tochter freundete ich mich bald an. Sie war ein sehr hübsches Geschöpf im Anfang der zwanziger Jahre. Die Ds. waren rein griechischen Ursprungs, aber sie kamen aus Marseille und sprachen französisch ebenso gut wie das moderne Griechisch. Das Mädchen hatte vor ungefähr zwei Jahren einen Schotten geheiratet, der sich jetzt irgendwo in England aufhielt. Sie sprach kaum von ihrer Ehe. Es war die Mutter, die mir erzählte, welch ein trauriger Fehlgriff diese Ehe gewesen sei.

Da nun mein Leben nicht mehr in festgesetzte Arbeitsstunden eingespannt war, begann die lange Gewohnheit der Keuschheit auf mir zu lasten. Frau M. sah außerordentlich gut aus, schlank und hoch gewachsen, mit einem griechischen Gesicht vom besten Typus, von einer Fülle schwarzen Haares gekrönt. Ich habe nie größere oder schönere dunkle Augen gesehen, und ihre schlanke Gestalt hatte eine biegsame Grazie von unendlich reizvoller Wirkung. Sie hieß Eirene, d. h. Frieden, und erlaubte mir bald, sie beim Vornamen zu nennen. Nach drei Tagen sagte ich ihr, daß ich sie liebte. Und ich war wirklich wie vom Sturm davongetragen. Wir machten lange Spaziergänge zusammen. Eines Tages sahen wir uns die Akropolis an, und sie hörte mir mit Entzücken zu, als ich ihr von dem Altar der Götter erzählte. Einmal stiegen wir auf die Agora oder den Marktplatz hinunter, und sie zeigte mir das moderne griechische Leben mit seinen Sitten. Bei einem Spaziergang begrüßte uns eine alte Frau als Liebespaar, und als Frau M. den Kopf schüttelte und sagte: »Es stimmt nicht!«, wies sie mit dem Finger auf mich und sagte: »Er ist ganz in Flammen. Und auch Sie werden bald Feuer fangen.«

Zuerst war Frau M. nichts als Abwehr, aber ungefähr nach einem Monat unseres ständigen Zusammenseins gelang es mir, ihr einen Kuß oder eine Umarmung zu stehlen; und so näherte ich mich langsam, Tag für Tag, Schritt für Schritt, dem ersehnten Ziel. Ein Zufall kam mir zu Hilfe. Eines Tages – werde ich ihn je vergessen? – waren wir durch die ganze Stadt gewandert und kehrten erst bei Anbruch der Dunkelheit zurück. Als wir in den ersten Stock kamen, öffnete ich sehr leise die Tür ihres Salons. Wie es das Glück wollte, war der Wandschirm vor der Tür beiseite geschoben, und dort auf dem Sofa, im Hintergrund des Zimmers, sah ich ihre Mutter in den Armen eines griechischen Offiziers. Ich schloß die Tür so langsam, daß die Frau, die hinter mir kam, noch das Bild sehen konnte, und ließ sie dann lautlos ins Schloß fallen.

Als wir in unsere Schlafzimmer hinaufstiegen, sah ich, daß ihr Gesicht glühte. Vor ihrer Tür hielt ich sie auf. »Mein Kuß«, sagte ich. Und wie im Traum küßte sie mich. Die Schäferstunde hatte geschlagen. »Kommst du heute nacht zu mir?« flüsterte ich. »Diese Tür führt in mein Zimmer.« Sie sah mich mit diesem unentzifferbaren Frauenblick an, und zum ersten Male gaben sich ihre Augen. In dieser Nacht legte ich mich früh hin und schob das Sofa weg, das von meiner Seite aus die Tür zu ihr verstellte. Ich versuchte sie zu öffnen, fand sie jedoch von drüben verschlossen.

Als ich in der Nacht gegen elf Uhr im Bett lag, sah ich, wie sich die Türklinke bewegte. Ich blies sofort das Licht aus. Aber die Jalousien waren nicht herabgezogen, und das Zimmer lag im hellsten Mondlicht. »Darf ich hereinkommen?« fragte sie. Ich sprang im Nu aus dem Bett heraus und umfing ihren wunderbaren, weichen Körper. »Du meine süße Geliebte«, rief ich aus und hob sie auf mein Bett. Im nächsten Augenblick hielt ich sie in den Armen, sie schob mich jedoch beiseite.

»Nein, wir wollen erst reden«, sagte sie. Ich küßte sie und nickte dabei zustimmend. »Laß uns reden.« Zu meiner Verblüffung begann sie: »Hast du Zolas letztes Buch ›Nana‹ gelesen?« – »Ja«, erwiderte ich. – »Erinnerst du dich, was das Mädel mit ›Nana‹ tat?« – »Ja«, erwiderte ich und mir wurde weh und bange. – »Nun also,« fuhr sie fort, »es ist ein gutes Beispiel. Ich habe solche Angst, ein Kind zu kriegen.« Nach einer Weile Überlegung sagte ich mir, daß schließlich alle Wege nach Rom führen ...

Ich wußte genug von Frauen, um mir klar darüber zu sein, daß, je mehr ich mich zurückhielt und ihr die Initiative überließ, desto größer mein Lohn sein würde. Einige Tage später führte ich sie auf den Berg Lykabettos und zeigte ihr »alle Reiche des Geistes«, wie ich Athen und seine Umgebung zu nennen pflegte. Sie fragte mich nach der antiken, griechischen Literatur aus. »War sie besser als die moderne französische?« – »Ja und nein, es ist etwas durchaus Verschiedenes.« Sie gestand mir, daß sie Homer nicht verstehen könne, aber als ich die Chöre aus »König Oedipus« rezitierte, verstand sie sie wie auch den großen Eid in der Rede des Demosthenes. »Nicht bei denen, die zuerst dem Tod bei Marathon ins Gesicht schauten ...« Und der edle Schluß trieb ihr Tränen in die Augen. »Nun werdet ihr durch euer Urteil entweder unsere Ankläger über Land und See haus- und heimatlos treiben oder uns einen sicheren Schutz vor jeder Gefahr in dem Frieden des ewigen Schweigens gewähren.«

Als wir an diesem Nachmittage den langen Anhang des Lykabettos hinabschritten, sagte sie plötzlich. »Du willst mich wohl nicht mehr? Die Männer sind so selbstsüchtige Kreaturen, daß sie sich sofort zurückziehen, wenn sie nicht alles auf einmal bekommen –« – »Du glaubst wohl selbst kein Wort von dem, was du sagst«, unterbrach ich sie. »Wann hätte ich mich denn zurückgezogen? Ich warte nur, bis es dir Freude macht. Ich wollte dich nicht immer und ewig quälen, das ist alles. Wenn du wüßtest, wie ich jede Nacht daliege und auf die Klinke deiner Tür starre –.« »Einmal wird sie sich schon bewegen«, sagte sie und glitt mit der Hand unter meinen Arm. »Ich möchte nicht wichtige Dinge entscheiden, wenn ich in einem Aufruhr von Gefühlen bin. Aber ich habe über alles nachgedacht, was du gesagt hast, und ich will an dich glauben, will dir vertrauen –.« Und ihre Augen waren ein einziges Versprechen.

Als die Klinke ihrer Tür sich bewegte, war ich glücklicherweise wach und nahm sie in die Arme, bevor sie die Schwelle überschritten hatte ... Ich fühlte, wie ihr Körper nachgab ...

... Unser erstes großes Liebesduett war vorbei. Von dieser Nacht an hatte sie keine Geheimnisse vor mir, keine Zurückhaltung mehr, und langsam erzählte sie mir alles, was sie in dem Delirium der Liebe empfand. Sie war eine wunderbare Geliebte. Sie hatte einen mädchenhaften Körper mit kleinen, runden Brüsten. Statt auf die langen Spaziergänge zu gehen, zogen wir uns oft auf mein Zimmer zurück und verbrachten dort manchen Nachmittag. Manchmal klopfte ihre Mutter an ihre Tür, aber sie zog mich nur fester an sich heran. Ein oder zweimal kam ihr Bruder an meine Zimmertür, aber wir lagen uns in den Armen und ließen die alberne Welt draußen klopfen!

Ich versuchte immer meine Freundinnen nach ihren ersten erotischen Erfahrungen auszufragen, aber mit Ausnahme von einigen Französinnen, meistens Schauspielerinnen, war ich nicht sehr erfolgreich. Was der Grund dafür ist, müssen andere erklären. Ich fand jedoch die Frauen seltsam zurückhaltend bei diesem Thema.

Als ich gegen Ende des Sommers nach Athen zurückkehrte, nahm ich mir eine Wohnung in dem Volksviertel und lebte dort sehr billig. Bald besuchte mich Eirene. Wir gingen oft in das griechische Theater, und an manchen Nachmittagen las ich mit ihr Theokrit. Aber sie gab mir nichts Neues; und im Frühjahr entschloß ich mich, über Konstantinopel und das Schwarze Meer nach Wien zurückzukehren, denn ich fühlte, daß meine Lehrjahre zu Ende gingen, und Paris winkte mir und London.

An einem der letzten Abende, an dem wir zusammen waren, wollte Eirene wissen, was mir an ihr am besten gefiel. »Du hast eine Fülle guter Eigenschaften«, begann ich. »Du bist gütig und vernünftig, hast dabei die schönsten Augen und einen schmiegsamen, schlanken Körper. Aber warum fragst du?«

»Mein Mann sagte immer, ich sei so knochig«, erwiderte sie. »Er machte mich furchtbar unglücklich, obwohl ich mir alle Mühe gab, ihm zu gefallen. Ich empfand zuerst nicht viel für ihn, und dieses Wort ›knochig‹ hat mich tief verletzt.« – »Weißt du noch, als ich bei einer unserer ersten Nächte deinen Körper sah, schien er mir das Köstlichste an Umriß, was ich je gesehen hatte. Wenn ich ein Bildhauer wäre, hätte ich ihn schon längst modelliert, – ›knochig‹, wirklich, der Mann hat dich nicht verdient. Schlage ihn dir aus dem Kopfe.« – »Das habe ich schon getan,« erwiderte sie, »denn wir Frauen haben nur Raum für einen. Und du hast dich in meinem Herzen eingenistet. Ich bin froh, daß du mich nicht für knochig hältst; aber wie seltsam, daß dir eine bloße Körperlinie soviel bedeutet. Die Männer sind doch spaßig. Keine Frau würde sich so für einen bloßen Umriß begeistern können –. Dein Lob und sein Tadel zeigen denselben Geist –.«

»Und doch wird Verlangen aus Bewunderung geboren«, wandte ich ein.

»Mein Verlangen ist aus deinem geboren«, erwiderte sie. »Aber die Liebe einer Frau ist besser und anders – es ist die des Herzens und der Seele –.« – »Aber der Körper gibt den Schlüssel,« sagte ich, »und macht das Zusammensein zu etwas Göttlichem.«

– – Später lernte ich noch manches andere, aber nichts so Wichtiges wie diese erste Entdeckung, die ich Eirene verdanke und die mir ein für allemal zeigte, wie überlegen Kunst der Natur ist.

Nachdem ich einige Monate lang in Athen studiert hatte, hörte ich von einem Klub, in dem Universitätsprofessoren und einige Studenten sich trafen, um sich im klassischen Griechisch zu unterhalten. Ein Fehler oder selbst ein wenig gewählter Ausdruck war verpönt. Aus dieser Ehrfurcht vor der Sprache des Plato und Sophokles entstand der Wunsch, das moderne Idiom dem alten so ähnlich wie möglich zu gestalten. Die komplizierte Syntax ließ sich natürlich nicht wieder im allgemeinen Gebrauch herstellen. Auch die feine Nuance der Partikeln war für immer verloren. Aber man war peinlich bemüht, die Worte in ihrer alten Bedeutung zu gebrauchen, daß selbst heute noch ein Xenophon die Zeitung in Athen lesen und sie ohne weiteres verstehen könnte.

Diese Assimilierung war nur möglich, weil die gesprochene Sprache der Griechen, η χoινη ςιαληχτoς, viele Jahrhunderte lang neben der literarischen Sprache existiert hat. Der gesprochene Dialekt war im Neuen Testament und im Kirchendienst bewahrt, und so wurde es den gebildeten und begeisterten Griechen leicht, die Volkssprache der von Plato so eng wie möglich anzugleichen. Und das griechische Volk ist so ungemein intelligent, daß selbst der Bauer, der immer das Pferd »αλoγoς« – der Hirnlose – nannte, weiß, daß »ιππoς« ein schöneres Wort für dasselbe Tier sei. Obwohl die volksübliche Aussprache sich von der antiken unterscheidet, bleibt sie jedenfalls dem klassischen Tonfall näher als irgendeine englische Imitation oder selbst die Aussprache des Erasmus-Systems. Der moderne Grieche setzt die Akzente richtig, und einer, dessen Ohr daran gewöhnt ist, kann die Kadenz der klassischen griechischen Poesie und Prosa viel besser werten als irgendein Student, der sie nur nach dem Rhythmus der langen und kurzen Silben liest. Ich glaube, es war Raikes, der mir eine für diese griechischen Bestrebungen bezeichnende Geschichte erzählte. Professor Blackie, ein bekannter schottischer Historiker und Philhellene, kam nach Athen zu Besuch und sprach im Piräus. Raikes ging mit einem bekannten Universitätsprofessor, der einer der Führer der hellenistischen Bewegung war, hin. Nachdem er Blackie eine Weile zugehört hatte, drehte sich der griechische Professor zu Raikes um und sagte: »Ich hatte keine Ahnung, daß das Englische so gut klingt.« – »Aber er spricht doch das moderne Griechisch«, sagte Raikes. – »Großer Gott,« rief der Professor aus, »darauf wäre ich nie gekommen. Ich habe kein einziges Wort verstanden.«

Ich muß noch in Kürze ein Erlebnis aus dieser Zeit schildern, weil es einen ungeheuren, ja übermäßigen Einfluß auf meine ganze Lebensanschauung und meine Einfühlung in die Vergangenheit ausübte. Auf meiner Fußwanderung durch Attika kam ich durch Chäronea, wo Plutarch geboren wurde, und hielt mich einige Tage lang in einem Bauernhause in der Ebene auf.

Als Philipp von Mazedonien und Alexander beinahe wie Barbaren in Attika einfielen, mußte die Stadt Theben ihrem ersten Anprall widerstehen. Plutarch erzählt, wie dreihundert Thebanerjünglinge aus besten Familien sich durch feierlichen Eid banden, Philipps Siegeszug aufzuhalten oder bei dem Versuch zu sterben. Die Streitkräfte trafen sich bei Chäronea, und Philipps berühmte Phalanx brach siegreich durch. Vergeblich warfen sich die dreihundert Jünglinge gegen die feindlichen Reihen, immer wieder wurden sie zurückgeschlagen, und die Phalanx marschierte unaufhaltsam weiter. In dem Flußbett machte die Heilige Schar, o ιησoς λoχoς, wie sie genannt wurde, den äußersten, verzweifelten Versuch und starb bis auf den letzten Mann. Nach der Schlacht, wie uns gesagt wird, wurden die edlen dreihundert Jünglinge in einem gemeinsamen Grabe von ihren Eltern in Theben bestattet. Zu diesem Zwecke wurde der Fluß, wie Plutarch erzählt, aus seinem Bette abgelenkt, um die Jünglinge auf derselben Stelle zu begraben, auf der ihr letzter Angriff zusammenbrach.

Bis zum heutigen Tage ragt ein gigantischer Marmorlöwe in der Ebene von Chäronea. Die Türken hatten seinerzeit gehört, unter dem Denkmal sei ein Schatz vergraben, und so sprengten sie es in die Luft, um zu dem Golde zu gelangen. Aber es wurde nichts gefunden, und es war unerklärlich, wozu dieses Löwendenkmal von Chäronea inmitten einer verlassenen Ebene, weit von jeder Menschensiedlung entfernt, aufgerichtet worden war.

Bei einer großen Versammlung der Klassischen Griechischen Gesellschaft setzte ich meine Idee auseinander, daß dieser Löwe von Chäronea eine ausgezeichnete antike Arbeit der klassischen Zeit sei und meiner Ansicht nach über dem Grabe der Heiligen Schar aufgerichtet wurde. Ich war sicher, daß eine Ausgrabung die Überreste der Helden ans Tageslicht fördern würde. Der griechische Patriotismus flammte auf. Ein mir befreundeter Bankier bot sich an, die Kosten zu tragen, und wir gingen nach Chäronea, um die Arbeit zu beginnen.

In der Nähe von Chäronea konnten wir keinen Fluß entdecken, nur einen seichten Bach, den Thermodon, ungefähr zweihundert Yards von den Trümmern des Löwendenkmals entfernt. Nachdem ich mir den Boden genau angesehen hatte, bestand ich darauf, daß man zuerst eine lange, grasbewachsene Bodenmulde aufreiße, weil ich der Ansicht war, daß der Löwe direkt auf dem Grabe errichtet worden ist, und wirklich trafen wir bald auf das Grab.

Eine Steinmauer von vier Quadern, einen Fuß breit und sechs Fuß hoch, war in Form eines langgezogenen Rechteckes auf dem Geröll des alten Flußbettes gebaut, und darin lagen wie Sardinen die Körper – oder besser gesagt – die Skelette der Heiligen Schar. Das erste, was uns auffiel, waren die furchtbaren Wunden, die die Jünglinge empfangen hatten. Bei einem Skelett waren drei Rippen eingedrückt, und die Lanzenspitze, die den Mann getötet hatte, steckte zwischen einer Rippe und dem Rückgrat. Ein anderes hatte ein gebrochenes Rückgrat und zerschmetterten Schädel. Als zweites fiel uns auf, daß die Zähne der Skelette fast vollkommen erhalten und in ausgezeichnetem Zustande waren. Unsere Inferiorität auf diesem Gebiete läßt sich zweifellos auf unsere moderne, gekochte Nahrung zurückführen.

Wir zählten zweihundertsiebenundneunzig Skelette, in einer Ecke fanden wir einen kleinen Haufen Asche, anscheinend der drei, die am längsten gelebt hatten und schließlich verbrannt wurden. Auf einer Seite der Ummauerung war ein festes Fundament von ungefähr zehn Fuß im Quadrat gebaut, offensichtlich das Piedestal des Löwen, den man über die Körper der Toten mit dem Blick nach Theben ausstreckte, in ewiger Erinnerung an das Heldentum der Jünglinge, die ihr Leben in Verteidigung ihres Vaterlandes gelassen haben – wahrhaftig eine heilige Schar!

So hat sich die poetische Legende, die sogar dieser oder jener moderne Historiker nicht ernst nahm, als wortwörtlich wahr erwiesen – eine genaue Beschreibung der Tatsachen. Von nun bekam die Arbeit des Schriftstellers eine höhere Bedeutung für mich und belebte mir die Vergangenheit auf eine solche Weise, daß ich andere Bücher – und hauptsächlich das Neue Testament – in einem ganz veränderten Sinne zu lesen begann. Die deutschen Professoren hatten mich gelehrt, daß Jesus eine mythische Figur war, seine Lehren ein Mischmasch verschiedener Traditionen, Religionen und Mythen. Er sei keineswegs eine historische Persönlichkeit gewesen, behaupten sie. Die drei synoptischen Evangelien seien ungefähr fünfzig bis achtzig Jahre nach den Ereignissen geschrieben, und Johannes sogar noch später.

Die Geschichte der Heiligen Schar brachte mich dazu, über die Person Jesu nachzudenken, wie ich es bei Shakespeare getan habe, und ich fand bald zweifellose Beweise, daß Jesus nicht nur eine historische Persönlichkeit war, sondern aus seinen Worten und Werken in seiner ganzen Wirklichkeit erfaßt werden kann. Tacitus und Josephus sind Zeugen seiner Existenz, und wenn sich im Josephus vielleicht spätere Einfügungen finden, so ist die Stelle im Tacitus vollkommen überzeugend. »Ein gewisser Mann, namens Jesu (quidam Jesu), lebte und lehrte sicherlich in Jerusalem und wurde dort als der ›König der Juden‹ und ›Gottes Sohn‹ gekreuzigt.«

Er war für mich weder Gott noch König in irgendeinem übermenschlichen Sinne, sondern Fleisch und Blut, ein Mensch unter Menschen, ein geheiligter Führer und Lehrer höchster Erkenntnis. Während ich das neue Testament las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich sah, daß dieser Jesus ein Blutsverwandter Shakespeares war, auch wie er von schwacher Gesundheit. Jesus war nicht imstande, sein Kreuz zu tragen und war wohl schon in den ersten Stunden der Agonie verschieden. Beide wurden die »Sanften« genannt, beide hatten die unvergleichliche Regsamkeit und Tiefe der Gedanken und die liebevolle, weiche Güte des Charakters. Man denke nur an die Worte, die Arthur im König Johann zu dem Mann spricht, der ihn hinrichten soll:

»Seid krank Ihr, Hubert? Ihr seht heute blaß:
Im Ernst, ich wollt', Ihr wär't ein wenig krank,
Daß ich die Nacht aufsäß' und bei Euch wachte,
Gewiß, ich lieb' Euch mehr, als Ihr mich liebt« –

und erinnere sich der heiligen Worte: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes.«

Sicherlich waren diese beiden Männer von demselben göttlichen Geiste erfüllt.

Jesus besaß mehr Mut, und infolgedessen war auch sein Ende furchtbarer und sein Ruhm größer, aber auch Shakespeare ist von der Notwendigkeit der Reue und der absoluten Vergebung ebenso wie Jesus erfüllt. Vergebung ist das Wort für alles. Mein Leben wurde bereichert, als ich diesen neuen, heiligen Führer fand, aber leider – ich folgte dem neuen Einfluß nur widerstrebend, und es dauerte noch Jahre, bevor die Vertrautheit mit der Person und Lehre Christi auf meinen Charakter einzuwirken begann. Aber dieses allmähliche Eindringen bleibt der dominierende Impuls in den nächsten zwanzig Jahren meines Lebens und führte mich Schritt für Schritt zum Versuch, eine Synthese des Heidentums und des Geistes Jesu zu bilden, die meiner Ansicht nach mindestens zu den wesentlichen Elementen einer »Religion der Zukunft« gehören. Denn was ist denn der Geist Jesu anderes als die Gewißheit, daß Gott nur Liebe ist und von uns Sterblichen allen geliebt werden muß?

Die erste Pflicht jedes Mannes und jeder Frau ist rein heidnischer Art. Jeder von uns sollte alle Fähigkeiten des Körpers, des Geistes und der Seele so harmonisch wie möglich entwickeln. Er sollte sich auch den höchstmöglichen Genuß seiner Gaben sichern. Aber wenn er auf diese Weise, sozusagen, den Zenit der Erfüllung seiner Persönlichkeit erreicht hat, sollte er sich bemühen, soweit es in seinen Kräften steht, seinen Mitmenschen zu helfen und dieses »neu Gebot« Jesu zum Hauptziel seines Lebens gestalten.

Leider ist dieses Gebot »Liebet euch untereinander« das schwierigste Gebot. Wir müssen uns nur das Liebenswerte in einem Menschen gegenwärtig halten und die störenden Fehler vergeben. Der beste Weg zu dieser alles vergebenden Liebe folgt den Spuren des Mitleids, »das gute Mitleid« nennt es Shakespeare, und »heiliges Mitleid« sogar; denn es führt, wie er wußte, zu Vergebung und Verzeihung. Und dieses Mitleid muß notwendigerweise zu einem Ausgleich der schlimmsten Ungerechtigkeiten des Lebens führen, muß die furchtbaren Unterschiede des Schicksals nivellieren, das dem einen Kinde alles in phantastischem Überflusse zukommen läßt und einem anderen, ebenso begabten und gesunden selbst anständige Lebensbedingungen verweigert. Die Hemmnisse der Reichen und Großen sind von ebenso vergiftender Wirkung wie die Hemmnisse der Armen, die den Körperbau verkümmern und das Blut verelenden lassen. Es ist Liebe und liebevolles Mitleid, die einmal die schlimmsten Übel der Gesellschaft lindern werden. Man hätte eigentlich annehmen sollen, daß die Kenntnis der Naturgesetze und die Beherrschung der Naturkräfte durch die ungeheure Steigerung der Arbeitsproduktivität die Lage des Arbeiters bessern würden. Bis heute ist es nicht der Fall. Die größere Macht, die wir dem Denker und dem Wissenschaftler verdanken, hat bloß die Ungleichheit zwischen den Besitzenden und den Massen der Besitzlosen vertieft. Wenn dieser Prozeß fortschreitet, ist die Rasse ihrem Verhängnis geweiht. Aber diejenigen unter uns, die auf ein gewisses geistiges Niveau gelangt sind, ohne Rücksicht, ob es ihnen schwer oder leicht wurde, zu Vermögen zu kommen, stehen auf der Seite der Armen.

Stuart Mill dachte, daß schwere Erbschaftssteuern das Hilfsmittel bilden, und es ist möglich, daß dies der praktischste Weg ist, die Sache in Angriff zu nehmen. Es sieht auch wirklich so aus, als ob es der Fall wäre, obwohl ich die Verstaatlichung des Bodens und der öffentlichen Dienste wie Eisenbahnen, Wasser- und Gaswerke dieser Maßnahme vorziehe. Seit dem Weltkriege sind die Nachlaßsteuern in England ohne ernsten Einwand auf ungefähr dreiunddreißig Prozent für die großen Erbschaften festgesetzt worden. Eines ist sicher: die schlimmsten Ungerechtigkeiten müssen auf die eine oder andere Weise aus der Welt geschafft werden. Die übergroße individuelle Freiheit in England hat zu der praktischen Versklavung und Degradierung der arbeitenden Klassen geführt. Im Jahre 1837 waren nur 10 Prozent der Rekruten unter fünf Fuß sechs groß. Im Jahre 1915 waren 70 Prozent unter dieser Höhe, und sogar 50 Prozent entsprachen nicht dem Mindestmaße.

Nachdem ich es an mir selbst erfahren habe, was der Reichtum und was die Armut geben kann, bin ich immer für die Armen eingetreten, habe den Prozeß des Ausgleiches für die wichtigste Aufgabe der Politiker gehalten, die nur danach klassifiziert werden sollten, wie weit sie diese wichtigste Reform fördern.

Aber nach dem Weltkriege und dem Elend, das der verhaßte, sogenannte Frieden von Versailles über Europa gebracht hat, müssen andere Ängste um die Zukunft der Menschheit in die Seele einziehen. Mitleid – »dieser Engel der Welt« – muß gepflegt und gelehrt sein, sonst wird das Leben für uns kurzsichtige, egoistische Tiere unerträglich werden. Wird nicht irgendein warmblütiger Jüngling eine neue Heilige Schar ins Leben rufen, die um die Menschheit und die Rechte des Menschen so mutig kämpfen wird, wie die Thebanerjünglinge um die Freiheit und Sicherheit Griechenlands kämpften? Oder müssen wir an den Rand dieser Verzweiflung getrieben werden, die Sophokles in seinem »Oedipus auf Colonos« besingt:

»Nie geboren zu sein, welcher Wunsch ist höher?«

Aber jeder fragt sich: birgt denn diese Wiedergeburt des Heidentums, die wir hauptsächlich dem Fortschritt der Wissenschaft verdanken, irgendeine Hoffnung, irgendeinen Trost angesichts des furchtbaren Geheimnisses des Todes? Es muß zugegeben werden, daß hier die Schicksalsmächte schweigen. Wir glauben zwar nicht mehr wie die Griechen, daß es besser für uns gewesen wäre, nie geboren zu werden. Wir sind stolz auf unser Erbteil des Lebens. Wir können bereits sehen, wie es auf tausendfältige Weise gebessert werden kann, aber es gibt keine Hoffnung über das Grab hinaus.


 << zurück weiter >>