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Kapitel III.
Goethe – Wilhelm I. – Bismarck – Wagner

Ich habe schon seit langem begriffen, daß im Mark unseres sozialen Systems etwas faul sein muß. Ich sah das Wachsen der ungeheuren Vermögen, während die Arbeiterklasse, die diese Vermögen schuf, in tiefstem Elend dahinvegetierte

Disraeli

 

Mein Leben in Göttingen bestand zuerst nur aus Arbeit, aus Studieren von morgens bis in die Nacht hinein. Ich gönnte mir nicht einmal die Zeit zum Anziehen und Spazierengehen, und so lief ich zweimal täglich hundert Yards im Galopp, um doch etwas Bewegung zu haben.

Neben meiner Arbeit im Deutschen las ich viel Philosophisches, die griechischen Denker in erster Linie und auch die englischen Philosophen wie Hobbes, Locke und Hume, die Franzosen wie Pascal und Joubert und selbstverständlich die Deutschen mit Kant, dem Meister des modernen Skeptizismus, und Schopenhauer, dessen Essays Seelengröße und intellektuelle Höhen offenbaren. Ich sah diese Denker als Stadien in der Entwicklung des menschlichen Gedankens an, und ich verließ ihre Theorien mit dem Gefühl, sie zu meinem eigenen Wachstum in mich aufgenommen zu haben.

Ein Erlebnis jener Zeit möchte ich noch anführen. Lotze, der berühmte Philosoph, der den immanenten Gott in jeder Form des Lebens predigte, bemerkte einst im Seminar, daß die »via media« von Aristoteles die erste und größte Entdeckung in der Ethik sei. Ich widersprach ihm, und als er mich um meine Gründe fragte, antwortete ich ihm, daß die via media der Statik angehöre, während die Moral ein Teil der Dynamik sei. »Eine Flasche Wein kann mir gut tun, während sie einen andern betrunken macht. Der moralische Weg war nie eine gerade mittlere Linie zwischen zwei Extremen, wie es sich Aristoteles vorstellte, sondern die Resultante zweier Kräfte, eine Kurve daher, die sich nach der einen oder andern Seite windet. Mit dem zunehmenden Alter sollte die Kurve nach der Abstinenz zu gesetzt sein.

›Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.‹«

Lotze machte viel Aufhebens davon, bat mich, in seiner Klasse eine Vorlesung über die ethischen Gesetze zu halten, und ich sprach eines Nachmittags über die Keuschheit. Man darf nicht vergessen, daß ich um Jahre älter war als die Mehrzahl der Studenten.

Mein Studentenleben in dieser ummauerten Stadt bewegte sich ganz in Extremen. Es war zuzeiten steril und zuzeiten fruchtbar. Ich habe gründlich Deutsch gelernt. Ich hatte ein Jahr mit Gotisch, Alt- und Mittelhochdeutsch verloren, bis ich Deutsch ebenso gut kannte wie Englisch und das Nibelungenlied besser als Chaucer. Zweimal sprach ich in öffentlichen Versammlungen, und keiner erkannte in mir den Ausländer – alles Eitelkeit und Zeitverschwendung, wie es sich später herausstellte.

Aber schließlich las ich Goethe, alles was er je geschrieben hatte, in chronologischer Reihenfolge, und so kam ich in die moderne Welt durch die vornehmste Pforte und stand atemlos da, von den Pisgahöhen und den Möglichkeiten künftiger Entwicklung erschüttert, die sich bieten werden, wenn einmal die Menschen ihren Intellekt werden so entwickeln dürfen, wie manche heute schon ihren Körper zu entwickeln verstehen. Das war Goethes Vermächtnis an die Menschheit. Er hat uns die Pflicht der Selbstentwicklung als die erste und wichtigste gelehrt. Er hatte die Kultur als Glaubensbekenntnis gepredigt, und selbst denjenigen von uns, die es vorher gefühlt hatten und danach handelten, war er ein inspirierendes Beispiel. Später erkannte ich, daß, wenn Goethe nur Whitmans Mut gehabt und die übermütigen Gedichte und Dramen, von denen uns Eckermann erzählt, veröffentlicht hätte, wie auch die wahre Geschichte seines Lebens, er zu der modernen Welt wie Shakespeare zu der feudalen gestanden haben würde, als der geweihte Führer der Menschen auf Jahrhunderte hinaus.

Aber er war leider ein Snob und liebte nicht nur Würden und Schmeicheleien, sondern auch das ganze leere Zeremoniell eines deutschen Provinzhofes. Man stelle sich einen großen, ja den klügsten aller Menschen vor, der sich damit begnügt, auf der alten Feudalmauer in Hoftracht zu sitzen und die Spangenschuhe und seidenen Strümpfe über den Köpfen der Vorbeigehenden pendeln zu lassen. Wie recht hatte Beethoven in seiner Empörung, der seinen Hut aufstülpte, als der Großherzog vorbeifuhr, während Goethe am Wegrande mit dem Hut in der Hand stand und sich verneigte. Als Beethovens Bruder sich auf seine Visitenkarte den Titel »Gutsbesitzer« drucken ließ, setzte Beethoven auf seine Visitenkarte »Hirnbesitzer«.

Goethe hatte keine genügende Ehrfurcht vor seinem eigenen Genie, und er hat seine verblüffenden Gaben nicht ausgenützt. Er hätte in seiner Jugend England und Frankreich besuchen sollen und dort mindestens zwei Jahre verbringen. Wenn Goethe Blake gekannt hätte, würde er früher die Höhen erklommen und verstanden haben, daß er seinem Geiste die reichste Nahrung geben mußte. Denn sicherlich würden ihm Blakes erste Gedichte gezeigt haben, daß selbst ein Goethe ebenbürtige Dichter fand. Die langweiligen »Wanderjahre«, die er leider nicht auf Reisen verbrachte, wären unmöglich gewesen. Denn schon mit sechzehn Jahren hat Blake eine wunderbare Gewalt des Ausdrucks erreicht, bei der Schilderung des Abends schreibt er:

»... laß den Westwind schlafen
Auf dem See. Dein glitzernd' Aug' laß Schweigen sprechen –
Mit Silber spüle das Dunkel ...«

Diese Zaubergewalt, wie Mat Arnold sie nannte, ist die einzige Fähigkeit, die Goethes Poesie nie besaß. Durch sein bewußtes Streben nach der letzten Selbstentwicklung konnte jedoch Goethe selbst auf dem mageren Weimarer Boden zu solchen Höhen emporwachsen.

Es war Goethe, der Denker, der mich gewann. Einige seiner Sätze, selbst einige Zweizeiler kamen mir wie reinste Offenbarung vor. Es gibt einen Ausspruch über ihn, auf den ich neidisch bin. Als Emerson seine Einsicht in die Botanik und Biologie bemerkte, fand er das richtige Wort für den großen Deutschen. »Sicherlich hat der Geist, der die Welt schuf, sich ihm mehr anvertraut als irgendeinem andern.«

Auch in der Soziologie verdient Goethe das hohe Lob Carlyles, und nicht nur infolge der Entdeckung des offenen Geheimnisses, daß eine zu große individuelle Freiheit unvermeidlich zur Versklavung führt – Coleridge war ebenso weitsichtig und schrieb von denjenigen, die

»... den Namen Freiheit tragen,
Auf schwerer wuchtenden Ketten geprägt ...« –

sondern weil er der erste war, der die Linie zwischen Sozialismus und Individualismus zog und jedem seinen wahren Platz in der modernen, industriellen Welt zuwies. Ich führe hier diese Stelle noch einmal an. Sie ist, so weit ich weiß, von keinem der Soziologen zitiert oder sogar bemerkt worden, und ich war schon vor Jahren zu derselben Schlußfolgerung gelangt, bevor ich das Fragment Prometheus las, das eine Stelle tiefster, praktischer Einsicht enthält.

»Wie vieles ist denn dein?« fragt Epimetheus.

Und die Antwort kommt wie eine Offenbarung:

»Der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt!
Nichts drunter und nichts drüber!«

Mit anderen Worten: in jedem Industriezweige sollte der einzelne nur soviel zugewiesen bekommen, wie er überwachen kann. Aber alles, worauf der einzelne verzichtet hat, alle Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung sollten verstaatlicht oder munizipalisiert werden, mit anderen Worten: sollten von der Gemeinschaft übernommen werden, um im allgemeinen Interesse verwaltet zu werden. Die Verwaltung der Aktiengesellschaften hat jeden Fehler der staatlichen oder munizipalen Administration und keinen ihrer vielen Vorteile, wie Stanley Jevons in einem heute beinah vergessenen, höchst bemerkenswerten Essay schrieb.

In diesem herrlichen Aperçu war Goethe seiner Zeit um hundert Jahre voraus; und wenn man sich überlegt, daß in den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die moderne Industrie noch sozusagen in der Wiege lag und kaum durch ein Zeichen ihre schnelle und gewaltige Entwicklung verriet, scheint mir Goethes Erkenntnis über alles Lob erhaben. Er sah auch selbstverständlich ein, daß das Land und die Bodenprodukte wie Petroleum und Kohle ebenfalls der Allgemeinheit gehören sollten.

Dies allein müßte uns den unschätzbaren Wert eines Sehers und Denkers klar vor Augen führen, daß Goethe, der doch so weit entfernt von der Hauptströmung des industriellen Lebens war, die wahre Lösung des sozialen Problems ein volles Jahrhundert vor irgendeinem der überschätzten europäischen Staatsmänner fand. Welch eine Kritik der Demokratie liegt in dieser bloßen Tatsache!

Ich verdanke Goethe mehr als irgendeinem anderen. Carlyle kam zuerst und dann Goethe: Carlyle, der nur vor zwei Menschen in der Welt Achtung hatte, dem Arbeiter und dem Denker, den beiden eisernen Saiten, auf denen er seine heroische Melodie spielte, und Goethe, der noch weitsichtiger war und als erster erkannte, daß der Künstler der größte aller Menschensöhne ist. Dessen Schicksal ist das schwerste, ist ein Abbild der unaufhörlichen mütterlichen Mühe der Schöpfung, des Wunsches nach Zeugung, der die Seele des Lebens ist, des Strebens in die Höhe und in die Weite nach einer größeren und bewußteren Erkenntnis. Wenn die Kritiker es beklagen, daß Goethe zu egozentrisch war, so vergessen sie, wie er eine Hilfsaktion für die verhungernden Weber organisierte oder Nacht für Nacht arbeitete, um die Hütten der thüringischen Bauern aus der Feuersbrunst zu retten.

Und seine schöpferische Arbeit gehört zu den allergrößten. Sein Mephisto ist vielleicht zu verallgemeinert, ebenso wie Hamlet zu individuell ist, um gegen Don Quixote und Falstaff gestellt zu werden. Aber man sehe sich seine Frauen an, sein Gretchen, seine Mignon und Philine, mit denen sich nur Shakespeares Kleopatra oder seine Sonettliebe vergleichen lassen.

Ich ärgere mich immer, sooft ich höre, daß Homer, der nicht einmal so groß ist wie Walter Scott, unter die größten Menschen gezählt wird. Die heiligen Namen für mich sind Jesus, Shakespeare und Goethe. Selbst Cervantes und Dante, die demselben hohen Geschlecht angehören, haben kaum dieselbe Statur. Denn Cervantes hat uns seltsamerweise keinen neuen Frauentypus gegeben, und Dante ist mehr Sänger als Schöpfer, während Goethe und Shakespeare sowohl Sänger wie Schöpfer sind. Auf dem Kopfe des Gekreuzigten ruhen jedoch die Kronen der Welt.

Ich für mein Teil, rein persönlich gesprochen, würde sogar in dieser hohen Gesellschaft einen Platz für Balzac und Heine finden, und wer würde es wagen, Rembrandt, Beethoven und Wagner auszuschließen?

Ein kleiner Punkt unterscheidet Goethe von Shakespeare. Shakespeare folgte Jesus und seiner Forderung nach Buße, während Goethe keine Reue für Sünden verlangt. Was vergangen ist, ist vergangen, sagt er abschließend. Tränen sind Zeitverlust. Man achte darauf, daß man nicht zweimal in dieselbe Grube fällt, und verfolge seinen Weg. Dieser Rat zeugt von einem hohen Mute, doch ist Reue auch eine Läuterung der Seele.

Aber was für ein Ratgeber ist dieser Goethe. ...

»Einen Blick ins Buch hinein
Und zwei ins Leben,
Das muß die rechte Form
Dem Geiste geben.«

In Göttingen lernte ich manche Eigentümlichkeiten des deutschen Universitätslebens kennen und verbrachte mehr Zeit auf dem Paukboden und mit den Korpsstudenten als in den sozialistischen Versammlungen. Dank meinem ausgezeichneten Deutsch wurde ich überall als Deutscher zugelassen und bemerkte bald die außerordentliche Überlegenheit der deutschen Studenten auf fast allen Lebensgebieten. Diese Entdeckung ermöglichte mir, die ungeheure Entwicklung der deutschen Industrie und des deutschen Volksvermögens zwanzig Jahre im voraus zu prophezeien.

Das Niveau des Abiturientenexamens ist jetzt höher als das Niveau der zweitbesten Klasse in Oxford oder Cambridge, weit über dem Maßstab der amerikanischen Universitäten. Solche Studenten gibt es in Großbritannien ungefähr tausend jährlich gegen hunderttausend in deutschen Universitäten, von denen einige noch größere Höhen erreichen.

Ich will nicht damit sagen, daß diese hunderttausend deutschen Studenten intellektuell den tausend Studenten gleich sind, die die Prüfungen englischer Universitäten bestanden haben; sie können vielleicht dasselbe Niveau der Kenntnisse erreichen, aber die besten tausend aus Oxford und Cambridge sind mindestens so intelligent wie die besten tausend aus den deutschen Universitäten. Genie hat wenig oder gar nichts mit Bildung zu tun, aber was ich behaupten will, ist folgendes: Die Zahl der Gebildeten und ziemlich intelligenten Männer in Deutschland ist zehnmal größer als in England. Viele Engländer sind stolz auf ihre Unkenntnis. Wie oft mußte ich im späteren Leben hören: »Ich habe es nicht fertiggebracht, Sprachen zu lernen. Das Französisch ist doch verdammt schwer. Ich kenne nur einige Worte. Und das Deutsche geht über meine Kraft. Aber ich weiß eine Menge über Pferde, und man hält mich für ganz tüchtig im Bankwesen ...« usw. Ich hörte einmal einen englischen Millionär, dessen Reichtum man mit einem Adelstitel belohnte, sich rühmen, daß er nur zwei Bücher in seinem Hause besitzt – die Bibel, die er nie öffnete, und sein Scheckbuch.

Der gewöhnliche Deutsche ist keineswegs ein Genie, aber in der Regel mußte er viel lernen und weiß, wie man lernen soll, während der gewöhnliche Engländer und Amerikaner von einer abgründigen Unkenntnis ist, und wenn er trotz seiner Beschränktheit Erfolg im Leben hat, wird er noch auf seine Unbildung stolz. Ich kenne Engländer und Engländerinnen, die zwanzig Jahre in Frankreich verbracht haben, ohne Französisch zu lernen, außer den paar gebräuchlichen Phrasen. Ich muß gestehen, daß der Engländer in dieser Hinsicht noch schlimmer ist als der Amerikaner. Der Amerikaner schämt sich wenigstens seiner Unkenntnis.

In geistigen Dingen ist der Deutsche im Vergleich mit dem Engländer ein trainierter Athlet. Und sobald er mit ihm in Konkurrenz tritt, wird er sich seiner Überlegenheit bewußt, und es macht ihm Freude, sie zu beweisen. Immer wieder haben mir gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts englische Kaufleute, die über den Verlust südamerikanischer Märkte jammerten, spanische und portugiesische Briefe gezeigt, von deutschen Handlungsreisenden geschrieben, die ihnen kein englischer Agent nachmachen konnte. »Wir sind durch ihre Kenntnisse geschlagen!« Darauf lief schließlich die Klage hinaus. Und in den ersten zehn Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hat der Deutsche, auf den unverhofft schnellen Erfolg in Handel und Industrie stolz, sowohl die Kraftanstrengung wie auch die Verachtung für den leichtgeschlagenen Konkurrenten verstärkt.

In den geräumigen Tagen Elisabeths waren Engländer sowohl wie Engländerinnen der besten Klasse eifrig darauf bedacht, möglichst viel zu lernen, und sie gingen so weit, den Wert der Bildung zu überschätzen. Die Königin kannte vier oder fünf Sprachen vollkommen, besser als irgendein englischer Souverän seit jener Zeit ... Eine andere Tatsache sollte sich ein Engländer immer vor Augen halten. Die Bevölkerung von Großbritannien belief sich gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts auf ungefähr fünf Millionen. Gegen Ende des neunzehnten zählte sie ungefähr fünfundvierzig Millionen oder fast neunmal soviel, und doch existierten schon drei Viertel der höheren Ausbildungsschulen in England zu Zeiten Elisabeths. Diese Tatsache mit ihren Schlußfolgerungen erklärt mir die Blüte des Genies in dem früheren großen Zeitalter. Die Bevölkerung hat sich neunfach vermehrt, die gebildete Klasse hat sich einmal verdoppelt und hat sicherlich an Verständnis und Anerkennung des Genies nicht zugenommen.

Ich hebe diese Tatsache um so mehr hervor, weil sie meiner Ansicht nach die wahre Bedeutung des Weltkrieges enthüllt, der sich England bis zum heutigen Tage verschließt. Als England sich in den Jahren von 1900 bis 1910 von Deutschland nicht nur in der Produktion von Stahl, sondern auch von Kohle und Eisen überflügelt sah, hätte es begreifen müssen, was die Verachtung der Bildung und die Liebe für den Sport es gekostet hat, und hätte sein Haus im höheren Sinne des Wortes in Ordnung bringen sollen. Hundert Jahre lang schickt jetzt England seine fähigsten Söhne hinaus, um in Indien zu herrschen. Es hätte von Machiavelli lernen sollen, daß jeder römische Besitz, der von den Römern nicht kolonisiert wurde, in Kriegszeiten den schwachen Punkt bedeutete. England hätte sich so schnell wie möglich aus Indien und Ägypten zurückziehen und sich mit seinen ganzen Kräften auf die Entwicklung der eigenen Kolonien konzentrieren sollen, die aus sentimentalen Gründen oder unter dem Zwange der Gewohnheit den Handelsverkehr immer aufrechterhalten werden. Die Kanadier kaufen sechsmal soviel englische Waren wie die Amerikaner; und die Australier geben zwanzigmal soviel für englische Erzeugnisse aus wie für deutsche, trotz der Überlegenheit der deutschen Produktion. Das schlimmste ist, daß die englischen Führer nicht einmal die Wahrheit zu ahnen scheinen.

Zu jener Zeit hat mich die Entwicklung Deutschlands und sein waches intellektuelles Leben in dem Glauben bestärkt, daß durch Nationalisierung des Bodenbesitzes und Sozialisierung der wichtigsten Industrien wie Eisenbahnen, Gas- und Wasserwerke, die für die Verwaltung durch den Einzelnen zu groß sind, man nicht nur die Masse des englischen Volkes auf ein höheres Niveau heben könnte, sondern auch zur gleichen Zeit seine Arbeitskraft steigern würde. Es wäre sicher sehr klug, die Arbeitslöhne zu verdoppeln, wenn man dadurch die Produktivität der Leistung steigern könnte. Außerdem würde die Verstaatlichung der Eisenbahnen, der Gas-, Wasser- und Grubengesellschaften fünf Millionen Männern und Frauen eine dauernde, sichere und für eine anständige Lebenshaltung ausreichende Beschäftigung gewähren. Weitere fünf Millionen Arbeiter könnten auf dem Lande bei lebenslänglicher Pacht beschäftigt werden, und auf diese Weise würde man Großbritannien zum Selbstversorger, bei gleichzeitiger ungeheurer Steigerung von Macht und Reichtum, machen.

Ich erzähle dies alles, weil ich mich damals entschlossen hatte, ein sozialer Reformator zu werden, und mich mindestens eine halbe Stunde täglich im Extemporereden übte.

Von Göttingen ging ich nach drei Semestern nach Berlin. Es war schon höchste Zeit. Ich brauchte die Anregung der Theater, der Museen und des pulsierenden Lebens einer großen Stadt. Aber etwas Provinzielles haftet an Berlin, ich nannte es das »Weltdorf«. Und doch hatte ich dort eine ganze Menge gelernt. Ich hörte ein paarmal Bismarck sprechen und nahm unvergängliches Erinnern an ihn als an einen wirklich großen Mann mit. Ich erkannte, daß, wenn er nicht als Junker in einer sozial privilegierten Stellung geboren und außerdem noch Korpsstudent gewesen wäre, er ein ebenso großer sozialer Reformator hätte sein können wie Carlyle. Auch so hat er Deutschland beinah zu einem Musterstaate gemacht. Er wurde eines Tages im Reichstage von den Sozialisten beschuldigt, ein gut Teil von Lassalle gelernt zu haben. Er stand sofort auf und vernichtete seinen Kritiker, indem er erklärte, er würde sehr gering von einem Menschen denken, der den Vorteil, diesen außergewöhnlichen Mann zu kennen, gehabt hätte, ohne davon zu profitieren. Unter Bismarcks wohlwollender Tyrannei wurden die deutschen Gemeindebehörden zu Werkzeugen des Fortschritts. Die schmierigen Unterkünfte der Armen verschwanden aus Berlin, und die Wohnungskultur der Arbeiterviertel erregte die Bewunderung selbst flüchtiger ausländischer Besucher. Seine Arbeitsnachweise wurden vierzig Jahre später schüchtern in London kopiert. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, Bismarck hätte das Elend in Deutschland beinah ausgemerzt.

Der große Minister selbst erwartete, daß seine Versuche, die untersten Bevölkerungsschichten auf ein anständiges Niveau zu heben, den industriellen Fortschritt hemmen und es den Industrieherrschern erschweren würden, ihre Reichtümer zu häufen. Aber darin irrte er sich vollkommen. Er hatte den Ärmsten Hilfe und Hoffnung gegeben, und dieser Ansporn für den zahlreichsten Stand belebte die Industrie einer ganzen Nation. Die Produktivität der Arbeit stieg ins Ungeheure. Die deutschen Arbeiter wurden die besten auf der Welt, und in der Dekade vor dem großen Krieg waren die Schwerindustrien, die vor zwanzig Jahren nicht halb so produktiv waren wie die in Großbritannien, drei- und viermal so produktiv und schalteten durch ihre größeren Profite fast jede Konkurrenz aus. Diese Belebung ergriff sogar die Schiffahrt, und während die britische Regierung sich genötigt sah, die Cunard-Line zu finanzieren, wurde die Hapag zur Hauptschiffahrtslinie der Welt und schaufelte einen Gewinn zusammen, der die englischen Reeder grün vor Neid werden ließ. Die Einwanderung nach Deutschland erreichte eine Million jährlich und überstieg sogar die nach den Vereinigten Staaten. Und diese erstaunliche Entwicklung der Industrie und des Vermögens war nicht wie in den Vereinigten Staaten den natürlichen Vorteilen zuzuschreiben, sondern einfach einer weisen, humanen Regierung und einer besseren Schulung. Jeder Offizier auf einem deutschen Dampfer sprach Englisch und Französisch mindestens ebenso gut wie Deutsch, während kaum ein englischer oder französischer Offizier auf hundert irgendeine andere Sprache mit Ausnahme seiner eigenen verstand.

Wenn wir uns den unvergleichlichen Wachstum des Landes, seine märchenhafte Produktivität und den Reichtum vergegenwärtigen, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß der Herrscher diese verblüffende Prosperität seiner eigenen Weisheit und Voraussicht zuschob. Es erscheint wirklich, als ob Deutschland in einer einzigen Generation von der Stellung einer zweitklassigen Macht auf die Spitze der modernen Welt heraufgerückt wäre. Und diese Entwicklung konnte man schon im Anfang der achtziger Jahre voraussehen. Ich verbrachte einen Monat meiner Ferien in Düsseldorf und Essen und war überall von der geschulten und kultivierten Intelligenz der Direktoren und Vorarbeiter in den Schwerindustrien verblüfft. Schon die arbeitsparenden Maschinen allein erinnerten mich an die besten Industrien in den Vereinigten Staaten, aber hier war eine viel weitere und dabei spezialisierte Intelligenz. Eines Tages wird die ganze Geschichte im Zusammenhang erzählt werden, aber jetzt schon, im Jahre 1924, ist es klar, daß die rivalisierenden Völker, statt Deutschland zu folgen und Bismarcks Beispiel zu übertreffen, entschlossen sind, Deutschland zu strafen und zu zerstückeln. Man könnte an der Menschheit verzweifeln.


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