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Kapitel XVI.
General Boulanger und die Kolonial-Konferenz von 1885

Im Jahre 1885 begann General Boulanger, als er von Freycinet zum Kriegsminister ernannt wurde, die öffentliche Aufmerksamkeit in Frankreich auf sich zu lenken. Er schien mit jedem Monat an Bedeutung zu wachsen. Und das Bemerkenswerte war, daß die Rückschläge, die andere Menschen vernichtet hätten, seine Popularität noch steigerten. Es war ein Beweis, daß er einem tief eingewurzelten Gefühl in den Massen seiner Landsleute entsprach und ihre unbestimmten Erwartungen erfüllte. Im Jahre 1888 war eine Senatswahl im Norden, wo er einige Monate früher zum Deputierten gewählt wurde, jedoch sein Einfluß in der Senatswahl war ganz belanglos – man nannte ihn »den ausgebrannten Vulkan«, und man wies darauf hin, daß er noch nie einen Beweis seiner Fähigkeiten erbracht habe. Er schien erledigt zu sein, und doch wurde von ihm noch allgemein in Paris gesprochen.

Der Deputierte Laguerre war sein stärkster Anhänger in der Kammer, und dessen Frau war Marguerite Durand Laguerre, die schon seit Jahren, noch als Schauspielerin beim Théatre Français, mit mir befreundet war. Ich war immer stolz darauf, daß ich von Anfang an ihre Fähigkeiten erkannt hatte. Ich weiß nicht mehr, in welchem Stück ich sie zuerst sah. Aber ich erinnere mich, daß sie mich später nach meiner Meinung fragte. Zu jener Zeit pflegte ich jeden Tag ins Théatre Français zu gehen. Sie war über meine Bemerkung entrüstet: »Sie werden nie eine große Schauspielerin sein. Sie sind zu intelligent.« – »Was verstehen Sie darunter?« rief sie aus. »Selbstverständlich braucht man Intelligenz in jeder Kunst.« – »Lassen Sie die Kunst aus der Debatte,« erwiderte ich, »die Schauspielerei verdient nicht den Namen Kunst. Denn es ist nicht die Intelligenz, die einem Orator, Redner oder Schauspieler Ruhm und Popularität verschafft – sondern Gefühl und Leidenschaft.«

»Glauben Sie, daß Sarah Bernhardt mehr Leidenschaft und mehr Gefühl als ich besitzt?« fragte sie verächtlich. – »Nein, das glaube ich nicht,« erwiderte ich, »aber sie hat viel weniger Intelligenz und hat wirklich ein außerordentliches Mittel, und zwar ihre Stimme. Sie sind mit Gedanken, Ideen und der Zukunft der Menschheit in erster Linie beschäftigt. Sarah kümmert sich nicht eine Bohne darum. Das sind Ihre Hemmungen als Schauspielerin. Sie sollten Journalistin oder Propagandistin werden –.«

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte sie nachdenklich. Es ist allgemein bekannt, daß Marguerite Durand einige Jahre später die erste Frauenzeitung in Paris gründete und, obwohl sie nur Mädchen und Frauen darin beschäftigte, sich einen solchen Erfolg sicherte. Sie heiratete Laguerre, war jedoch nie eine überzeugte Anhängerin Boulangers wie er. Es war wohl im Jahre 88 oder 89, als ich eine große Truppenschau auf dem Champ de Mars sah. General Boulanger ritt an der Spitze und wurde von den Massen bejubelt, die sich wie verrückt um den »brav' Général« gebärdeten. Er sah wirklich sehr gut zu Pferde aus. Er hatte einen gutgeformten Kopf und ein schönes Gesicht mit braunem Bart und einem lang herabfließenden Schnurrbart. Er war breitschultrig und stark und saß zu Pferd wie ein Zentaur. Nach einer Stunde schien ganz Paris auf den Beinen zu sein. Ich habe noch nie einen solchen Enthusiasmus gesehen. Die Straßenmenge fieberte, und ein Lied zu Ehren des Helden sprang aus Tausenden von Kehlen. Ich habe damals begriffen, wie chauvinistisch das französische Volk ist. Als ich mit Frau Laguerre darüber sprach, kam mir der Gedanke in den Sinn, daß die Generation nach dem Kriege von 1870 in der Spannung der Revancheidee heranwuchs, aus der sich vielleicht Boulangers kolossale, verblüffende Popularität erklärte. Frau Laguerre widersprach mir. Sie wollte sich jedoch mit der Sache näher beschäftigen. Auch aus andern Quellen hörte ich viel über Boulanger.

Ich kannte Rochefort und seine Zeitung »Intransigeant« schon eine geraume Weile. Er war wirklich eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Aber am meisten schätzte ich ihn als Kunstkenner. Ich hatte meine ersten Baryes von ihm gekauft, und er erzählte mir auch von der furchtbaren Armut des großen Künstlers. »Barye«, sagte er mir, »ging es so schlecht, daß er oft zu mir mit einem Modell einer Tigerin oder eines Löwen kam und mich unumwunden um Hilfe bat. Manchmal konnte ich ihm jedoch nichts abkaufen. Ich schämte mich, ihm so geringe Summen für diese Meisterwerke anzubieten. Ich kaufte manchmal seine Sachen zu fünfzig Franken das Stück, weil ich damals nicht mehr ausgeben konnte. Und jetzt sind sie Tausende wert und werden einmal unbezahlbar sein. Er war »le Michelange des fauves«.

Rochefort nahm mich zu Boulanger mit, der damals in der Rue Dumont d'Urville in der Nähe der Étoile lebte. Ich stellte mit Verwunderung fest, daß Boulanger fast ebenso klein war wie ich. Sein Oberkörper war sehr gut gebaut, aber seine Beine waren zu kurz. Am besten sah er eben zu Pferde aus. In Rocheforts Gesellschaft schwieg er fast die ganze Zeit. Zu meiner Verblüffung merkte ich, daß der kluge und witzige Journalist die Führung des Gesprächs übernahm. Rochefort war nicht der Mann, der sich mit einer zweiten Stelle in irgendeiner Gesellschaft begnügte. Er war ganz Nerven und Draufgängertum. Eine schmale, schlanke Gestalt mit einem Silberhaar, das sich wie eine Bürste von seiner hohen Stirn hob, und braunen, flammenden Augen. Er stand buchstäblich über Boulanger, sprach ohne Pause und lachte nur von Zeit zu Zeit über seine eigenen Einfälle. Boulanger machte mir den Eindruck von Güte und vielleicht auch Mut, aber sicherlich nicht den eines beherrschenden, überlegenen Willens. Er sah gut aus und hatte angenehme Manieren, aber er war kein großer Mensch in irgendeinem Sinne des Wortes. Als wir weggingen und ich über Boulangers Schweigen sprach, bemerkte Rochefort witzig: »Eine Flagge braucht nicht beredsam zu sein.«

Ich möchte hier noch eine spätere Geschichte von Rochefort anführen, um sein Porträt abzurunden und die große Stellung, die er in Paris einnahm, so wie den ungeheuren Einfluß, den er dort ausübte, zu charakterisieren. Es war zu Beginn des Winters, als Marchand zum Rückzug aus Faschoda gezwungen worden war. Ganz Frankreich fieberte. Die Mehrheit des Volkes war tief über die Engländer empört. Rochefort schrieb einen Leitartikel, in dem er die Königin Victoria bat, von ihrem alljährlichen Besuch in Nizza abzusehen. Er begann sehr höflich: »Frankreich ist mehr als gastfreundlich, mehr als höflich gegen Frauen und hauptsächlich gegenüber den Personen an führenden Stellen. Und aus diesen Gründen wird der kleinere französische Journalist Ihnen, Madame, ohne Zweifel bestätigen, daß Sie uns willkommen sind. Aber dies ist nicht der Fall. Nach Faschoda wäre es eine Lüge. Wir wollen nicht an unsere unerträgliche Demütigung erinnert werden, hauptsächlich nicht durch das Erscheinen ›de cette vieille calèche qui s'obstine à s'appeler Victoria‹.« Diese Worte verbreiteten sich mit Windeseile über ganz Frankreich und übten ihre Wirkung aus, obwohl die Franzosen der besseren Schichten die grundlose Beleidigung einer so harmlosen alten Dame bedauerten.

Rochefort machte kein Geheimnis aus seinem Wunsche, die Republik zugunsten einer Militärdiktatur zu stürzen, und ich glaube, daß er es war, der mir erzählte, daß die Herzogin d'Uzès die Boulangisten finanziere. Jedenfalls erfuhr ich es entweder von ihm oder Laguerre, und eines war sicher: Geld war im Überfluß vorhanden.

Ich werde immer froh darüber sein, daß ich Ende Januar 1889 in Paris war und von Rochefort zu dem berühmten Diner im Café Durand, das zur Feier des Triumphes Boulangers bei der Pariser Wahl gegeben wurde, eingeladen war. Die Wahl fand am 27. Januar statt, und in Paris herrschte eine unerhörte Aufregung. Die ganze Stadt und jedes Monument war mit Wahlplakaten beklebt. Hie und da las man den Namen seines Gegners Jacques, aber sonst prangte einem von überall » Boulanger« entgegen. Die Wahlplakate allein mußten ein Vermögen gekostet haben. Die Straßen waren mit weißen Zetteln bedeckt. Die populären Zeitungen brachten lauter Geschichten über den Helden. Überall hörte man von seiner Persönlichkeit und seinen Erfolgen. Was war nicht noch alles von ihm zu hoffen? Er sollte Präsident oder Diktator werden, der Führer Frankreichs und seines Heeres, der Retter des Volkes.

Was bedeutete diese ganze Aufregung? Selbst Marguerite Laguerre mußte mir zugeben, daß der Revanchegedanke im Herzen jedes Franzosen festgewurzelt sei und daß Boulanger zum Helden des neuen Staatsstreiches auserwählt wurde. Sie glaubte an seine Wahl, und Laguerre schätzte seine Mehrheit auf fünfundzwanzigtausend. Aber als die Nachricht kam, daß er bei einer halben Million Stimmen eine Mehrheit von Hunderttausend erreicht hatte (es stellte sich später heraus, daß es einundachtzigtausend waren), gebärdete sich ganz Paris wie toll. Selbst im Hôtel Meurice, in dem ich wohnte, herrschte eine schlecht verhehlte Erregung. Der Direktor kam zu mir, während ich mich anzog. »Wird es eine Revolution geben?« fragte er mich. Als ich aus dem Hotel trat, geriet ich in ein wirres Menschengedränge auf den Straßen, fand schließlich einen Wagen und fuhr um die großen Boulevards herum, da man durch die Rue Royale nicht weiterkam.

Ich habe noch nie ein solches Diner erlebt. Es wurde im großen Saal im ersten Stock serviert. Damals war Durand an der Ecke der Rue Royale gegenüber der Madeleine. Ich war Stammgast bei Durand, und so wurde ich ohne weiteres nach oben gelassen. Bereits dreißig bis vierzig Menschen saßen am Tisch. Am Ende, nächst der Tür, »le brav' Général«, zu seiner Rechten, wenn ich mich nicht irre, Graf Dillon, und auf der anderen Seite erblickte ich das lebhafte Gesicht Rocheforts, der sich sofort erhob, sobald er mich sah, und auf den leeren Stuhl neben sich hinwies.

Um den Tisch saßen Journalisten und Deputierte. Ich hatte kaum Zeit, Boulanger zu beglückwünschen, als ihm schon ein anderer Besucher vorgestellt wurde. Kaum hatte ich Rochefort begrüßt, da wurde er zu einer Konferenz am anderen Ende des Zimmers weggerufen. Als er zurückkehrte, sagte er lachend: »Denken Sie sich, dieser unglückliche Jacques speist in dem Restaurant gegenüber.« Man brach in ein stürmisches Gelächter aus, als ob er einen ausgezeichneten Witz gemacht hätte. Von Zeit zu Zeit wurde ein neuer Gang serviert. Wir aßen und tranken, die Erregung wuchs immer mehr, und die Hitze wurde unerträglich. Schließlich gab Rochefort den Auftrag, die Fenster zu öffnen, die auf die Rue Royale und den großen Platz gingen.

Plötzlich scholl ein Schrei aus der Menge zu uns herauf: »Vive Boulanger!« Er wurde von Tausenden von Stimmen aufgenommen und in einer großen Klangfülle zur Kirche getragen, über die Boulevards hinaus, und immer wieder schluchzte die Luft in dem Rufe »Vive Boulanger!« Ich suchte nach Laguerre – er war umringt, nach Rochefort – er hielt eine Rede. Ich ging an ein Fenster. Man hätte über den großen, offenen Platz auf den Köpfen der Menge hinwegschreiten können. Ich ging nach unten, und der Oberkellner versicherte mir, daß fünftausend Studenten auf dem Platze warteten.

Ich kam in den Eßsaal zurück. Der ruhigste Mensch im Raume war General Boulanger. Er saß am oberen Ende des Tisches und schlürfte seinen Kaffee. Immer wieder riß der Schrei an mir: »Vive Boulanger! Vive Boulanger!« Ich konnte nicht ruhig bleiben. »Nun hat wohl die Stunde geschlagen, General«, sagte ich. – »Was verstehen Sie darunter?« fragte er gehalten. – »Der Elysée-Palast ist nicht weit von hier, kaum ein Viertel Kilometer entfernt.«

Zu meiner Verblüffung schüttelte er den Kopf. »Was?« rief ich. »Wann wollen Sie denn aufbrechen?«

»Wir haben keine Truppen«, erwiderte er. Ich lachte laut auf. »Unten warten fünftausend Studenten«, und wie zur Bekräftigung meiner Herausforderung schlug die große Klangwelle an unser Ohr: »Vive Boulanger! Vive Boulanger!«

Es machte doch Eindruck auf ihn. Er beugte sich zu mir herüber und sagte: »Ich bin bereit! Sprechen Sie mit Rochefort und Dillon! Wenn Sie damit einverstanden sind, können wir aufbrechen.« Ich ging um den Tisch herum und fand Rochefort im Gespräch. Ich zog ihn beiseite und sagte: »Boulanger ist bereit, nach dem Elysée-Palast zu gehen.«

Blankes Staunen deckte sein Gesicht. Eine Minute Nachdenken – und dann kam ein entschiedenes: »Non, non, restons dans l'ordre!«

»Die Ordnung ist ein erstklassiger Ruheort, aber man findet da keine Kronen.« – »Wir sind nicht vorbereitet,« erwiderte Rochefort, »wir haben keine Vorkehrungen getroffen« – »Ausgezeichnet!« meinte ich. »Vielleicht sind die andern ebensowenig vorbereitet. Unsere Streitkräfte stehen schon auf der Straße bereit, hören Sie!« Und wieder erscholl der Ruf: »Vive Boulanger!« Rochefort schüttelte energisch den Kopf und drehte sich um.

Plötzlich begriff ich es: das war der Grund für die Erfolge Napoleon III., er war immer bereit, es von neuem zu wagen. Hatte er nicht zweimal die Niederlage erlitten, bevor er den endgültigen Sieg errang? Ich ging zu Boulanger zurück. »Was sagt Rochefort?« fragte er sofort, und ich erzählte es ihm. »Aber er irrt sich«, fügte ich hinzu. »Napoleon konnte nur dadurch siegen, daß er trotz der beiden Fehlschläge es immer wieder versuchte, bis er sich den Sieg sicherte. Wagen Sie's doch, man wird Sie doch nicht auffressen!« – »Le brav' Général« schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Vorbereitungen getroffen«, sagte er und wiederholte Rocheforts albernen Satz. Laguerre hatte auch dieselbe Antwort: »Unvorbereitet!« Als ob Vorbereitungen notwendig wären.

»Ich kann nichts gegen Rochefort tun«, waren die letzten Worte des brav' Général!

»Was riskieren Sie denn?« rief ich aus. »Nichts, man kann Sie doch nicht dafür bestrafen, daß Sie dem Präsidenten einen Besuch abstatten wollen!« Er schüttelte langsam den Kopf – er zweifelte. Ich drehte mich um. Könige, die nicht den Mut haben, nach den Kronen zu greifen, sind nicht wert, gekrönt zu werden.

Ich verabschiedete mich von Rochefort, Laguerre und dem Grafen Dillon. Sie sprachen voller Hoffnung von ihren Chancen, von der Zukunft, und keiner sah die offensichtliche Tatsache ein, daß, wenn sie nicht durch eine Wahl ganz Frankreich so im Sturm eroberten wie Paris an diesem Tage, sich ihnen keine bessere Möglichkeit bieten würde als in diesem Augenblick.

Ich ging auf die Straße hinaus. Fast an der Tür traf ich einen jungen Mann, der mich fragte: »Kommt er?« Ich schüttelte spöttisch den Kopf, als er sich enttäuscht umdrehte. Ich zögerte. Wenn es Engländer gewesen wären, hätte ich den jungen Mann heraufgeholt und ihn mit Boulanger sprechen lassen. Aber so wollte ich mich nicht einmischen. Ich hörte auch später, daß der Senator Naquet Boulanger geraten hatte, an jenem Abend ins Elysée zu gehen. Eines ist sicher: die Studentenschar erwartete von dem General eine Tat, mindestens einen Versuch, die Krone zu ergreifen.

Seine Gegner, oder wenigstens einer von ihnen war weiser, und zwar ein Herr Constans, der gerade mit einer etwas angegriffenen Reputation aus dem fernen Osten kam und in die Regierung eingetreten war. Das Wort, das Frau Laguerre auf ihn prägte, war das allerbeste: »Ni conscience, ni tête, mais du poing!« Jetzt zeigte er seine Entschlossenheit. Da er die Gefahr witterte, drohte er Boulanger oder schickte irgendeinen falschen Freund zu ihm mit der Mitteilung, daß seine Verhaftung beschlossen sei. Und sofort floh Boulanger nach Brüssel. Im Sommer kam er nach London wie eine naßgewordene Rakete. Man sah allgemein ein, daß er sich durch seine Flucht aus Paris die letzten Chancen verwirkt hatte. Seine Freunde, darunter der allgegenwärtige Rochefort, versuchten etwas später eine Demonstration im Alexanderpalast und ein Bankett zu veranstalten. Aber nur wenige Leute gingen aus purer Neugier hin, und der arme Boulanger hielt eine ungeheuer lange Ansprache an das »Volk, meinen einzigen Richter«. Er meinte das Volk von Paris. Aber es hatte ihn bereits in Abwesenheit gerichtet und verdammt, obwohl er es nicht zu wissen schien.

Keiner interessierte sich dafür, wie lange er in London blieb, oder wann er es verlassen hatte. Sein Pulver war verschossen. Einige Jahre später kam plötzlich die Nachricht, daß er sich in Brüssel auf dem Grabe seiner Freundin, Madame Bonnemain, erschossen hatte. Und so faltete sich das Schweigen um ihn zusammen, um diesen armen Antonius, der, wie wir uns einbildeten, ein Cäsar hätte sein können. Aber er hatte keine Größe in sich.

»Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt!«

Der ganze Vorfall erweckte meine Aufmerksamkeit. Wenn die Franzosen zur Revanche entschlossen waren, würden sich bald interessante Dinge ereignen, und es war meine Pflicht als Herausgeber der »Fortnightly Review«, mit Frankreich in Kontakt zu bleiben. Aber Ferry war entgegengesetzter Meinung. Es ist allgemein bekannt, wie er Krieg führte und Tongking annektierte. Aber als ich ihn später in Paris traf und ihn zu seiner Eroberung beglückwünschte, erwiderte er, daß es ihn ruiniert hätte. »Selbst in meinem eigenen Wahlkreis«, sagte er, »können mir meine Wähler die verlorenen Leben und die Kosten nicht verzeihen. Der französische Bauer will keinen Krieg. Er kümmert sich nicht einen Deut um Elsaß-Lothringen. Sie können es mir glauben. Es wird nie einen Revanchekrieg geben.« Die nächste Generation jedoch war von einem ganz anderen Geiste erfüllt. Sie trainierte sich im Sport, die körperliche Ertüchtigung wurde im Heere gepriesen, und Caillaux sagte mir im Jahre 1912, daß die bedeutendsten französischen Generale der Ansicht seien, Rußland und Frankreich oder Frankreich und England könnten Deutschland leicht zu Boden schlagen. Ich war nicht der Meinung. Aber es ließ sich nicht verhehlen, daß sich in Frankreich ein neuer Geist den Weg bahnte, das genaue Gegenteil zu dem, was Ferry vor zwanzig Jahren prophezeite.

Nun muß ich das für mich wichtigste Ereignis dieser Dekade, die Kolonialkonferenz des Jahres 1887, und meine Begegnung mit drei bedeutenden Männern: Cecil Rhodes, Alfred Deakin und Jan Hofmeyr schildern. Sir Henry Holland führte den Vorsitz der Versammlung von zwanzig oder dreißig Kolonialministern mit einer höflichen Liebenswürdigkeit, die nicht ohne Würde war; aber es war Jan Hofmeyr (ich hatte ihn auf meiner ersten Reise um die Welt in Kapstadt getroffen), den ich besonders sehen wollte. Ich wollte mit ihm sprechen, um festzustellen, ob der Eindruck, den ich vor zehn Jahren von ihm bekam, stimmte. Wir aßen einmal zu Mittag und Abend zusammen. Ich lernte ihn sehr gut kennen und betrachtete ihn als einen der fähigsten und besten Menschen, denen ich je begegnet war. Durch die Großzügigkeit seiner Ansichten und die Objektivität seiner feinen holländischen Mentalität erkannte ich erst, was die besten englischen Köpfe draußen in den Dominions erwarten können.

Ich begann einzusehen, daß die englische Rasse eine Überfülle großer Qualitäten besitzt und in erster Linie ein Genie für das Regieren, das auf einem individuellen Charakter und einer Erkenntnis der wirklichen Kräfte im praktischen Leben basiert ist, jedoch das ideale Streben nicht ausschließt. Seltsamerweise haben die Engländer trotz ihres besonderen Sinnes für physische Schönheit nicht einmal versucht, diese ihre Eigenschaft, die ich für ihre höchste Gabe halte, zu fördern oder zu entwickeln. Die Franzosen gründen Opernhäuser, staatliche und städtische Musikschulen und unterstützen sogar Kunstgalerien der Provinz, und die Deutschen geben viel Geld für chemische und physikalische Laboratorien aus. Aber die Engländer und Amerikaner verschließen ihre Augen allen solchen geistigen Bedürfnissen. Das Ziel der ganzen zivilisierten Welt ist die Entwicklung des Menschen, und man muß zugeben, daß in England und Amerika in dieser Hinsicht weniger getan wird als in irgendeinem andern christlichen Staate. Jan Hofmeyr war ebenfalls zu sehr mit der Möglichkeit des Konfliktes zwischen Briten und Buren und dem Drucke der farbigen Rassen beschäftigt, um sich viel um staatliche Theater oder städtische Kunstschulen zu kümmern.

Ich hatte auch mit ihm nicht viel darüber gesprochen, da die Holländer für Kunst noch weniger empfindlich sind als die Engländer. Es war, wenn ich mich nicht irre, Hofmeyr, dieser stämmige, breitschultrige, vernünftige Bure, der mich mit Cecil Rhodes bekannt machte. Aber Rhodes machte zuerst keinen so tiefen und guten Eindruck auf mich wie Alfred Deakin. Der Australier schien mir den ideellen Einflüssen mehr zugänglich; und in erster Linie liebte er die Literatur ebenso wie die Politik.

Ich lud alle drei zum Essen in meinem kleinen Hause in Kensington-Gore gegenüber dem Hyde Park ein. Cecil Rhodes mußte früh weggehen, und auch Deakin hatte eine Verabredung, so daß ich bald allein mit Hofmeyr blieb. Hofmeyr sprach etwas geringschätzig über Deakin, während ich ihn verteidigte: »Er ist klüger und belesener als euer Cecil Rhodes.« – »Es ist möglich«, gab Hofmeyr zu. »Aber Cecil Rhodes ist der Herrscher von Kimberley und ist bereits einer der reichsten und mächtigsten Männer in Südafrika. Er wird noch weit kommen und manches Große leisten.«

Ich erinnere mich noch genau, wie erschüttert ich über diesen Beweis der Anbetung des Goldenen Kalbes war. Ich nehme an, daß es der Einfluß von Smith und der deutschen Universitäten war, der mich noch mit dreißig Jahren so naiv erscheinen ließ. Ich sollte es noch erfahren, wie universell die Macht des Geldes ist, und ich bin sicher, daß meine erste Lektion in weltlichen Werten mir an diesem Abend von Hofmeyr gegeben wurde. In einer halben Stunde skizzierte er mir den Einfluß, den Rhodes im Kap und eigentlich durch ganz Südafrika infolge seines großen Vermögens ausübte. Er schloß mit Bitterkeit: »Er hat mehr Einfluß bei den Burenführern als ich, obwohl sie mich ihr Leben lang gekannt haben. Das Geld ist heute Gott und der Millionär allmächtig.«

Ich stellte bald fest, wie recht Hofmeyr hatte. Sowohl Dilke wie Arthur Walter sprachen von Rhodes mit ungeheucheltem Respekt, obwohl sie ihn zu jener Zeit noch nicht kannten, während mein Lob Deakins in taube Ohren fiel.

So seltsam es klingt: Rhodes schien Gefallen an mir zu finden. Vielleicht, weil ich das Kap und Hofmeyr kannte, eine Zuneigung für die Buren empfand und den Mut hatte, sie offen zum Ausdruck zu bringen. Er lud mich zum Frühstück ein, und ich traf manche bedeutenden Menschen in seinen Räumen im Burlington-Hotel, hauptsächlich Lord Rothschild, den ich bereits bei Dilke getroffen hatte, und bei dieser Gelegenheit bemerkte ich, daß es Rhodes gleichgültig war, was er aß, daß er jedoch so viel trank, wie er nur vertrug. Ein Zug, der mir an Rhodes von Anfang an gefiel, war der vollkommene Mangel von Vorurteilen und falscher Eitelkeit. Ich hatte mir bereits eine Regel festgesetzt, von der es jedoch zweifellos Ausnahmen gibt, daß kein wirklich großer oder kluger Mensch eingebildet ist. Der eitle Hochmut ist eine Charakteristik des zweitklassigen Menschen, und wenn ein großer Mann ihn zur Schau trägt, wie es manchmal Lord Salisbury tat, so geschieht es nur, um den Zudringlichen oder Impertinenten fernzuhalten. Und trotzdem ist es fast immer ein Beweis der Schwäche.


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